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VII. Darstellung der interviewten Personen

Nach langer Überlegung entschloß ich mich nun doch dazu, jede einzelne Interviewperson etwas genauer darzustellen. Auf der einen Seite erscheint es mir wichtig, transparent zu machen, in welchem biographischen Kontext die in Kapitel VIII. dargestellten Aussagen der jeweiligen Interviewperson stehen. Auf der anderen Seite entspricht es meinem Verständnis qualitativer Jugendforschung – im Gegensatz zu den quantitativen Jugendstudien – die Gruppe der Jugendlichen nicht als abstrakte Kategorie, sondern sie als einzelne Individuen mit ihren dazugehörigen Lebenskontexten darzustellen.

In den folgenden Personenbeschreibungen sollen die mir gebotenen Informationen ohne eigenes interpretatives Zutun präsentiert werden. Welche Informationen ich jedoch auswähle, muß ich nach eigenem Ermessen entscheiden.

Aufgrund der Anonymität dieser Untersuchung wurden alle Namen von mir geändert.

 

1. Elisa

Elisa ist sechzehn Jahre alt. Sie lebt gemeinsam mit ihrer Mutter in einer Wohnung in Wien. Ihren Vater lernte sie nie kennen. Ihre Mutter besitzt ein kleines Lokal in Wien, gleich in der Nähe der Wohnung und ist deshalb abends bzw. nachts, vor allem an den Wochenenden, nie zu Hause.

Elisa geht in die sechste Klasse eines Gymnasiums mit Schwerpunkt Bildnerische Erziehung. Sie ist eine mittelmäßige Schülerin und meint, daß ihr andere „Dinge“, wie z.B. ihre Freundinnen, wichtiger wären als das Lernen und die Schule. Sie versucht, das Ganze eher locker und gemütlich zu nehmen und sich nicht so viel Streß zu machen, obwohl sie sich schon manchmal denkt, daß die Leistungsanforderungen zu hoch sind. Diese eher gemütliche Grundhaltung zur Schule ist ihren Schilderungen nach auch in ihrer Klasse ziemlich verbreitet, kollegiale Solidarität, gemeinsames Lernen, Hilfe und Unterstützung stehen hier auf der Tagesordnung.

Streß hingegen macht sich Elisa hinsichtlich ihrer Zukunftsplanung. Im Moment hat sie keine Ahnung, was sie einmal werden will. Obwohl sie gerne malt, traut sie es sich nicht zu, Künstlerin zu werden. Sie hat jedenfalls das Gefühl, daß sie jetzt schön langsam wissen sollte, was sie einmal machen will. Vor allem bereitet es ihr Sorgen, daß sie einerseits von so vielen Berufen, die es gibt, noch keiner so richtig ansprach und ihr andererseits nicht mehr so viel Zeit zur Verfügung steht.

Relativ zufrieden ist Elisa mit ihrem Freizeitleben. Sie und ihre Freundinnen freuen sich immer die ganze Woche schon aufs Wochenende. Weil sie kein Lokal finden, das ihnen gut genug gefällt, bleiben sie meistens bei Elisa zu Hause, die an den Wochenenden die Wohnung nachts immer für sich hat. Dort veranstalten sie ihre Parties, hören Musik, tanzen oder schauen Videos. Manchmal erwarten sie sich von den Abenden allerdings zuviel und sind dann enttäuscht, wenn es einmal nicht so lustig ist. Außerdem würden sie gerne mal neue Leute kennenlernen.

 

2. Petra

Petra ist siebzehn Jahre alt. Sie wohnt mit ihren Eltern und dem um zwei Jahre älteren Bruder in Wien. Beide Eltern sind künstlerisch tätig, die Mutter malt, der Vater ist Musiker. Ihr Bruder, der bereits mehrere Ausbildungen ausprobierte, macht derzeit einen Lehrgang zum Tontechniker.

