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              von Daniel Sanin
                (Seminararbeit Wien, 12. 3. 1999)
              
              
              Zu Neill’s Buch “Theorie und
                Praxis der antiautoritären Erziehung” ist zu sagen,
                daß es erzählend gestaltet ist. Es ist kein
                wissenschaftlicher Bericht und auch keine systematische
                Datensammlung. Es ist der Rückblick auf Jahrzehnte von
                Erfahrungen mit Kindern, die sich in der freien Umgebung
                dieses Mannes entfalten durften. Von der Herangehensweise
                meinerseits stellte diese Erzählform ausgehend von
                bestimmten Kriterien ein gewisses methodologisches
                Problem dar, da ich nicht auf Theorien zurückgreifen
                konnte, die Neill entwickelt hatte, sondern nur auf seine
                Beobachtungen. Das mag bestimmte WissenschaftlerInnen
                abschrecken, aber ich gebe zu bedenken, daß wir es hier
                mit einem Mann zu tun haben, der auf sein Lebenswerk und
                somit auf eine unglaubliche Fülle von Beobachtungen zurückblicken
                kann. Die Frage, die sich nun stellt, ist die, ob man das
                gelten läßt, oder sein Werk in den Außenraum der
                Unwissenschaftlichkeit verbannt (wie es ihm bis heute
                wiederfahren ist). Ich stelle mich hiergegen, da in den
                Wissenschaften ja die Objektivität selbst lediglich als
                Idealbild existiert (wie auch schon —und nicht nur—
                aus dem zweiten in dieser Arbeit hauptsächlich
                behandelten Buch “Die gesellschaftliche Konstruktion
                der Wirklichkeit” von Berger & Luckmann deutlich
                erkennbar geworden sein müsste) und wenn schon in ihrer
                Relativität einbezogen werden muß oder so zumindest als
                Abwehrargument gegen sogenannte ‘unobjektive’
                Wissenschaft keine Gültigkeit mehr besitzt. Die sich nun
                bei vielen wahrscheinlich regende Befürchtung, dann sei
                ja qualitativ minderwertigen Arbeiten Tür und Tor geöffnet,
                ist wohl berechtigt, aber nicht von dieser Argumentation
                beabsichtigt. Die Qualität ist eine subjektive
                Angelegenheit der WissenschaftlerInnen (jede/r hat ihren/seinen
                Ansprüchen zu genügen) und die Reaktionen auf ihre
                Forschungen werden sie belohnen oder nicht. Es handelt
                sich aber bei der ablehnenden Haltung der etablierten
                Wissenschaft (besonders in der Psychologie und besonders
                bei uns in Wien) gegenüber kritischer Strömungen um ein
                Außerachtlassen von einsehbaren und stichhaltigen
                Argumenten, was genau genommen unwissenschaftlich ist. 
              Ich plädiere konsequent nach der
                ausgebreiteten Argumentation somit für die Akzeptanz der
                narrativen Hinterlassenschaft Neill’s als zulässige
                Quelle und ebensolches Material. Das einzige (durch Mühe
                lösbare Problem) liegt in seiner Ungeordnetheit.
              
              Ich versuche in diesen hier ausgeführten
                Überlegungen, unsere normale allgemeine
                Schulsozialisation mit jener der SchülerInnen
                Summerhills zu vergleichen, um Unterschiede in der Art
                des Umgangs mit Kindern herauszuarbeiten und auch
                weitreichendere Konsequenzen für die Erwachsenenwelt
                aufzuzeigen. 
              Summerhill ist der Name einer
                Internatsschule, die von A.S. Neill (und nicht O'Neill,
                wie es sogar in universitären Pädagogikskripten oft fälschlicherweise
                steht) 1921 gegründet wurde. Neill ist ebenfalls Begründer
                der berühmt-berüchtigten antiautoritären Erziehung,
                die in der breiten Vorstellung unter Erziehung der Zügellosigkeit
                oder in der Entwicklungspsychologie unter 'laisser faire'-Stil
                gehandelt wird. Das ist schlichtweg falsch und wohl auf
                den mißbräuchlichen Umgang mit Neill's Konzepten in den
                60er und 70er Jahren zurückzuführen. Ein weiteres
                Handicap stellt die Tatsache dar, daß es sich bei Neill
                um keinen Wissenschaftler handelt und er wohl auch aus
                diesem Grund in Pädagogik und Psychologie vernachlässigt
                wird. Dabei kann es sich aber nach meiner Einschätzung
                nur um eine Ursache in Alibifunktion handeln, da es ja
                andere wichtige PädagogInnen und
                EntwicklungspsychologInnen gegeben hat, die auch nicht
                systematisch in ihrer Arbeit vorgingen (man denke nur an
                Rousseau). Den wirklichen Grund vermute ich in der
                Revolutionarität von Neill's Aussagen und Theorien, die
                auf viele tradierte Annahme-(provokant: Glaubens-)systeme
                bedrohlich wirkt und daher abgewehrt werden muß.
              Da wir ja in einem Land leben, in dem
                Schulpflicht herrscht und in dem man also bei Weigerung,
                sein Kind in eine Schule zu schicken mit unangenehmen
                Folgen zu rechnen hat (auch von sozialer Seite her, wie z.B
                Ausgrenzung, sozialer Druck, Isolation u.ä.) haben wir
                alle zwangsläufig unsere Schulkarriere hinter uns. Da
                der Mensch ein wissensdurstiges Wesen ist, das sich seine
                Umwelt durch aktives Auseinandersetzen und Lernen
                aneignet und gleichzeitig auch starke sozial-emotionale
                Bedürfnisse hat [1] die er versucht zu befriedigen, scheint es
                  mir wichtig, diese zweite Komponente, die in der
                  bisherigen Forschung eher vernachlässigt wurde, in ihrer
                  Relevanz zu betonen. Ich meine damit, daß die emotionale
                  Wichtigkeit der Lehrerinnen und der Schule für die
                  Psyche des Kindes als Forschungsgegenstand vernachlässigt
                  wurde und wird. Wenn ich mich selbst zurückerinnere an
                  meine Kindheit und Schulzeit, kann ich in bezug auf
                  einzelne LehrerInnen noch durchaus —meist negative—
                  starke Gefühle verspüren. Ich denke, daß es jedem von
                  uns —in unterschiedlichem Ausmaß, natürlich—
                  so geht. Sollte es uns nicht zu denken geben, daß es
                  kaum Kinder gibt, die gerne in die Schule gehen? Beinahe
                  jedes Kind freut sich am Anfang darauf — schon nach
                  ein paar Wochen ist davon oft nichts mehr zu spüren.
