von Daniel Sanin
(etwas gekürzt erschienen in Malmoe #60, September 2012)
Laut ICD-10, dem Klassifikationssystem
für Krankeiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Sucht
(präzise: Abhängigkeitssyndrom) eine Erkrankung, die durch
Konsumzwang, Kontrollverlust, Toleranzbildung, Entzugssymptomatiken,
Konsumfixierung (i.S.v. Vernachlässigung anderer Tätigkeiten), auch
bzw. trotz sicht-/spürbar negativer Folgen, definiert wird.
Menschen in verschiedenen Lebenslagen
und Positionen (Expert_innen, Betroffene, Interessierte, Unbeteiligte
etc.) haben so die Möglichkeit, Verhaltensweisen auf eine ganz
bestimmte Art einzuordnen, scheinbar unerklärliches, „irrationales“
Tun Einzelner wird so „verständlich“ und einordenbar. Da es sich
bei diesem Tun noch dazu um den Ausdruck einer „Erkrankung“
handelt, besteht zusätzlich noch ein Handlungsimperativ, nämlich
„heilend“ zu intervenieren.
Dazu muss den Identifizierten ihre neue
Identität erst mal nahegebracht werden („Verleugnung“ dieser
„Wahrheit“ gehört dann zum Erscheinungsbild der „Krankheit“).
Sobald jedoch das Bekenntnis abgelegt ist, kann eine Behandlung
beginnen. Bei Konsument_innen von Opiaten (z.B. Heroin) wird in Wien
danach getrachtet, diese in das vorherrschende Behandlungsmodell der
Substitutionsvergabe zu bringen. Anstatt sich gestrecktes bzw.
verunreinigtes Heroin vom Schwarzmarkt zu besorgen, bekommen die
Konsument_innen „Drogenersatzstoffe“, welche im Endeffekt nur von
der Pharmaindustrie produzierte und gutes Geld einbringende
Ersatzdrogen sind, deren gewichtiger Vorteil ihre Legalität ist (was
unter prohibitionistischen Rahmenbedingungen lebensrettend sein kann
und durchaus als Errungenschaft zu bezeichnen ist), während sie
ansonsten teilweise unangenehmere Nebeneffekte als Morphium, Heroin
oder Opium haben und effektärmer als diese sind. D.h.
Entzugserscheinungen sollen vermieden werden und der Kick soll
möglichst entfallen.
Während ersteres durchaus sinnvoll ist
und sachlich begründbar, ist letzteres rein moralisch zu
legitimieren: Der (Opiat-)Rausch ist nicht erwünscht! Der
Opiatrausch beispielsweise, so die etablierte Erzählung, hüllt die
Konsument_innen in wohlige Wärme, in eine wattige Distanz zum Alltag
und lässt Schmerzen verschwinden. Er gilt als vereinzelnd, im
Gegensatz beispielsweise zum kollektiven Trinken oder dem
Herumreichen eines Joints. Die dazugehörigen Bilder sind die des
Junkies in der leeren Wohnung oder auf der öffentlichen Toilette,
wohingegen z.B. eine Gruppe von Leuten, die im Opiatrausch gut essen
geht, um dem Mahl noch höheren Gewinn abzuringen (wie durch einen
guten Tropfen), unwahrscheinlich erscheint. Das ist jedoch nur EIN
Beispiel von vielen, die Zinberg in seinem Klassiker „Drug, Set,
and Setting“ anführt (1984, S.124ff.). Das macht deutlich – wie
im übrigen viele Placeboexperimente – dass die Erwartungshaltung,
in welche auch kulturelle Bilder und Vorurteile einfließen, einen
zentralen Stellenwert für das Rauscherleben selbst hat, egal ob je
ich es selbst erlebe oder es nur als kulturelles Phänomen bzw. als
Erzählung kenne.