Petra besucht die zweite Stufe einer höheren technischen Lehranstalt für Graphik und Fotografie. Die Schule gefällt ihr inhaltlich ganz gut, ist ihr aber von den Anforderungen her oftmals zuviel. Die erste Stufe mußte sie bereits einmal wiederholen, im Moment schaut es wieder ziemlich schlecht aus, vor allem in den Hauptgegenständen. Weil der Schule scheinbar der Ruf vorauseilt, im Gegensatz zum Gymnasium nicht gerade besonders anspruchsvoll zu sein, gibt sie sich für ihr „Versagen“ selbst die Schuld. Anspruchsvoll dürfte die Schule allerdings schon allein vom Ausmaß der Wochenstunden her sein, der Unterricht zieht sich fast täglich bis zum frühen Abend und dann wird zusätzlich erwartet, daß man/frau noch zu Hause weiter arbeitet. Schon mehrere Male stand Petra vor der Entscheidung, das Ganze hinzuschmeißen; da sie für sich vom Schulischen her jedoch keine Alternative sieht, wagte sie sich nicht zu diesem Schritt druch. Diese „Ausweglosigkeit“, verbunden mit den hohen Leistungsanforderungen, scheinen bei ihr auch körperliche Spuren zu hinterlassen. Ist der Streß zu groß, wird sie krank. Ihre eigene Zukunftsplanung ist ihr unter anderem auch deshalb kein Anliegen, weil sie mit diesen Anforderungen der Gegenwart bereits genug zu tun hat.

Fehlende Unterstützung und Solidarität innerhalb der Klasse ist ein anderes Thema, das Petra beschäftigt. Die Leute nehmen ihrer Meinung nach zu wenig Rücksicht aufeinander und sind zu sehr auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Demgegenüber würde sie es sich wüschen, wenn sie sich mehr umeinander bemühen und kümmern, auf sich schauen und sich gegenseitig helfen würden.

 

3. Karin

Karin ist siebzehn Jahre alt. Ihre Eltern, die beide studierten, sind schon lange geschieden, der Vater ist inzwischen wieder verheiratet. Bis sie sich vor einem Jahr dazu entschloß, zum Vater zu ziehen, wohnte sie gemeinsam mit ihrer Mutter und der um zwei Jahre jüngeren Schwester (Carina) in einem Wiener Außenbezirk. Sie wollte zum Vater, um eine engere Beziehung zu ihm aufbauen. Ihren Schilderungen nach scheint das Projekt jedoch gescheitert zu sein, der Vater interessiert sich nicht besonders für sie und mit der Stiefmutter versteht sie sich nicht gerade gut, bis heute fühlt sie sich dort als Gast. Die Pläne, wieder zur Mutter zu ziehen, sind allerdings noch am Reifen.

Karin geht in die zweite Stufe einer höheren technischen Lehranstalt für Graphik und Fotografie, gemeinsam mit Petra. Sie ist deshalb ein Jahr hinten, da sie es vorher mit einer anderen Schule probierte. Dort ging es ihr ziemlich schlecht. Jetzt, in dieser Schule, hat sie das Gefühl, das Richtige gefunden zu haben. Sie ist überaus motiviert dabei, gibt aber auch zu, daß sie an sich selbst sehr hohe Ansprüche stelle. Sie setzte sich beispielsweise das Ziel, als Jahrgangsbeste abzuschließen. In ihrem Fall stellen weniger die Leistungsanforderungen der Schule eine Belastung dar, sondern vielmehr diese hohen Ansprüche an sich selbst, sie ist mit ihren Leistungen selten zufrieden und fühlt sich den anderen gegenüber oftmals unterlegen und minderwertig.