                  Faulheit und Desinteresse sind keine Eigenschaften, die
                  das Kind ursprünglich besitzt — sie sind Reaktionen
                  auf Umstände. Natürliche Impulse wie Neugier,
                  Wissensdurst, der Drang, alles verstehen zu wollen,
                  spielerisch zu lernen etc. werden in der Schule
                  systematisch unterdrückt. 
              Das in unserer Gesellschaft unumgängliche
                individuelle Quantum an Frustrationen, sei es in der
                Phase des Heranwachsens wie auch im erwerbstätigen
                Erwachsenenleben, muß doch irgendwelche Folgen auf unser
                Handeln und unser Erleben haben und eben solche Bereiche
                unserer Existenz will ich hier aufzeigen und diskutieren. 
              Die Wissenschaft versteckt sich meistens
                hinter dem Schlagwort der Objektivität. Was aber
                konnektieren wir damit? Wohl: allgemeine Gültigkeit,
                Wahrheit, Wirklichkeit. Diese Wahrheit wird aber von
                Subjekten gemacht, aus ihrer eigenen Subjektivität
                heraus. Woher nehmen sie dann diese Objektivität? Berger
                & Luckmann (1980) zeigen sehr klar die Relativität
                der jeweiligen Gesellschaftsform und damit ihrer
                Legitimationssysteme auf. Das Leben in einer Gesellschaft
                richtet sich für die in ihr lebenden Subjekte nach zu
                Realität gewordenen Vorstellungen, es geschieht in einer
                'symbolischen Sinnwelt' [2]. Diese
                  Sinnwelten haben ihre eigenen 'Stützkonzeptionen' und
                  als besonders markante heben die Autoren die Mythologie,
                  die Theologie, die Philosophie und eben die Wissenschaft
                  hervor. Damit relativiert sich die Objektivität der Stützwelt
                  mit der Relativität der symbolischen Sinnwelt, die ihre
                  Grundlage darstellt. Mir fallen auf der Stelle mindestens
                  drei mir bekannte Wissenschaftler in meinem näheren
                  Umfeld ein, die bei diesen Behauptungen zumindest die
                  Nase rümpfen würden, wenn sie nicht sogar lauthals
                  protestierten, aber seit Einstein ist ja sogar die Parade-Wissenschaftsdisziplin
                  in puncto Objektivität, die Physik, von Relativität
                  durchdrungen, wie sollte es dann in einem Bereich, der
                  als Forschungsgegenstand das Erleben und Verhalten des
                  Menschen [3] hat, anders, geschweige denn 'besser'
                    sein? "Jede Perspektive mit all ihrem Zubehör an
                    Theorien oder gar Weltanschauungen ist aufs Engste verknüpft
                    mit handfesten Interessen ihrer Trägergruppe." (Berger
                    & Luckmann, 1980) Das nur in Richtung von
                    KritikerInnen qualitativer Forschungsansätze.
              Die Analyseinstrumente, bzw. die Kategorien
                und Theorien für mein Vorhaben entnehme ich
                weitestgehend dem Werk "Die gesellschaftliche
                Konstruktion der Wirklichkeit" der eben zitierten
                Autoren. 
              
              Zunächst soll kurz geklärt werden, was
                Sozialisation hier bedeutet, nämlich das Hineinwachsen
                von Individuen in die sie umgebende Gesellschaft. Wir
                kommen ja nicht schon eingeweiht (in die Regeln und Übereinkünfte
                des zugehörigen Systems) auf die Welt, sondern als
                unbeschriebenes Blatt (weitestgehend; Berger &
                Luckmann [1977] merken an, daß der Mensch wohl eine
                Disposition als gesellschaftliches Wesen mitbringe bzw.
                eine für Gesellschaft). Über die Identifikation mit den
                Eltern bis zur Ausbildung der eigenen Identität lernen
                wir alles Wichtige, das es zu wissen gilt, aber mehr als
                das ist die Bildung unserer Identität (in der Form wie
                wir sie kennen) ausschließlich erst durch die Teilhabe (seit
                Kindesbeinen an) an der Gesellschaft möglich. Die
                gesellschaftliche Wirklichkeit und somit auch all ihre
                bestehenden Normen und Regeln werden vom ersten Moment
                des Eintretens in diese übernommen und internalisiert.
                Unser Geist, unsere Art zu denken, unsere Interessen sind
                alle Produkte der menschlichen Gemeinschaft. "Gesellschaft,
                Identität und Wirklichkeit sind subjektiv die
                Kristallisation eines einzigen Internalisierungsprozesses."
                (ebenda, S. 144) Genauer betrachtet handelt es sich um
                einen aktiven Vorgang des Handelns (zur 'Theorie des
                symbolischen Interaktionismus' siehe: Mead, 1973), um
                aktives Auskundschaften, Kennenlernen, Reagieren,
                Annehmen, Rebellieren (Sozialisation ist ja nicht nur
                angenehm, denn sie schränkt ja auch ein, stülpt einer/m
                Gesetze und somit Pflichten über) und nicht um simples
                Lernen bzw. Aufnehmen und dementsprechendes Handeln, wie
                es oft in der Psychologie und der Sozialpsychologie
                postuliert wird (wie am bekannten Beispiel des
                Behaviourismus nachvollziehbar). 
              Berger und Luckmann (op.cit.) nehmen des
                Weiteren eine nützliche Differenzierung vor zwischen der
                Sozialisation, die uns als Menschen bildet und jener im
                kleineren Rahmen, die uns in spezifische Wissensgebiete,
                sowie Funktions- und Sinnabläufe von Institutionen
                einweist; es sind dies Respektive die primäre und die
                sekundäre Sozialisation. Wobei hier zu bemerken ist, daß
                im Falle der Schulen für Kleinkinder diese beiden
                Begriffe etwas verschwimmen, da die primäre Ebene der
                Menschwerdung als gesellschaftliches Wesen mit der
                zweiten, der Einweisungsebene in Institutionen, simultan
                oder zumindest ständig abwechselnd, passiert.
              In den hier auszubreitenden Überlegungen
                soll die Aufmerksamkeit auf die Institution Schule und
                die Interaktion mit ihr seitens SchülerInnen (als dort
                Hineinwachsende) und Lehrenden (als dieses Wachstum
                Steuernde und Überwachende) fokussiert werden. Daher ist
                zu Anfang erst einmal abzuklären, was 'Institution' überhaupt
                bedeutet. Im Lateinischen steht 'institutio' für
                'Einrichtung', 'Unterweisung', was beides schlichtweg
                genau das ausdrückt, was es für uns auszubreiten gilt. 