Für die ICD-Diagnose standen Alkohol
UND Heroin Pate, was weitreichende Konsequenzen mit sich führt, die
sich auf den klinischen und rechtlichen Umgang mit allen Substanzen
auswirken. Die Annahme der Kompatibilität mit der kapitalistischen
Funktionsweise der Subjekte z.B. scheint de facto nur für den
Alkohol zu gelten, der legalisiert ist. Das mag u.a. historische
Gründe haben, schließlich ist der vergorene Alkohol schon seit
Menschengedenken hierzulande bekannt und tief in Kultur und Alltag
und deren Rituale integriert, wenn nicht sogar deren integraler
Bestandteil. Opium hingegen hat außerhalb der Heilkunde in Europa
eine weit kürzere Geschichte (ca. 17 Jhdt.) und so gut wie keinen
Anknüfungspunkt an zentrale religiöse und kulturelle
Ursprungsmythen (Blut in Opium verwandeln klingt doch einigermaßen
befremdlich). Ledigleich Kenner_innen der griechischen Mythologie
wissen, dass der Wohnsitz des Morpheus vor den Toren zur Unterwelt
umgeben war von üppigen Mohnpflanzen (cf. Rausch & Risiko II,
S.650).
Ein weiterer Grund mag wohl im
Rauscherleben selbst liegen: während Alkohol abstumpft, distanziert
das Opium ohne zu vernebeln. Im Opiumrausch ist die Lächerlichkeit
des kapitalistischen Arrangements mit seinem Fetisch Geld und dessen
„Kindern“ Kapital, Lohnarbeit, Wachstum und Nationalstaat evtl.
leichter zu erkennen als im Alkoholrausch (womit nicht gemeint ist,
dass Opium/Opiate revolutionäre Substanzen wären). Worauf ich
hinauswill ist, dass der Status einer Substanz in unserer
Gesellschaft in der Regel weniger sachliche, wissenschaftliche
Grundlagen hat, sondern mehr kulturell-moralische.
Während nämlich bei der weit
verbreiteten und kulturell-religiösen Substanz Alkohol sehr wohl
zwischen Genuss, Rausch, Trunkenheit und Alkoholismus unterschieden
wird, sei es in der Bevölkerung wie – mit anderen Termini – in
der Fachwelt, ist eine analoge Beurteilung für Substanzen wie
Cannabis, MDMA, Opiate, Kokain etc. kein Thema. Hier ist es eher so,
dass bestimmte Konsummuster von einer bestimmten Art von
Konsument_innen, also der unkontrollierte, selbstzerstörerische,
elende Konsum von Opiaten – meist gemischt mit anderen Substanzen
(Tabletten, Alkohol, Kokain, Cannabis), de facto auf die gesamte
Palette von Konsummustern und Konsument_innen ausgebreitet wird. Das
vorherrschende Bild einer/eines Opiatkonsumierenden ist somit jenes
des Junkies. Dass jemand Opiatkonsum kontrolliert und genießerisch
betreibt, scheint daneben undenkbar.
Da sich Opiate und Opioide anstelle
körpereigener Stoffe (Opioidpeptide) an die entsprechenden
Rezeptoren binden, kommt es nach regelmäßigem, kurz
aufeinanderfolgendem Konsum bei Absetzen zu Entzugserscheinungen. Die
Gefahr von Entzugserscheinungen ist seit jeher bekannt. In Kulturen,
die den Schlafmohn jedoch kulturell-religiös integriert haben, wie
z.B. die persische, gibt es eine ebensolange Geschichte des Genusses,
des kultischen Rituals und der Erkenntnisgewinnung. In unseren
Breitengraden ist die Tendenz eher in Richtung Rausch- und
Genussfeindlichkeit: DrogenGEbrauch ist DrogenMISSbrauch, Cannabis
ist eine „Einstiegsdroge“, jeglicher Heroinkonsum führt zu
Abhängigkeit, Nikotin ist vom „Suchtpotential“ dem Heroin gleich
etc. Über unser gesamtes Spektrum von Substanzkonsum wird ein
klinisches Raster gelegt, anhand dessen Konsummuster beurteilt und
eingeteilt werden. Das medizinische Modell zur Konsumbeurteilung
steht somit, ebenso wie das juristische und andere, auf kulturellen
und moralischen Fundamenten. Der klinische Blick definiert bestimmte
Konsummuster als pathologische und unterteilt diese in riskante,
gesundheitsschädliche, abhängige etc.