In der Schule macht sie sich vor allem auch deshalb einen derartigen Streß, um sich eine gute Basis für die hohen Leistungsansprüche hinsichtlich ihrer Zukunftsplanung zu schaffen. Sie verkündet ganz offen, karrieregeil zu sein, möchte berühmt werden und am liebsten einmal etwas schaffen, was die Welt noch nie gesehen hat. Eine große Rolle spielt hier auch die Anerkennung ihrer Familie, sie hat das Gefühl, weniger ihren Eltern, sondern vor allem den Großeltern beweisen zu müssen, daß sie es zu etwas bringen kann.

Ganz nebenbei erwähnt sie auch noch, daß sie sich jetzt einen Samstagsjob suchen möchte, um sich ihren Führerschein zu finanzieren. Daß sich damit ihre Freizeit nur mehr auf einen Tag in der Woche beschränken wird (wenn überhaupt), scheint sie nicht abzuschrecken. Außerdem möchte sie ihren Eltern so wenig wie möglich auf der Tasche liegen.

Neben Leistung spielt Aussehen eine wichtige Rolle in Karins Leben. Durch ihren individuellen Kleidungsstil versucht sie sich von der Masse abzuheben, wenn sie könnte, würde sie sich täglich von oben bis unten neu einkleiden. Von Kaufsucht gefährdet, entwirft und schneidert sie sich neue Kombinationen und Kreationen aus alten Kleidungsstücken selbst, mit dem Ziel, ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit Ausdruck zu verleihen.

 

4. Niki

Niki ist achtzehn Jahre alt. Seit einem Monat wohnt er alleine in einer Ein-Zimmer-Wohnung der Gemeinde Wien. Seine Eltern sind seit zwölf Jahren geschieden, den Vater sah er schon mehrere Jahre nicht mehr. Seine Mutter bezeichnet er als unzurechnungsfähig, seinen Schilderungen nach hatte und hat sie schwere psychische und finanzielle Probleme. Sie brachte ihr Leben und folglich das ihrer Kinder nicht auf die Reihe. Erfahrungen schwerer Vernachlässigung an der Grenze zur Verwahrlosung schienen in Nikis Leben weniger die Ausnahme als die Regel zu sein. Das Familienleben mit Mutter und Schwester endete schließlich vor einem dreiviertel Jahr mit einer Katastrophe, einem Selbstmordversuch der Schwester und diversen Nervenzusammenbrüchen der Mutter folgte schließlich der Verlust der Wohnung. Von da an war und ist Niki völlig auf sich alleine gestellt. Diese „abschreckenden“ Erfahrungen motivieren ihn nun, sich ein stabiles und „geregeltes“ Leben aufzubauen. Sich einen Job zu suchen war eine seiner größten Motivationen überhaupt, nur so konnte es seiner Meinung nach besser werden. Auf seine neue Wohnung, die er sich ganz alleine organisierte, ist er besonders stolz.

Seit ein paar Monaten arbeitet Niki in einer Filiale einer großen Kleiderkette. Seine Arbeit ist ihm sehr wichtig, er bezeichnet sie als das „Rad“ in seinem Leben, mit dem er seine Unabhängigkeit finanzieren kann. Auch wenn er dort, wie im Moment, immer wieder frustriert und überfordert ist, ist er dennoch motiviert, sein Bestes zu geben, mit dem Ziel vor Augen, die Karriereleiter hinaufzuklettern. Dabei achtet er ganz besonders darauf, seinen Vorgesetzten zu zeigen, wie sehr er sich bemüht. Er gibt aber auch zu, sich selbst oftmals zu sehr unter Druck zu setzen. Demotivierend findet er jedenfalls die Arbeitsmoral einiger seiner KollegInnen, der sogenannten „Obezahrer“, die nicht weiterkommen wollen und den Leistungsanforderungen eher gleichgültig und resigniert gegenüberstehen.

Für die Zukunft hat Niki keine großartigen Pläne, er ist ein Mensch der Gegenwart und meint auch, den Sinn des Lebens bereits gefunden zu haben, nämlich glücklich zu sein und zu lieben. Er hat einen Freund, den er liebt und von dem er geliebt wird und ist auch noch glücklich mit anderen Freunden und Freundinnen, jetzt sieht er es nur mehr als seine „Pflicht“ an, das weiterhin zu erhalten.