              Mead (op.cit.) sieht den ersten Schritt,
                der zu einer Institutionalisierung führt, in der
                Vereinheitlichung von Handlungsmustern gegenüber
                bestimmten Situationen. Reaktionsmuster und -abfolgen
                werden im jeweiligen Sinne der sich entwickelnden bzw.
                entwickelten Institution geeicht. Die ganze Gemeinschaft
                oder der betroffene —sich als solcher empfindende—
                Teil davon reagieren in einer geeigneten Situation, das
                ist eine solche, die das Handeln der Einrichtung
                entsprechend ihrer Funktion (d.h. Zielsetzung und ihrem
                Sinngefüge) erfordert, gegenüber dem Einzelnen, der ihr
                Eingreifen nötig macht oder sich (z.B. zwecks
                Dienstleistung) an sie wendet, auf vereinheitlichte Weise.
                Daraus ist erkennbar, daß der Begriff der Institution
                weiter gefaßt werden muß, als man es umgangssprachlich
                gewohnt ist: Nämlich als Übereinkunft (dieser Begriff
                ist aber nicht ganz passend, da er das Einverständnis
                aller miteinschließt, welches aber sicherlich nicht
                einfach vorausgesetzt werden kann), in einer bestimmten
                Weise auf bestimmte Gegebenheiten zu reagieren. "Institutionalisierung
                findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch
                Typen von Handelnden reziprok typisiert werden." (Berger
                und Luckmann, op.cit., S.58) Damit ist gemeint, daß
                —in vorinstitutionalisierten Zuständen—
                Menschen in ihren sich wiederholenden Handlungen einer
                Gewöhnung unterliegen, welche die Handlungen im Großen
                und Ganzen immer gleich ausschauen läßt und dem
                handelnden Subjekt aus der Sicht eines Betrachters eine
                Eigenart (im Umgang mit der entsprechenden Situation)
                aufdrückt. Der nächste Schritt ist, daß von diesem
                eingewöhnten Handlungsablauf (der ursprünglich der
                Zeitersparnis dient) nicht mehr abgewichen wird und zusätzlich
                nicht mehr abgewichen werden darf. Letzteres ist schon
                eine Vorstufe zur Institutionalisierung — es fehlt
                jedoch der Zusatz, daß es sich bei den die
                institutionalisierte Handlung Tätigenden um typisierte
                Subjekte handelt, d.h. solche, die in der erforderlichen
                Situation, abseits ihrer individuellen Unterschiede, in
                derselben Art und Weise handeln und das allen an sie
                Herantretenden gegenüber. Es entsteht also eine
                bestimmte Rolle, die zur Ausführung institutioneller
                Handlungen maßgeschneidert ist.
              Wir sehen Institution in der Folge als
                menschliches Konstrukt, das das Verhalten aller an einer
                bestimmten Gesellschaftsordnung Teilhabende in
                betreffenden Situationen vereinheitlicht und in
                vorbestimmte(n) Bahnen lenkt (über das menschliche Bedürfnis
                nach Institutionen siehe Berger & Luckmann, op.cit.,
                S.108 ff).
              Das Problem der Entpersonifizierung, das
                sich durch die die Institutionen tragenden Rollen ergibt,
                stellt ein individualitätsfeindliches dar, da die
                Institution auf die einzelnen Menschen nicht spezifisch
                sondern vereinheitlichend zugeht. "Ein Teil des
                Selbst hat sich (...) objektiviert als Vollstrecker eben dieser Handlung, während das ganze
                Selbst sich nun mehr oder weniger von der vollzogenen
                Handlung zurückziehen kann. So wird es möglich, sich
                sein Selbst als nur teilhaft mit der Handlung
                identifiziert vorzustellen (...)". (ebenda, S. 77)
                Durch Verdinglichung [4] scheinen
                  die Institutionen mit der Natur zu verschmelzen; und die
                  Welt der Institutionen wird Notwendigkeit und Schicksal,
                  Glück oder Unglück.” Dasselbe gilt eben für
                  Rollen: "Die Modellformel für diese Art der
                  Verdinglichung lautet: 'Ich habe in diesem Falle keine
                  Wahl. Ich muß in meiner Stellung so handeln.'" (ebenda,
                  S.97) Das Problem eines Individuums kann innerhalb einer
                  Institution also erst dann (voraussichtlich) gelöst
                  werden, wenn es die Regeln beherrscht und sich nach ihnen
                  verhält und die Möglichkeiten der Institution nicht überschritten
                  werden.
              Ein erstes Problem ergibt sich also aus der
                Tatsache, daß der Mensch seine Realität in oben ausgeführem
                Sinn verdinglicht und diese somit einen Ausschließlichkeitscharakter
                bekommt. Diese Ausschließlichkeit bewirkt, daß in
                dieser Welt nur bestimmte, mit den Vorstellungen
                konforme, Dinge Platz haben, d.h. sie ist ausschließend.
                Kinder müssen sich nun dieser Situation anpassen und
                zwar nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen: Ein
                Kind hat nicht die Möglichkeit, eine Realitätsvariante
                abzulehnen und sich statt dessen eine andere auszusuchen.
                "Da das Kind sich seine signifikanten Anderen [ein
                von Mead, op.cit, übernommener Begriff [5]] nicht aussuchen kann, ist seine
                  Identifikation mit ihnen quasi-automatisch, und aus
                  demselben Grunde ist seine Identifikation mit ihnen quasi-unvermeidlich.
                  Es internalisiert die Welt seiner signifikanten Anderen
                  nicht als eine unter vielen Welten, sondern als die Welt
                  schlechthin, die einzige vorhandene und faßbare." (Berger
                  & Luckmann, op.cit.) [6]
              Ein wesentlicher Faktor, der bei Berger
                & Luckmann zwar erwähnt (S.101), aber nicht weiter
                ausgeführt wird, ist die Neugier des Kindes auf die Begründung
                der menschlichen Realität. Auf die ständigen 'Warum-Fragen'
                der Kinder wird seitens der Eltern und Erwachsenen
                irgendwann nur mehr mit "das ist halt so" oder
                mit Achselzucken geantwortet. Das hinterläßt den
                Eindruck, als gäbe es darauf gar keine Antworten (wenn
                schon nicht einmal die Erwachsenen eine wissen) und
                bildet die Voraussetzung, die soziale Realität als
                naturgegeben wahrzunehmen. "Die Fragen der Kinder
                nach der symbolischen Sinnwelt sind schwieriger zu
                beantworten als ihre Fragen nach den institutionalen
                Wirklichkeiten des Alltagslebens. Auch die Fragen
                beunruhigter Erwachsener verlangen noch mehr und
                differenzierte Denkarbeit." (Berger & Luckmann,
                op.cit., S.114) Die 'Warum-Fragen' wirken auf die
                Erwachsenen verunsichernd, da sie nach einer Erklärung für
                Vorgänge verlangen, die man nicht gewohnt ist zu
                hinterfragen (das ist auf den Wirklichkeitscharakter der
                menschlichen Gesellschaft zurückzuführen). Wenn
                wiederholt keine Antworten kommen, wird das Kind im Laufe
                der Zeit seine Fragerei einstellen. Als positive Aussicht
                ist noch anzumerken, daß dieser Impuls wieder zum Leben
                erweckt werden kann. Zum Zeitpunkt, wo das Kind in die
                Schule kommt, hat es schon für viele Bereiche gelernt,
                diese einfach hinzunehmen, auch wenn es den Grund dafür
                nicht weiß. Als solcher, d.h. hinzunehmender, Bereich
                kommt nun die Schule hinzu und in dieser selbst wird auch
                nicht gerade das Hinterfragen gelehrt.
