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Der Anschlag des Bösen

von Daniel Sanin (2001)

[siehe dazu im Anschluss: Stellungnahme zu mir selbst zu "Der Anschlag des Bösen"]

Der Anschlag auf das World Trade Center (WTC) und das Pentagon in den USA von letztem Dienstag, 11. September 2001, war eine Attacke des Bösen auf das Reine, die Freiheit: „Freedom itself was attacked today“, sagte US–Präsident George W. Bush dazu. Dieser Angriff darf nicht toleriert werden, denn er ist eine Bedrohung all dessen was der Fortschritt ‘uns’ bisher beschert hat. Es darf kein Zweifel daran bestehen, wer in diesem Konflikt die Guten und wer die Bösen sind. Da ‘wir’ in der zivilisierten Welt leben, ist die Zuteilung zu diesen beiden Kategorien kein Problem. Der Orient, der Islam wird dämonisiert: Es handelt sich dabei anscheinend um eine Kultur oder Religion, die das Böse in sich trägt und nur langsam durch den Kreuzzug der Zivilisation verändert, also angepasst werden kann. Bis dahin stellt dieser ferne Raum latent oder manifest eine Bedrohung dar. Die Frage nach den Hintergründen des Anschlages braucht nicht gestellt zu werden, da die Erklärung des Bösen ausreicht. Unterdrückung, Kolonisierung, Ausbeutung brauchen nicht thematisiert zu werden. Das Böse ist von Natur aus böse, also muss mann es zerstören, da kann mann leider nichts dran ändern. Osama Bin Laden ist der dunkle Dämon, der plötzlich aus dem Schatten tritt, dessen Vergangenheit im Dunkeln liegt, denn trotz allem biographischen Wissen ist seine Boshaftigkeit unerklärlich — sie muss ihm innewohnend sein, sie hat keine Ursache, nur ein Ziel: Die Zerstörung des Guten, der Freiheit, der Demokratie, anscheinend Kategorien, die in ihrer reinsten Ausprägung in den USA vorkommen, deshalb wurden sie auch dort angegriffen.

Der transnationale Schulterschluss der Guten

Demokratie, Freiheit und das Gute gibt es aber auch in Europa, zwar nicht so unverfälscht wie in den Vereinigten Staaten, aber doch. Aus diesem Grund mussten ‘wir’ uns natürlich mit den eindeutigen Opfern dieses infamen, hinterhältigen Anschlages solidarisieren und gemeinsam aufschreien. Alle Völker des Westens stehen geschlossen hinter den USA, so wurde es ‘uns’ via Medien mitgeteilt. Wer bei den Schweigeminuten nicht mitmacht, ist unbelehrbar, vielleicht schlummert auch in ihr oder ihm etwas von dem infamen Bösen. Die USA sind das Opfer und diese Tatsache trifft Europa wie ein Messer in den Rücken. Trotz aller Skepsis und Belächelung der überseeischen Macht und ihres aktuellen Präsidenten macht es ‘uns’ angst, mit welcher Wucht diese Kultur, die ja nichts Böses in sich trägt, derart hinterrücks ins Mark getroffen wurde. Zum Glück für ‘uns’ sind sie so gut, dass es sie getroffen hat und nicht uns, die wir anscheinend an ihren Reinheitsgrad nicht heranlangen. Betroffenheit macht sich breit: Wenn dieser große Bruder, von dem mann/frau gewohnt ist, dass er eineN beschützt, so schwer getroffen werden kann, wie sieht es erst dann aus, wenn ‘wir’ getroffen werden? Die USA sind sich ihrer Verantwortung wohl bewusst, denn schon arbeiten sie fieberhaft daran, ihre Stärke zu reinstallieren, zu beweisen, dass das Gute immer stärker sein wird als das Böse. Europa atmet auf, der muskelstrotzende Bodybuilder schlägt zurück. Die Wut, in die das Gute anscheinend verfallen kann, macht aber doch etwas angst, der dritte Weltkrieg zieht über unsere Köpfe. Aber was will mann/frau machen? Kann mann/frau das Gute denn einhalten? Es geht doch schließlich um Gerechtigkeit.

Die bedrohte Zivilisation

Nein, es geht um mehr als Gerechtigkeit: eine Welt muss verteidigt werden gegen eine andere Welt. Huntingtons Clash of Civilisations ist schon Wirklichkeit geworden. Seine Thesen sind goldrichtig, aber nicht weil ihnen so etwas wie Wahrheit zu Grunde liegen würde, sondern weil er selbst ein Repräsentant des Guten ist und es deshalb besser kennt als jeglicheR europäischeR SkeptikerIn, die oder der behauptet, ja so könne mann/frau das doch nicht sagen und Kulturen wären ja nicht homogen, etc. Blödsinn! Kulturen sind homogen, das ist doch nun augenscheinlich: Gut gegen Böse, bist du nicht für uns, bist du gegen uns und damit vor unserer Rache ebenfalls nicht sicher. Diese bestechende und verführerische Dichotomie bildet das Korsett, in dem die aktuellen öffentlichen Gedanken kreisen. Unsere Zivilisation, unser Fortschritt ist in Gefahr, jemand will uns auf unserem Weg in eine gerechte Gesellschaft, in der es allen gut geht, behindern. Wer dieses Ziel verfolgt, kann nur böse sein, oder?