 

5. Carina

Carina ist fünfzehn Jahre alt und lebt gemeinsam mit ihrer Mutter in einem Wiener Außenbezirk. Ihre Eltern sind schon lange geschieden; zum Vater, der wieder verheiratet ist, besteht kaum Kontakt. Ihre um zwei Jahre ältere Schwester (Karin) zog vor einem Jahr zum Vater.

Ihr Auftreten ist überaus selbstbewußt, ihr Erscheinungsbild betont damenhaft und Eleganz versprühend.

Stolz verkündet sie gleich zu Anfang des Gesprächs, daß sie seit zwei Monaten mit ihrem Freund zusammen ist, ihre bisher längste Beziehung.

Carina geht in die fünfte Klasse einer katholischen Privatschule, die sie sich selbst aussuchte. Neben der Schule, die ihren Schilderungen nach bereits sehr anspruchsvoll sein dürfte, nimmt sie zwei Stunden täglich Tanzunterricht, was sie selbst als Training bezeichnet. Außerdem spielt sie Klavier, singt im Schulchor und engagiert sich bei der Jungen ÖVP. Streß ist in ihrem Leben keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel und sie meint auch ganz selbstverständlich, daß man/frau heutzutage nur anerkannt wird, wenn man/frau eine gewisse Leistung bringt. Daß für sie Leistung einen hohen Stellenwert hat, läßt sich auch daran erkennen, daß sie sich bereits jetzt mit ihrer Karriereplanung beschäftigt und ganz genau weiß, daß sie einmal hoch hinaus will, einmal was ganz besonderes machen will. So selbstbewußt, zielsicher und bestimmt sie diesen Weg voranschreitet, so große Angst bereitet es ihr allerdings, möglicherweise nicht das zu finden, was sie will. Der Zugang zu ihrem Traumberuf als Balletttänzerin ist ihr beispielsweise bereits verwehrt, ein bißchen zu spät dran zu sein wurde in diesem Fall mit weitreichenden Konsequenzen „bestraft“.

Angst scheint für sie auch ein Thema in freundschaftlichen Beziehungen zu sein. Salopp meint sie, daß sie nie eine beste Freundin haben wird, weil sie sich selbst die beste Freundin ist und niemand sie hundertprozentig verstehen könne. Genauer nachgefragt zeigt sich jedoch, daß sie schon allein aus Angst, die Freundschaft könnte irgendwann auseinanderbrechen, lieber niemanden beste Freundin nennen möchte.

Überhaupt sollten ihrer Meinung nach die Leute, teilweise auch Freunde und Freundinnen, nicht immer so „penetrant“ auf ihren eigenen Vorteil schauen, weniger verlogen und dafür liebenswürdiger, herzlicher und ehrlicher sein, mehr miteinander reden und sich gegenseitig zuhören.

 

6. Robert

Robert ist siebzehn Jahre alt. Er lebt mit seiner Mutter, Großmutter und seiner jüngeren Schwester in einem großen Gemeindebau in einem Wiener Außenbezirk. Sein Vater kam wegen Drogenhandel ins Gefängnis, als er zwei Jahre alt war, seitdem sah er ihn nie wieder. Die Großeltern waren in seiner Kindheit die primären Bezugspersonen, seine Oma war in dieser Zeit seine Mutter, der Opa sein Vater. Seine Mutter arbeitet als Krankenschwester in einem Krankenhaus.

Robert machte den Hauptschulabschluß und brach dann den polytechnischen Lehrgang ab. Er wollte ganz einfach nicht mehr lernen. Heute bereut er den frühen Abbruch seiner Schulkarriere. Könnte er die Zeit zurückstellen, würde er sich mehr bemühen, auf alle Fälle Matura machen und vielleicht sogar studieren. Er meint, sich diese Zukunftsoptionen bereits „versaut“ zu haben.