              Gleichzeitig mit der Gewöhnung seitens des
                Kindes, diese bestimmten Fragen nicht mehr zu stellen,
                kommt es zu dem Effekt, daß damit die Fähigkeit zum
                'selbständigen Denken' untergraben, dramatisch ausgedrückt:
                verstümmelt wird. 
              
              Interessant ist auch, sich die Frage zu
                stellen, wie es denn überhaupt zur Entstehung der
                Institution Schule kam. Eine verbreitete aber nur
                teilweise zutreffende Erklärung findet sich in den
                Impulsen der Aufklärung: Sie "gilt als die
                'bedeutenste europäische Emanzipationsbewegung' [Mieck,
                1989], deren Grundgedanken bis heute gelten und
                gesellschaftsgestaltend wirken. Immanuel Kants Worte
                werden paradigmatisch als Definition für die neue
                Sichtweise des Menschen zitiert, wonach Unmündigkeit
                selbstverschuldet ist, 'wenn die Ursache derselben nicht
                am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und
                des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen
                zu bedienen'. 'Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen
                Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung'
                [Kant, 1964], die [sic] klar mit den Prämissen
                einer gottgewollten Ordnung bricht. Das selbständige,
                vernunftgeleitete, seinem Gemeinwesen dienende Individuum
                wird zum Ideal erhoben, durch Erziehung sollen die
                Menschen zu eigenem und damit allgemeinem Glück geführt
                werden. Die philosophischen Diskussionen waren
                vielschichtig und unterschiedlich, Vernunft und Verstand
                zu den wichtigsten Werkzeugen erkoren sollten empirisch
                und rational die Welt erfassen lassen. [7]" (Lauggas, 1997, S.8 ff.) [8]
              Ein genauerer Blick auf Österreich: "Maria
                Theresia [die ja die allgemeine Schulpflicht einführte,
                s.u.] war (...) eine gebildete Frau. (...) Ihr Hauptziel
                war in allen Bildungsebenen von Universitäten bis zu
                Elementarschulen eine Ausweitung der Staatsmacht [Hervorhebung
                v.Verf.] und staatlich kontrollierte Ausbildung der
                Untertanen, wie dies besonders deutlich in den Universitätsreformen
                seinen Niederschlag fand. 'Rationalität, Uniformität,
                Utilität und Funktionalität waren nicht nur die
                Leitprinzipien der unter den Auspizien allgemeiner Glückseeligkeit
                [sic] von seiten des Staates in der zweiten Hälfte
                des 18. Jahrhunderts in Angriff genommenen Reformen in
                den Bereichen der politischen Verwaltung, der Rechts-,
                Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern galten
                auch auf dem Gebiet der Bildungspolitik als oberste
                Maximen.' [Grimm, 1987] Bis zu Maria Theresias
                Regierungszeit lag das Schulwesen völlig in der Hand der
                Stände, vor allem der Geistlichkeit. Ihre
                Bildungspolitik wird beschrieben als Übergang vom
                'Ecclesiasticum' zum 'Politicum': Das als Angelegenheit
                der Kirche betrachtete Schulwesen wurde sukzessive auch für
                das Staatswesen interessant, 1770 kulminierte diese
                Entwicklung in der Aussage der Kaiserin, 'das Schulwesen
                aber ist, und bleibet allzeit ein Politikum' [Engelbrecht,
                1984]. 1774 wurde die allgemeine Unterrichtspflicht
                eingeführt, der Kaiserin aber lag es fern, damit jener
                aufklärerischen Intention Vorschub zu leisten, wonach
                das Individuum aus seiner Unmündigkeit herausgeführt
                werden sollte. (...) 'Die Chancen auf eine unter originär
                pädagogischen Vorzeichen stehenden grundlegenden
                Neugestaltung des gesamten Bildungswesens waren durch das
                Faktum, daß Schule und Unterricht in Österreich in der
                zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in das <Vorfeld
                der Verwaltung> rückten, auf ein Minimum gesunken,
                denn die von der <Staatsräson> gerägten
                bildungspolitischen Zielsetzungen der theresianischen (und
                in großen Teilen auch josephimischen; Anm. M.L.) Bürokratie,
                die ... zum <Träger der neuen Staatsanschauung>
                wurde, unterschied sich stark von den als <liberal>
                zu qualifizierenden Vorstellungen über Erziehung und
                Unterricht, wie sie die zeitgenössische Aufklärungspädagogik
                entwickelt hatte.'[Grimm, 1987]" (Lauggas, 1997, S.13)
                Da Regierungen damals wie heute von Interessen geleitet
                wurden und werden [9], verwundert es wenig, wenn jene, die
                  weitreichende Entscheidungen treffen, diese so fällen,
                  daß sie für sie selbst zum Vorteil gereichen. Wie das Päckchen
                  dann präsentiert wird (eben mit Aufklärungsgedanken umhüllt),
                  ist im Grunde eine andere Frage. Dieser Oberfläche
                  sollte man aber nicht verhaftet bleiben, da sie die
                  wahren Handlungsmotive verschleiert. Das mag jetzt
                  vielleicht alles etwas paranoid und verschwörungstheoretisch
                  klingen, doch die verfolgte Absicht ist die, hinter eine/n
                  selbst betreffende Mechanismen zu blicken und die Dinge
                  beim Namen zu nennen. Den Diskurs fortsetzend: Um die
                  Machtverhältnisse vom Prinzip her beibehalten zu können,
                  war es also notwendig, die Aufklärungsgedanken in einer
                  kontrollierbaren Form umzusetzen. “Der Ort, an dem
                  flächendeckende Erziehung gewährleistet werden sollte,
                  wird die Schule. Eines der zentralen Fächer stellt von
                  Anfang an die sogenannte 'Leibeserzeihung' dar, die Körper-
                  und Selbstbeherrschung, die nichts mehr dem Zufall überläßt
                  und die eigene Diszipliniertheit und Gehorsamkeit zum verinnerlichten
                    Bedürfnis [Hervorhebung v.Verf.] macht. Die
                  Wahrnehmung von Kindern bewirkt die Entwicklung der Pädagogik
                  und ist unmittelbar gekoppelt an den Ursprung moderner
                  Verschulung, die wiederum eine sukzessive Verlängerung
                  der Kindheit einleitet. Glantschnig [1987] faßt treffend
                  zusammen: ‘Der Mensch wird unter dem Aspekt der
                  Effektivierung seiner Arbeitskraft gesehen, der
                  Disziplinierung seines Körpers und der Normalisierung
                  seines Verhaltens. Die Pädagogik hat wesentlichen Anteil
                  an der Entwicklung dieser wissenschaftlichen Maschinerie,
                  die den Körper des Einzelnen durchdringt, zergliedert
                  und in Hinblick auf einen allgemeinen Zweck wieder
                  zusammensetzt.’” (ebenda, S.121)
              Die Schulpflicht der Kinder erfüllt in
                unserem kapitalistischen Gesellschaftssystem zwei
                Grundfunktionen: Erstens dient sie der Heranbildung
                produktiver WirtschaftsteilnehmerInnen und
                gesellschaftstreuer Mitmenschen und zum zweiten gewährleistet
                sie die Bereitstellung der Arbeitskraft der Eltern bzw.