Stimmen aus dem Off

Andere Versionen der ganzen Geschichte sind nicht erwünscht. Bei einem der runden Tische im ORF war Johan Galtung eingeladen, ein renommierter Friedensforscher. Es war verblüffend, wie keiner der andern Diskutanden (ausschließlich Männer) auch nur ansatzweise zu verstehen schien, worum es Galtung ging. Seine zentrale Frage war eigentlich ziemlich einfach: Warum waren die USA Ziel eines derartigen Anschlages? Er wollte die Frage jedoch jenseits der Gut/Böse–Schere beantworten, also musste er auf Strukturen aufmerksam machen, die unserer ‘Zivilisation’ innewohnen: Ausbeutung, Unterdrückung, Welthunger, gepaart mit Arroganz. Ist es nicht so, dass die sogenannte dritte Welt noch immer unter den Folgen der Kolonialisierung zu leiden hat? Ist es nicht so, dass die kapitalistische Weltwirtschaft jeglichen Preisvorteil nutzt, arme Länder ausbeutet und überhaupt kein Interesse hat, dass sich daran etwas ändert? Ist es nicht so, dass sich ‘der Westen’, allen voran die USA, aus eigenen Interessen, seien sie wirtschaftlich, geopolitisch oder wegen des ‘humanitären Prestiges’ (Kuweit, Ex–Jugoslawien, etc.) in Konflikte einmischen, sie prägen und bestimmen ohne dass vorher genug unternommen worden wäre, um es gar nicht so weit kommen zu lassen?

Die Unzahl an Menschen, die täglich an der Ungerechtigkeit der westlichen Weltherrschaft verrecken, ist nicht imstande, ein Gegengewicht zu einigen Tausend guten AmerikanerInnen zu schaffen. Das eine Leben ist eben nicht so viel wert wie das andere. Die westliche zivilisatorische Logik offenbart im Kapitalismus ihre wahre Gestalt: Wir sind zwar im Prinzip alle ersetzbar, aber manche müssen gar nicht ersetzt werden, denn sie wurden nie gebraucht. Deshalb sind sie uns auch keine Träne wert.

 

Stellungnahme zu mir selbst zu "Der Anschlag des Bösen" [top]

(2005)

Tja, es ist durchaus interessant, einen eigenen Text nach einigen Jahren wieder zu lesen und sich einerseits doch noch und andererseits nicht mehr darin wieder zu erkennen oder zu finden.

Der Impetus des links stehenden Artikels ist antiimperialistisch, ein Impetus der an sich, originär, ja nichts schlechtes meint, sondern das Aufbegehren gegen Herrschaft, gegen Imperialismus, gegen das ungerechtfertigte und gewaltsame Eindringen in schon belebte Räume, um diese zu unterwerfen und auszubeuten.

Was ich damals allerdings noch nicht reflektiert hatte, war der Antisemitismus, der in den meisten antiimperialistischen Diskursen mitschwingt, so wohl auch in meinem.

Die Kritik, die ich mein(t)e, findet sich in diesem Anschlag gar nicht wieder. Es ist ein blind-zerstörerischer Akt, der darauf abzielt, so viele Menschen wie möglich in den Tod zu reissen. Es ist keine Guerrillataktik, die irgendeiner militärischen Logik folgen würde, sondern Vernichtungswille. Die zu vernichtenden Menschen stehen für das Böse, für das Elend.

Die Diskurse sind für beide Ebenen, hier "die" "amerikanische", dort die islamistische, recht ähnlich, da sie mit verabsolutierten Dualismen arbeiten.

Der islamistische Stanpunkt ist jedoch strukturell und manifest antisemitisch.

Strukturell, da den islamistischen Anschlägen eben dieser Vernichtungswille innewohnt, wie wir ihn aus der Zeit des NS kennen: Ein Jude kann nicht gut sein, egal wie er sich verhält, da er das Böse und Schlechte in sich trägt. Daher muss jeder Jude und jede Jüdin vernichtet werden. Genau das finden wir heute bei den - gerade von "der" Linken, wie auch der restlichen, in diesem Punkt oft schauerlich geschlossenen Gesellschaft, oft glorifizierten - palästinensischen Selbstmordattentaten. Es geht nicht darum, Israel als Staat militärisch zu treffen, sondern so viele Jüdinnen und Juden wie möglich zu töten.

Und manifest, da ja in islamistischen Positionen explizit eine zionistische Weltverschwörung benannt wird. Die USA sind somit in der Hand "der Juden", die natürlich die Weltherrschaft anstreben.

Hinter diesen Attacken auf das WTC, den palästinensischen Selbstmordattentaten, sowie den verschiedenen anderen inzwischen erfolgten terroristischen Aktionen (Madrid 2004, London 2005, im Irak täglich etc.) steht somit nichts Emanzipatorisches, sondern ganz im Gegenteil etwas zutiefst Reaktionäres, eine rückschrittliche, lebens- und lustfeindliche, frauenfeindliche und fundamentalistische Haltung.

Diese Tendenzen können zwar als Widerstand bezeichnet werden, allerdings nicht im Zeichen von einem Streben nach Offenheit und Freiheit von Herrschaft, sondern in dessen Gegenteil.

Eine Solidarisierung mit diesen islamistischen Strömungen und ihren Aktionen hat somit nichts mit einem Kampf gegen herrschende Verhältnissen zu tun, sondern mit ihrer Beschleunigung.

Der Kapitalismus lacht sich dabei ins Fäustchen.

Die Falschheit des Ganzen kann durch diese Brille nicht betrachtet werden

 

 

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Impressum: Initiative kritische Psychologie Wien/Daniel Sanin