Im Moment ist Robert arbeitslos. Den ganzen Tag zu Hause rumzuhängen ist für ihn mehr eine Qual als eine willkommene Entspannung, er meint sogar, sich zu Tode zu langweilen. Weil er zu kurz arbeiten war, bekommt er kein Arbeitslosengeld. Das erste Mal versuchte er es mit einer KFZ-Mechaniker-Lehre, brach sie aber ab, da ihn diese Arbeit nicht interessierte und keinen Spaß machte. Auch der zweite Versuch mit einer Koch/Kellner-Lehre scheiterte. Er bezeichnet sich selbst als Typ, der sich von niemandem was sagen lassen will und nicht gerne herumkommandiert wird. Aufgrund der geringen Chancen, einen neuen Ausbildungsplatz zu bekommen, bereut er inzwischen vor allem den Abbruch der zweiten Lehre. Damals wäre er noch zu unreif gewesen, wenn er jetzt eine Lehre hätte, würde er sich diesen unausweichlichen Autoritätsverhältnissen fügen. Für sein „Scheitern“ fühlt er sich ganz alleine verantwortlich. Im Moment baut er jedoch auf eine andere Option, in zwei Wochen hat er einen Vorstellungstermin bei einer Modellagentur, von der er sich viel verspricht. Wenn das was wird, verdient er so viel Geld, daß er keiner anderen Arbeit mehr nachgehen muß.

Mit seinem Outfit verfolgt Robert einen ganz bestimmten Stil, den Hardcore-Stil. Äußere „Kennzeichen“ sind eine Glatze, Levis-Hosen, Nike-Schuhe und Polo-Shirts, alles sollte Markenware sein. An den Wochenenden trifft man/frau dann ihres-/seinesgleichen auf Hardcore-Festen und tanzt den Hardcore-Tanz zur Hardcore-Musik. Zwischendurch kann es dort schon mal zu einer Schlägerei kommen.

In Bezug auf Frauen ist Aussehen außerordentlich wichtig, mit Kampfgeist konkurriert Robert mit seinen Freunden auch mal um die „Schönere“. Er mag es, wenn andere Männer der Frau an seiner Seite nachschauen. Stolz sagt er sich dann, das ist meine, die gehört mir.

Robert stört es, daß so viele Ausländer und Ausländerinnen in dieses Land gelassen werden.

 

7. Jürgen

Jürgen ist sechzehn Jahre alt. Er wohnt mit seinen Eltern in einem großen Gemeindebau in einem Außenbezirk von Wien. Seine Eltern üben beide ihren Lehrberuf aus.

Nach vier Jahren Gymnasium besuchte Jürgen ein Jahr lang eine höhere technische Lehranstalt. Weil es ihm dort nicht gefiel, brach er die Schule ab und wechselte in einen polytechnischen Lehrgang, den auch die meisten seiner Freunde besuchten. Außerdem erschwerten seine „Lernfaulheit“ und die stark ausgeprägte Prüfungsangst es ihm, die hohen schulischen Leistungsanforderungen zu erfüllen. Anfangs bedauerten seine Eltern diese Entscheidung, in einer abgeschlossenen Schulausbildung sahen sie die Chance, daß es Jürgen im Leben vielleicht einmal leichter haben könnte und er weniger arbeiten müßte als sie selbst.

An die Zeit der Lehrstellensuche erinnert sich Jürgen nicht gerne. Bewerbungen schreiben, Einstellungsgespräche, Prüfungen und Absagen prägten seinen Alltag in dieser Zeit. Um bei einer der größeren Firmen eine Stelle zu bekommen, mußte er sich mit weiteren hundert BewerberInnen messen, nur die Besten haben hier eine Chance. Ohne die Unterstützung seiner Mutter, die mit ihm die ganzen Bewerbungen schrieb und potenzielle Firmen aussuchte, hätte er es nicht geschafft.