                der Mutter für die Zeit, die das Kind (die Kinder) in
                der Schule verbringt. Daß die Schule nicht primär dem
                Wohle der Kinder dient und nach ihren Bedürfnissen
                ausgerichtet ist, zeigt sich schon an der Struktur dieser
                Einrichtung. Ottomeyer (1977) geht sogar soweit, daß er
                Schulen als ‘totale Institutionen’ bezeichnet,
                in der es “eine bürokratische Verwaltung”
                gibt, “hierarchische soziale Ränge und ein (...)
                Regelsystem für das zwischenmenschliche Verhalten.”
                Die Kinder “sind mehr oder weniger unfreiwillig hier
                und unterstehen der Weisungsbefugnis und Sanktionsgewalt
                des ‘Stabs’. (...) Den Insassen werden viele Möglichkeiten
                zum Ausdruck ihrer persönlichen Identität weggenommen”
                und sie unterliegen “noch in den intimsten
                Verrichtungen (man denke an das schulische ‘Austreten’)
                der Kontrolle durch den Stab”. (ebenda, S.212)
                “Der Eintritt in die Schule ist für das Kind ein
                folgenschweres und ziemlich bitteres Ereignis. Deshalb
                versucht man es ihm auch durch das bekannte Zuckertüten-Ritual
                [in der BRD] zu versüßen. Die in der Schule
                herrschenden Anforderungen an das kindliche Verhalten
                bedeuten einen scharfen Bruch mit dem vertrauten sozialen
                Milieu der bisher fast ausschließlich bestimmenden
                Familien- und Freundschaftsbeziehungen, in denen sich die
                ersten Ansätze eines kindlichen Selbstgefühls und
                Selbstbewußtseins herausgebildet hatten.” (ebenda,
                S.220) Horn (o.J.) meint dazu, daß “wenn das Moment
                der Sachbildung gegenüber der Affekt- und Sozialbildung
                gesellschaftlich in den Vordergrund tritt, dann
                verunsichert das Eltern wie Kinder und es ergeben sich
                gleichsam Sozialisationsdefizite, die sich als
                mitmenschliche Indifferenz, Aggressivität, offene
                Destruktivität und Angst äußern. So taucht das Problem
                sozialer Desintegration (...) auf.” (S.362) “Derselbe
                Bruch betrifft auch die Art und Weise der kindlichen
                Gegenstandsaneignung und des Erkundungsverhaltens. Während
                dies bisher eng mit spontanen körperlichen Bewegungsabläufen,
                Herumtoben, Klettern, Wandern und mehr oder weniger
                spielerischen Handhabung der Lerngegenstände verbunden
                war, findet Lernen nun abgelöst vom direkten Kontakt mit
                den Gegenständen statt, daß der Körper samt seinem Betätigungsdrang
                erst einmal auf einem Stuhl stillgestellt werden muß.
                Der Schüler [und die Schülerin] muß seine persönliche
                Lebens- und Herkunftsgeschichte weitgehend vor der
                Schulpforte lassen, und er lernt, in zwei verschiedenen
                zwischenmenschlichen Welten zu leben. Die Anforderungen
                der Schule sind unpersönlich, leistungsbezogen und
                unerbittlich - wer nicht mitkommt, dem droht die soziale
                Ausstoßung in die Sonderschule und der Status des
                Asozialen; hierin ist die Schule durchaus schon eine
                Vorbereitung auf die Härte des kapitalistischen
                Erwerbslebens.” (Ottomeyer, op.cit., S.220)
              Franz (1978) stellt die provokante Frage,
                ob die immer stärker um sich greifende
                Produktorientiertheit und funktionalistische Ausrichtung,
                nicht “den Schüler mehr zum Objekt der Institution
                als zum Subjekt in der Institution Schule machen.” (in
                Horn, o.J., S.373)
              Das Interesse am Schulstoff wird durch die
                Zerstückeltheit und zeitliche wie lebenspraktische
                Entfernung der Lehrinhalte zusätzlich behindert. “Das
                Fehlen eines wirklichen Sachbezugs für die gemeinsame
                Lerntätigkeit hat zur Folge, daß die schulischen
                Lerngegenstände nur noch in symbolisch-abziehbildartiger
                Form gegenübertreten. (...) Aber auch diese symbolisch
                vorgestellten gemeinsamen Lehrgegenstände werden durch
                das von staatlichen Lehrplänen kontrollierte Prinzip des
                Fachunterrichtes noch einmal aufgesplittert und damit
                entwirklicht [s. Beck, 1974]. So taucht etwa ein
                eigentlich so interessantes Thema wie das Leben der
                Menschen in der englischen Gesellschaft einmal (...) im
                englischen Sprachunterricht auf, dann noch einmal im
                Geschichtsunterricht, im Georaphie-Unterricht, wo die
                Beziehungen der Menschen zur Natur und ihre
                Siedlungsformen ganz abgelöst von der Geschichte und vom
                Sozialleben behandelt werden, und vielleicht noch einmal
                im Sozialkundeunterricht. Wenn die Schüler in diesen Fächern
                auch noch von verschiedenen Lehrern unterrichtet werden,
                was anzunehmen ist, so wird es ihnen wahrscheinlich endgültig
                unmöglich gemacht, einen sinnvollen Zusammenhang
                zwischen den verschiedenen Teilaspekten herzustellen.”
                (Ottomeyer, op.cit., S.224) Hier ist hinzuzufügen, daß
                die verschiedenen Epochen in den diversen Fächern oft
                gar nicht simultan behandelt werden.