Anhand dieser Schablone wird die
Bevölkerung in ihrem Konsum und ihren Substanzen monitoriert. In der
Allgmeinbevölkerung ist das Unterscheidungsraster meist
weitmaschiger gehalten und es wird gefühlsmäßig zwischen süchtig
und nicht-süchtig unterschieden, anhand eines
Allgmeinverständnisses. Demgemäß wird von Sexsucht, Arbeitssucht,
Schokoladensucht, Zuckersucht usw. gesprochen. Der
Psychoratgebermarkt reagiert prompt und wirft die entsprechenden
„Sachbücher“ hinterher, die den Menschen die Selbsteinteilung in
das Normdenken erleichtern.
Ein erster Schritt, der in der
subjektwissenschaftlichen kritischen Psychologie gesetzt wird, ist
die Funktionskritik von Begriffen: Begriffe werden nicht als
Wahrheiten betrachtet, sondern als Konstrukte, die im
gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang, also unter widersprüchlichen,
antagonistischen kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen,
bestimmte Aufgaben erfüllen.
Für den Begriffskomplex
Sucht/Abhängigkeit wäre die Hauptaufgabe somit die Bereitstellung
der prinzipiellen Dichotomie gesund/krank. Innerhalb dieser Pole
erfolgen dann selbständige und fremdbestimmte Einteilungen in
Subkategorien. Die Frage nach dem subjektiven Sinn von Substanzkonsum
wird mittels dieser Einteilung sekundär bis obsolet: Sekundär,
solange der Konsum nicht stört, obsolet, sobald er pathologisiert
wird, denn dann hat ja die „Krankheit“ das Ruder übernommen und
um den Sinn braucht sich niemand mehr kümmern. Der Mensch ist jedoch
ein Kulturgeschöpf und so sind es auch seine Begriffe, Symbole und
sonstigen Produkte, samt der Hierarchien und Machtverhältnisse, in
welchen sie ihre Funktionen realisieren. Es gibt nichts am Menschen,
das „natürlich“ – i.S.v. a-gesellschaftlich – wäre; selbst
scheinbar rein biologische Vorgänge wie Stuhlgang oder Schmerzen
sind kulturell geprägt in der Art, wie über sie gedacht und
empfunden wird und wie sie wahrgenommen werden. Auch Gefühle sind
somit nicht etwas, dasa aus einem „natürlichen“,
a-gesellschaftlichen Kern in meinem Inneren entspringt, sondern sind
Bewertungen meiner Situation in der Gesellschaft, zu welchen ich mich
verhalten kann. Aus der subjektiven Position heraus ist somit jede
Handlung sinnvoll. Nur wenn ich die Verständigung über die
Prämissen der Handlungsbegründungen der/des anderen aufgebe oder
abschneide, bleibt mir nicht viel übrig, als das Verhalten als
irrational, krank, gestört zu bezeichnen.
Wo früher im Devianzdiskurs die
Unerwünschtheit süchtigen Verhaltens eingegrenzt war auf
illegalisierte Substanzen und ausschließlich polizeilich und
strafrechtlich verfolgt wurde, hat sich mit der „pathologischen
Wende“ die „Suchtgefahr“ auf die gesamte Bevölkerung und alle
Verhaltensweisen ausgeweitet. Der Preis für die
(Pseudo-)Entkriminalisierung des illegalisierten Rausches ist die
potentielle Pathologisierung jeglicher Ekstase, jeglichen Rausches
und Exzesses.