Inzwischen ist Jürgen der Sprung ins Arbeitsleben geglückt, er ist im ersten Lehrjahr einer Elektrikerlehre. Obwohl die Arbeit oft sehr anstrengend, stressig und hart ist, macht sie ihm Spaß. Wenn der Streß gar zu groß wird, heißt es: Zähne zusammenbeißen, Augen zu und durch. Außerdem hilft es ihm, ans Wochenende und ans Fortgehen zu denken. Daß im selben Betrieb noch drei weitere Lehrlinge ausgebildet werden, empfindet er als anspornend und motivierend, stolz erklärt er, einer der Besten zu sein. Demotivierend hingegen findet er es, daß viele seiner Freunde in ihrer Arbeitslosigkeit rumhängen und keine Anstalten zeigen, sich ins Arbeitsleben zu begeben.

Die Reize des selbst verdienten eigenen Geldes sollte hat Jürgen jedenfalls bereits entdeckt. Beispielsweise gibt er jetzt schon mal an die zweihundert Euro an einem Wochenende aus. Außerdem legt er auch besonderen Wert auf teure Markenkleidung, die er sich jetzt besser leisten kann.

Einmal in der Woche geht Jürgen ambitioniert ins Fußballtraining, an den Wochenenden gibt es regelmäßig ein Match. Sein Traum wäre, sich vom Nachwuchs zur Kampfmannschaft eines bekannten Wiener Fußballvereins in die Bundesliga zu spielen, einmal bei den Profis dabei zu sein. Daß das Training oftmals hart und auch frustrierend ist, nimmt er in Kauf.

Auch Jürgen stört es besonders, daß so viele Ausländer und Ausländerinnen in dieses Land gelassen werden.

 

8. Philipp

Philipp ist siebzehn Jahre alt. Er wohnt mit seinen Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in Wien. Beide Eltern haben studiert, wobei nur der Vater seinem Beruf nachgeht, die Mutter ist Hausfrau.

Obwohl sich Philipp bezüglich seiner eigenen ästhetischen Bedürfnisse punkto Kleidungsstil von seinen Eltern, besonders vom Vater, oftmals eingeschränkt fühlt, da dieser sich immer wieder in seine Kleidungswahl einmischt, scheint er im großen und ganzen ein recht entspanntes Verhältnis zu den Eltern zu haben. An mehreren Stellen äußert er sich positiv über den materiellen „Luxus“, der ihm zur Verfügung steht, er fühlt sich sehr wohl in der großen Wohnung und schätzt es beispielsweise, daß der Kühlschrank immer voll ist.

Philipp geht in die achte Klasse einer katholischen Privatschule, die er sich selbst aussuchte. Da er als Schüler nicht gerade besonders engagiert und motiviert ist, entspricht er nicht den Leistungserwartungen seiner Eltern, die ihn immer wieder stark unter Druck setzen. Er vermutet sogar, daß er das Ganze besser hinkriegen und sich selbst mehr Druck machen würde, wenn seine Eltern etwas entspannter wären. Kurz vor der Matura stehend ist ihm allerdings bewußt, daß ein gutes Maturazeugnis eine überaus wichtige Grundlage für sein späteres Leben darstellt. Mit diesem Ziel vor Augen versucht er nun, die nächsten Monate durchzubeißen. Ansonsten macht er sich selbst keinen Streß, was seine Zukunft angeht, er hat keine genauen beruflichen Pläne und Ziele und geht das eher gemütlich und zuversichtlich an. Da er nach dem Sommer mit dem Zivildienst beginnen möchte, hat er ohnehin noch etwas Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.