              “Es liegt auf der Hand, daß eine
                Schule, die tatendurstige Kinder an Schreibtische zwingt
                und sie Dinge lernen läßt, die meistens nutzlos sind,
                eine schlechte Schule ist. Nur jene unschöpferischen
                Mitbürger, deren Kinder fügsam und unschöpferisch
                bleiben sollen, damit sie in eine Gesellschaft passen,
                deren Erfogsmaßstab Geld heißt, können eine solche
                Schule für richtig halten.” (Neill, 1969, S.22)
              Summa summarum kristallisiert sich das Bild
                einer Institution heraus, die den Bedürfnissen der in
                sie eingebundenen, mehr noch: der sie legitimierenden
                Individuen nicht oder nur in geringem Ausmaß entspricht.
                Die Folgen, die sich daraus ergeben, werden bei einem
                Vergleich mit Summerhill-SchülerInnen traurig erkennbar.
              
              Wie schon weiter oben erwähnt, gründete
                Neill sein Schule 1921. Voeher hatte er schon einige
                Jahre in herkömmlichen Schulen unterrichtet, anfangs
                sogar mit traditionellen Methoden (Prügelstrafe etc.).
                Nach einem Schlüsselerlebnis wandte er sich von dieser
                Art des Umgangs mit Kindern ab und begann, sich mit
                Psychologie und psychoanalyischen Theorien zu beschäftigen.
                “Nach meiner [Neill’s] Ansicht sind Kinder von
                Natur aus verständig und realistisch. Sich selbst überlassen
                und unbeeinflußt von Erwachsenen, entwickelt es sich
                entsprechend seinen Möglichkeiten.” (ebenda, S.22)
                In diesem kurzen Satz steckt schon einiges, das genauerer
                Betrachtung lohnt: Der Autor spricht dem Kind Verständigkeit
                zu, d.h. er sieht in ihm ein kleines Individuum mit dem
                man seinen Möglichkeiten entsprechend auf einer egalitären
                Basis kommunizieren und umgehen kann. Das Kind ist auf
                die Unterstützung der Erwachsenen angewiesen, da es sich
                in der Welt noch nicht auskennt. Das verleiht den schon
                Eingeweihten Macht über es. Sie lassen es meist nicht
                allein entdecken und sich entwicken, sondern wollen es
                nach eigenen Vorstellungen lenken. Wie viele Erwachsene
                halten es z.B. aus, einem Kind bei einer Aufgabe oder
                einem Spiel zuzusehen, das es nicht lösen kann oder mit
                dem es ‘falsch’ umgeht? Nach Neill’s
                Erfahrung raubt man durch Hillfestellungen und Aufzeigen
                von Lösungen einem Kind die Freude am Entdecken. Man
                macht nicht dem Kind einen Gefallen, indem man ihm bei
                der Lösung einer schwierigen Aufgabe zur Hand geht,
                sondern man befriedigt seine eigene Ungeduld und das
                eigene Ego, indem man es genießt, wenn es dann das Kind
                so macht, wie man es ihm gezeigt hat — man hat
                Gelegenheit auf ‘väterliche’ Art dem Kind zu
                ‘helfen’ und sich durch diese Geste überlegen
                und somit gut zu fühlen. 
              Etwas erstaunliches ist in Summerhill das (grundlegende)
                Recht auf Selbstbestimmung. Es “gilt gleiches Recht
                für alle. Niemand darf sich auf den Konzertflügel
                stellen, und ich kann auch nicht einfach das Fahrrad
                eines Jungen benutzen, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten.
                In einer Schulversammlung hat die Stimme eines sechsjährigen
                Kindes genausoviel Gewicht wie meine [Neill’s]. Die
                Neunmalklugen werden jetzt sagen, in der Praxis zählten
                ja doch nur die Stimmen der Erwachsenen. ‘Ehe das
                sechsjährige Kind die Hand hebt, wartet es doch bestimmt
                erst einmal ab, wie Sie stimmen.’ Ich wollte, es wäre
                so; denn zu viele von meinen Vorschlägen werden
                abgelehnt. Freie Kinder lassen sich nicht so leicht
                beeinflussen. Sie haben eben keine Angst.” (ebenda,
                S.27) Sie haben keine Angst vor Schlägen und
                Bestrafungen und wenn sie etwas ausgefressen haben und
                dabei erwischt werden, akzeptieren sie die in der
                Schulversammlung getroffene Strafe bereitwillig [10]. (ebenda, S.60 ff.)
              Es “ist die Tatsache entscheidend, daß
                der Einzelne nicht nur Rollen und Einstellungen Anderer,
                sondern in ein und demselben Vorgang auch ihre Welt übernimmt.”
                (Berger & Luckmann, op.cit., S.142) Auf diese ‘Welt’
                kommt es nun an: Jene, in die die Summerhill-Kinder
                hineinwuchsen stellt sich fundamental anders dar als die,
                die ‘normale’ SchülerInnen präsentiert
                bekommen. “Die eindeutige Folge” der “minder
                begünstigten Situation des Kindes ist die, daß ihm,
                obgleich es nicht ganz unbeteiligt und passiv während
                seiner Sozialisation ist, die Erwachsenen die Spielregeln
                aufstellen. Es kann gern oder ungern mitspielen, ein
                anders Spiel ist jedenfalls nicht zu haben.” (ebenda,
                S.145) Der Unterschied der Welten liegt in dem Wort
                ‘gern’. Der Summerhill-Kindern macht das Lernen
                Freude, sie sind schöpferisch (und nicht zerstörerisch),
                offen und freundlich. Sie werden als gleichwertige
                Gemeinschaftsmitglieder respektiert und niemand zwingt
                ihnen seinen Willen auf. Sie können über die zu
                befolgenden Regeln autonom und demokratisch abstimmen und
                niemand zwingt sie dazu, den Unterricht zu besuchen.
                Neill vertritt in diesm Aspekt die radikal anmutende
                Meinung, daß das Kind nur das lernen sollte, was es auch
                interessiert, denn nur das ergebe einen Sinn — der
                Rest würde vergessen (womit er ja nicht so unrecht hat,
                denn wieviel der Unmenge an in der Schule aufgenommener
                Information können wir heute noch abrufen?) “Die
                Kinder können zum Unterricht gehen, sie dürfen aber
                auch wegbleiben — sogar jahrelang, wenn sie wollen.