Ein höherer Stellenwert als den schulischen bzw. beruflichen Leistungen kommt dem Aussehen und der Kleidung zu, wobei Philipp in erster Linie darauf konzentriert ist, mit seinem Kleidungsstil herrschende gesellschaftliche Normen und Konventionen zu brechen, mehr Farbe in den grauen und konservativen Alltag „unserer“ Gesellschaft reinzubringen. Dabei findet er es interessant und cool, wenn sich die Leute durch ihre Kleidung voneinander unterscheiden. Gleichzeitig hat er Angst, genauso wie sein Vater, der früher auch einmal ein „Freak“ war, später selbst in dieser „Eintönigkeit“ zu enden.

Was ihn momentan außerdem beschäftigt ist die Liebe, das mit den Mädchen scheint nicht so richtig zu funktionieren. Er und seine zwei besten Freunde würden sich sehr gerne verlieben, doch sind sie alle drei überaus schüchtern. Besonders fürchten sie sich davor, daß ihnen der Gesprächsstoff mit den Mädchen ausgeht. Verstärkt wurde diese Schüchternheit seiner Meinung nach auch dadurch, daß sie eine Zeit lang viel Gras geraucht haben, was die Kommunikation mit den Mädchen noch schwieriger machte. Also versuchen sie jetzt, den Marihuana-Konsum einzuschränken, positive „Ergebnisse“ lassen allerdings noch auf sich warten.

 

9. Kerstin

Kerstin ist neunzehn Jahre alt. Sie wuchs in Vorarlberg auf und verließ ihr Elternhaus vor einem halben Jahr. Seitdem lebt sie in Wien in einer Wohngemeinschaft, gemeinsam mit zwei anderen Leuten.

Ein Kunstgeschichte-Studium wäre zwar Kerstins „Traum-Studium“ gewesen, die schlechten Jobaussichten in dieser Branche hielten sie allerdings davon ab, sich diesen Traum zu erfüllen. Weil sie jedoch keine weiteren beruflichen Perspektiven vor Augen hatte, entschied sie sich nach der Matura dafür, einstweilen arbeiten zu gehen. Einerseits war es ihr wichtig, zuerst einmal auf eigenen Füßen zu stehen bzw. unabhängig zu sein, andererseits sah sie darin die Möglichkeit, herauszufinden, was sie einmal machen will.

Der vierzig Stunden-Job als Verkäuferin in einem Unterwäschegeschäft war schnell gefunden. Die Arbeit war und ist allerdings sehr frustrierend, das Arbeitsklima ist ihrer Meinung nach zu unkollegial und sie fühlt sich inhaltlich zu wenig gefordert. Außerdem leidet sie darunter, so wenig Zeit für sich selber zu haben. Diesbezüglich erreichte sie vor ein paar Wochen den absoluten Tiefpunkt, der sie schließlich dazu brachte, ihre Situation zu verbessern. Nur mehr fünfundzwanzig Wochenstunden sollten ihr es zumindest ermöglichen, mehr Zeit für ihre eigenen Interessen zu haben. Da sie ohnehin nur mehr ein paar Monate dort bleiben möchte, hakt sie die Tage jetzt einfach ab und freut sich auf die freien. Trotzdem ist es ihr wichtig, weiterhin das Beste zu geben.

Leistung zu bringen ist für Kerstin auf jeden Fall wichtig, das war auch schon in der Schule so. Auf der einen Seite erlebt sie diese Eigenschaft als ihrer eigenen Persönlichkeit zugehörig, auf der anderen Seite meint sie, daß ihre Eltern immer gute Leistungen forderten und fordern. Einmal etwas ganz Außergewöhnliches zu machen ist jedenfalls eines ihrer beruflichen Ziele. Daß sie mit diesen hohen Ansprüchen sicher noch öfter in ein paar „Löcher“ fallen wird, wo es ihr nicht so gut geht, nimmt sie in Kauf.

Kerstin hat Angst, Schwächen zu zeigen und anderen Menschen zu vertrauen. Wenn es ihr schlecht geht, müssen auch Vertrauenspersonen erst lange „bohren“, bis sie mit ihrem Problem herausrückt.