                Es gibt einen Stundenplan — aber nur für die
                Lehrer. (…) Schüler, die im Kindergartenalter nach
                Summerhill kommen, nehmen von Anfang an am Unterricht
                teil, Kinder, die von einer anderen Schule zu uns kommen, schwören sich jedoch oft, nie wieder in ein
                  Klassenzimmer zu gehen. [Hervorhebung v.Verf.] Sie
                spielen, fahren mit dem Fahrrad, stören andere bei der
                Arbeit, aber sie hüten sich vor der Schulbank. In
                einigen Fällen dauert das Monate. Die Zeit der ‘Genesung’
                entspricht der Stärke des Hasses, den ihnen die vorige
                Schule eingegeben hat. Den Rekord hält ein Mädchen, das
                aus einer Klosterschule kam und bei uns drei volle Jahre
                nur gefaulenzt hat. Im Durchschnitt dauert es drei
                Monate, bis ein Kind wieder bereit ist, am Unterricht
                teilzunehmen.” (Neill, op.cit., S.23) Bei Berger
                & Luckmann geht es nicht um eine kritische
                Auseinandersetzung mit herrschenden
                Gesellschaftsstrukturen, sondern nur um eine möglichst
                umfassende Analyse der Sozialisationsprozesse, daher
                schreiben sie z.B. auch, daß “als Sprache und
                mittels Sprache (…) beliebige institutionell
                festgesetzte Begündungs- [sic] und
                Auslegungszusammenhänge internalisiert” werden
                “— so benimmt man sich etwa wie ein tapferer
                  kleiner Junge und glaubt, daß kleine Jungen von Natur
                  aus nach tapfer und feige zu scheiden sind [Hervorhebung
                v.Verf.]. Derartige Schemata versorgen das Kind für das
                Alltagsleben mit institutionalisierten Programmen, deren
                einige unmittelbar verwendbar sind, während andere ein
                Benehmen, das die Gesellschaft späteren Lebensphasen
                vorbehält, antizipieren (…).” (Berger &
                Luckmann, op.cit., S.145 ff.) Was diese Doktrinen den
                einzelnen Individuen an Streß- und Angstverarbeitung,
                Verdrängung, Fähigkeit zu Bedürfnisaufschub und
                Frustrationstoleranz abverlangen, interessiert in diesem
                Rahmen nicht. Gerade aber von psychologischer Seite sind
                das interessante ergänzende Fragen.
              Die primäre Sozialisation in Summerhill
                zeichnet sich im Wesentlichen durch drei Punkte aus:
                Erstens ist das Hineinwachsen in die Gesellschaft vom
                Kind gesteuert und nicht von den Erwachsenen, d.h. daß
                dem Kind keine Regeln gestellt werden, die es befolgen muß
                (abgesehen von Regeln die das Gemeinschaftsleben
                betreffen, da diese für ein gutes Zusammenleben natürlich
                befolgt werden müssen; aber hier sind gesellschaftliche
                Regeln gemeint, die bestimmen, wie man sich zu verhalten
                hat und wie nicht). Die Kinder müssen sich nicht vor dem
                Essen die Hände waschen und sie dürfen überhaupt
                schmutzig sein (solange sie nicht durch unangenehmen
                Geruch die anderen stören), sie dürfen fluchen und ihre
                sexuellen Regungen (Masturbieren u.ä. [11]; siehe dazu Neill, op.cit., S.197 ff.)
                  werden nicht unterbunden oder mit Strafen verfolgt (wobei
                  Neill immer sehr darauf bedacht war, es nie zu einer
                  Schwangerschaft kommen zu lassen —was ihm auch
                  gelungen ist— aber trotzdem keine Überwachung
                  stattfand, sondern mit den —in diesem Fall—
                  Jugendlichen sachlich argumentiert wurde, daß wenn eines
                  der Mädchen schwanger würde, die Schule wahrscheinlich
                  schließen könne; ebenda, S.71 ff.). Es gab und gibt [12] in Summerhill keine Moral, sondern nur
                    Respekt vor den (flexiblen und selbstbestimmten bzw. -bestimmbaren)
                    Gemeinschaftsregeln und den einzelnen Mitgliedern. Neill
                    meint, daß die meisten Eltern Angst hätten, ihr Kind würde
                    ohne Moral verrohen und zu einem schlechten und
                    primitiven Menschen werden. Sie “akzeptieren eben,
                    zumindest passiv, daß der Mensch sündig von Geburt und
                    schlecht von Natur sei und daß er raubgierig, grausam
                    und mordlüstern werde, wenn man ihn nicht zum Gutsein
                    erziehe.” (ebenda, S.232) Ein Aspekt, der von
                    biologistischen Wissenschaften und ihren VertreterInnen (Lorenz,
                    1966; Ardrey, 1966; Wilson, 1975, 1998; Hamer &
                    Copeland, 1998, Eibl-Eibesfeld, 1998 u.v.m.) untermauert
                    wird (die aber sozialisatorische Theorien wie eben gerade
                    den symbolischen Interaktionismus konsequent ignorieren
                    — was nicht gerade eine wissenschaftliche
                    Vorgangsweise darstellt). 
              Neill berichtet z.B. von einer bei seinen
                Vorträgen in ähnlicher Form immer wieder auftauchenden
                Frage: “Was würden Sie tun, wenn ein Junge
                  anfinge, Nägel in einen Konzertflügel zu schlagen? Ich [Neill] bin inzwischen ein solcher Experte geworden,
                daß ich oft schon vorher weiß, wer die Frage stellen
                wird. Meist ist es eine Frau, die in der ersten Reihe
                sitzt und von Zeit zu Zeit mißbilligend den Kopf schüttelt.
                Die beste Antwort auf diese Frage: Es ist ganz egal,
                  was Sie mit dem Kind machen, solange ihre Einstellung zum
                  Kind richtig ist. Es macht nichts, wenn Sie es vom Flügel
                wegziehn, solange Sie ihm keine Schuldgefühle beibringen.
                Solange Sie nur auf Ihren persönlichen Rechten bestehen,
                ohne das durch moralische Urteile zu einer Frage von Gut
                und Böse zu machen, solange richten Sie auch keinen
                Schaden an.”(ebenda, S.149) 
              Das Problem, das das Unwissen der Kinder um
                gesellschaftliche Normen und Zusammenhänge mit sich
                bringt, ist, daß die Kinder diese Welt natürlich
                verstehen wollen und daher natürlich auch Fragen
                stellen, die die symbolische Sinnwelt an sich betreffen.
                Fragen, deren Existenz die Erwachsenen schon vergessen
                haben und auf die sie selbst als Kinder nie eine Antwort
                erhielten. Diese Fragen stellen jedoch die Selbstverständlichkeit
                der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit in Frage und
                stellen somit —unbeabsichtigt— ein subversives
                Elemant dar, das abgewehrt und unterdrückt werden muß,
                da es die Berechtigung der Realität in Frage stellt (siehe
                S.7, ebenda; bei Berger & Luckmann, op.cit., S.108 ff.).