In der Zwischenzeit gelang es ihr jedenfalls, ihre beruflichen Pläne zu konkretisieren. Die letzten Monate beschäftigte sie sich immer intensiver mit Fotografie, lernte einige FotografInnen kennen und faßte schön langsam den Entschluß, ab Herbst eine Fotografieschule zu besuchen, vorausgesetzt sie schafft die Aufnahmeprüfung. Um unabhängig zu bleiben möchte sie bis dorthin auf jeden Fall noch weiter arbeiten.

 

10. Michael

Michael ist sechzehn Jahre alt. Seit einem dreiviertel Jahr wohnt er gemeinsam mit seinen Eltern und zwei jüngeren Schwestern in Wien. Vorher lebten sie in Kärnten, bis zu seinem zwölften Lebensjahr in seinem Geburtsort, danach drei Jahre in einer dörflichen Kleinstadt. Dieser Ort ist für ihn vor allem deshalb mit negativen Erfahrungen verbunden, weil er damals ziemlich dick war und von anderen Gleichaltrigen gehänselt und sozial ausgeschlossen wurde. Aufgrund zahlreicher verlorener Kilos ist er mit seiner Figur heute relativ zufrieden.

Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt Michael als offen und ehrlich, gegenseitiges Vertrauen in all seinen Beziehungen spielt für ihn eine große Rolle. Diesbezüglich machte er in Wien bereits mehrere schlechte Erfahrungen und zieht daraus nun deutliche Konsequenzen: blindes Vertrauen bezeichnet er jetzt als naiv, eine gesunde Portion allgemeinen Mißtrauens lautet die neue Devise.

Derzeit geht Michael in ein privates katholisches Gymnasium mit Halbinternat. Die Schule suchte er sich selber aus. Er kommt jeden Tag erst am Abend nach Hause. Vor diesem Schuleintritt war er ein mittelmäßiger bis guter Schüler, jetzt stellen Vierer und vor allem Fünfer keine Ausnahme dar. Das neue Umfeld und andere Aspekte dürften seiner Meinung nach diese vertrackte Lage mitverursacht haben.

Lange wird es Michael dort allerdings nicht mehr aushalten, weniger aufgrund der zahlreichen negativen Noten in seinem Zeugnis als vielmehr aufgrund des dort herrschenden konservativen Klimas. Im Moment werden in der Schule beispielsweise Drogentests durchgeführt. Ein positives Ergebnis führt zu einem sofortigen Schulausschluß, zahlreiche Freunde und Freundinnen von ihm erwischte es bereits. Obwohl er sich selbst gerne dem Marihuana-Konsum zuwendet, steht er nicht im Kreis der Verdächtigen.

Solidarität unter den SchülerInnen scheint seinen Schilderungen nach ein Fremdwort zu sein, jede/r schaut in erster Linie auf sich. Er selbst ist hingegen immer darum bemüht, sich bei beobachteten Ungerechtigkeiten immer auf die Seite der Minderheit zu schlagen.

Ein Schulwechsel im Herbst steht für Michael jedenfalls schon fest. Um sich seine (schulische) Zukunft nicht zu verbauen, möchte er in den nächsten Monaten in erster Linie versuchen, die zahlreichen negativen Noten auf ein Minimum zu reduzieren. Er sieht das sogar als positive Herausforderung, Spaßverzicht und Zähne zusammenbeißen wird er dafür in Kauf nehmen müssen. Überhaupt betrachtet er diese ganze Schulgeschichte als Herausforderung und meint, über jede auch noch so negative Erfahrung deshalb froh zu sein, da er daraus ja nur was lernen könne. Wenn er dieselbe Entscheidung noch einmal treffen müßte, würde er alles wieder gleich machen. Zu versuchen, es sich etwas leichter zu machen, erscheint in seinen Augen nicht sonderlich reizvoll.

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