                Es wird also nicht nach einer Erklärung gesucht, sondern
                dem Kind vermittelt, daß es nicht so ‘dumme’
                Fragen stellen soll. So wird gelernt, gesellschaftliche
                Verhältnisse nicht zu hinterfragen, sondern sie als
                naturgegeben und unveränderbar oder zumindest von einem/r
                selbst nicht beeinflußbar hinzunehmen. “Die neue
                Generation erlernt die Legitimation im gleichen Prozeß,
                durch den sie in die institutionale Ordnung eingeführt
                und auf sie abgestimmt wird [Hervorhebung v.Verf.].”
                (Berger & Luckmann, op.cit., S.66)
              Damit kommen wir schon zum zweiten Punkt:
                Die Kinder können in Summerhill ohne Tabus alle Fragen
                stellen, die sie möchten, sei es innerhalb der
                gesellschaftlichen Grenzen (z.B. über Sexualität), wie
                eben auch andere, darüber hinausschreitende, da man sich
                um sie bemüht und ihnen Zeit einräumt. Fragen, die die
                symbolische Sinnwelt betreffen, sind zwar schwieriger zu
                beantworten als andere, aber es ist nicht unmöglich. In
                dem Moment, da Dogmatismen wegfallen, ist ein flexiblerer
                Umgang mit Vorschriften möglich. 
              Das stellt schon den Dritten Punkt dar:
                Offenheit und Flexibilität in den Gesellschaftsregeln,
                da diese sich nicht aus einer Moral herausbilden, sondern
                von den aktuellen Bedürfnissen der Schulgemeinschaft
                bestimmt werden. Die Regeln richten sich nach den Bedürfnissen
                der Beteiligten und nicht die Beteiligten nach Regeln,
                die nicht ihnen dienen, sondern der Aufrechterhaltung
                eines abstrakten Moralsystems. “Der ursprüngliche
                Sinn der Institution ist ihrer eigenen Erinnerung unzugänglich”
                (ebenda, S.66) und darin liegt das einschränkende
                Element: Der Sinn wird nicht gesucht, sondern
                vorausgesetzt und die Institution somit erhalten. Sie
                passt sich nicht mehr den Menschen an, sondern diese sich
                ihr. Genau das passiert in Summerhill nicht. Dazu zwei
                Beispiele: “Als ich [Neill] in Deutschland
                unterrichtete, wurde ein dreizehnjähriges (…) Mädchen
                namens Maroslawa zu mir geschickt. Maroslawa haßte ihren
                Vater leidenschaftlich. Ein halbes Jahr lang machte sie
                mir das Leben an der Schule zur Hölle. In den
                Schulversammlungen griff sie mich häufig an. Bei einer
                Gelegenheit brachte sie den Antrag ein, mich wegen Unfähigkeit
                zu entlassen. Sie hatte Erfolg. Nach drei freien Tagen
                fing ich gerade an, Freude an einem Buch zu finden, das
                ich schrieb, als leider beschlossen wurde, mich zurückzuholen
                (mit einer Gegenstimme natürlich). (Neill, op.cit., S.287)
                In einer Schulversammlung war durch den Einfluß einer
                neuen Schülerin namens Ansi die Anarchie augerufen
                worden. “Unter ihrer Führung marschierten die Schüler
                aus dem Raum. Sie hatte keine Schwierigkeiten, die
                anderen mitzureißen, weil die Kinder alle noch verhältnismäßig
                klein waren und noch kein soziales Bewußtsein entwickelt
                hatten. Ansi führte sie in die Werkstatt, wo sie sich
                mit Sägen bewaffneten, um, wie sie erklärten, alle
                Obstbäume zu fällen. Ich ging wie üblich in den
                Garten, um zu graben. Zehn Minuten später kam Ansi zu
                mir [Neill] und fragte sehr sanft: ‘Was müssen wir
                machen, um die Anarchie aufzuheben und wieser Gesetze
                einzuführen?’
              ‘Ich kann dir keine Ratschläge geben’,
                sagte ich.
              ‘Können wir nicht eine neue
                Schulversammlung einberufen?’ fragte sie.
              ‘Natürlich könnt ihr das , aber ich
                werde mich da nicht sehen lassen. Wir haben uns ja für
                die Anarchie entschieden.’ Sie ging, und ich setzte
                meine Gartenarbeit fort. Kurz darauf kam sie wieder.
                ‘Die Kinder haben beschlossen, eine regelrechte
                Schulversammlung einzuberufen. Kommen Sie auch?’
              ‘Eine regelrechte Schulversammlung?’
                fragte ich. ‘Ja, ich komme.’
              In der Schulversammlung war Ansi dann sehr
                ernsthaft, und wir konnten in Frieden unsere Gesetze
                verabschieden. Gesamtschaden während der Zeit, in der
                Anarchie herrschte: ein zersägter Garderobenständer.”
                (ebenda, S.285 ff.)
              Ich denke, dadurch wird deutlich, daß in
                Summerhill mit den Regeln des Zusammenblebens
                experimentiert werden kann und sie nicht blind übernommen
                werden müssen. Man kann sie einsehen, sie werden einem/r
                nicht aufoktroyiert. Es handelt sich um eine offene und
                flexible Sozialisation.
              
              Die Position, die ich mit diesen meinen
                Ausführungen beziehen möchte, ist jene für ein ‘Prinzip
                der Möglichkeiten’. Das Problem der Objektivität
                in den Wissenschaften wurde ja eingangs schon angerissen
                und aus diesem folgernd ergibt sich auch die politische
                Dimension der Wissenschaft, da sie ja als
                gesellschaftliches Legitimationsinstrument
                gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmt. Wenn aber Regeln
                strikt gezogen werden, ist es unumgänglich, daß Leute,
                eigentlich Mitglieder der Gemeinschaft, aus dieser
                ausgeschlossen werden, man denke nur an die Ausgrenzung
                homosexueller Frauen und Männer. Wenn die Wissenschaft
                ihrer Subjektivität eingedenk ist, gelten ihre
                Erkenntnisse nur im Rahmen des gesellschaftlichen
                Regelsystems, in dem sie und ihre VertreterInnen sich
                befinden (das gilt hauptsächlich für die geistes- und
                sozialwissenschaftlichen Richtungen, aber auch für
                naturwissenschaftliche wie z.B. die Biologie, da diese
                ihre Erkenntnisse ja als für die soziale Welt geltend
                darstellt und z.B. weniger für die Chemie), d.h. ihre
                Ergebnisse werden zu einer Möglichkeit als Gegenpol zur
                Gewißheit. Das wäre eine Chance für eine
                freundlichere, offenere, vielfältigere und weniger
                aggressive Haltung, die den Weg weisen könnte zu einer
                Gesellschaft der Toleranz.
              
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                über die multikulturelle Gesellschaft, die Integration
                von Ausländern und die Einwanderungspolitik. Der
                  Spiegel, 14, 48-53.
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