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von Daniel Sanin
(Seminararbeit Wien, 12. 3. 1999)
Zu Neill’s Buch “Theorie und
Praxis der antiautoritären Erziehung” ist zu sagen,
daß es erzählend gestaltet ist. Es ist kein
wissenschaftlicher Bericht und auch keine systematische
Datensammlung. Es ist der Rückblick auf Jahrzehnte von
Erfahrungen mit Kindern, die sich in der freien Umgebung
dieses Mannes entfalten durften. Von der Herangehensweise
meinerseits stellte diese Erzählform ausgehend von
bestimmten Kriterien ein gewisses methodologisches
Problem dar, da ich nicht auf Theorien zurückgreifen
konnte, die Neill entwickelt hatte, sondern nur auf seine
Beobachtungen. Das mag bestimmte WissenschaftlerInnen
abschrecken, aber ich gebe zu bedenken, daß wir es hier
mit einem Mann zu tun haben, der auf sein Lebenswerk und
somit auf eine unglaubliche Fülle von Beobachtungen zurückblicken
kann. Die Frage, die sich nun stellt, ist die, ob man das
gelten läßt, oder sein Werk in den Außenraum der
Unwissenschaftlichkeit verbannt (wie es ihm bis heute
wiederfahren ist). Ich stelle mich hiergegen, da in den
Wissenschaften ja die Objektivität selbst lediglich als
Idealbild existiert (wie auch schon —und nicht nur—
aus dem zweiten in dieser Arbeit hauptsächlich
behandelten Buch “Die gesellschaftliche Konstruktion
der Wirklichkeit” von Berger & Luckmann deutlich
erkennbar geworden sein müsste) und wenn schon in ihrer
Relativität einbezogen werden muß oder so zumindest als
Abwehrargument gegen sogenannte ‘unobjektive’
Wissenschaft keine Gültigkeit mehr besitzt. Die sich nun
bei vielen wahrscheinlich regende Befürchtung, dann sei
ja qualitativ minderwertigen Arbeiten Tür und Tor geöffnet,
ist wohl berechtigt, aber nicht von dieser Argumentation
beabsichtigt. Die Qualität ist eine subjektive
Angelegenheit der WissenschaftlerInnen (jede/r hat ihren/seinen
Ansprüchen zu genügen) und die Reaktionen auf ihre
Forschungen werden sie belohnen oder nicht. Es handelt
sich aber bei der ablehnenden Haltung der etablierten
Wissenschaft (besonders in der Psychologie und besonders
bei uns in Wien) gegenüber kritischer Strömungen um ein
Außerachtlassen von einsehbaren und stichhaltigen
Argumenten, was genau genommen unwissenschaftlich ist.
Ich plädiere konsequent nach der
ausgebreiteten Argumentation somit für die Akzeptanz der
narrativen Hinterlassenschaft Neill’s als zulässige
Quelle und ebensolches Material. Das einzige (durch Mühe
lösbare Problem) liegt in seiner Ungeordnetheit.
Ich versuche in diesen hier ausgeführten
Überlegungen, unsere normale allgemeine
Schulsozialisation mit jener der SchülerInnen
Summerhills zu vergleichen, um Unterschiede in der Art
des Umgangs mit Kindern herauszuarbeiten und auch
weitreichendere Konsequenzen für die Erwachsenenwelt
aufzuzeigen.
Summerhill ist der Name einer
Internatsschule, die von A.S. Neill (und nicht O'Neill,
wie es sogar in universitären Pädagogikskripten oft fälschlicherweise
steht) 1921 gegründet wurde. Neill ist ebenfalls Begründer
der berühmt-berüchtigten antiautoritären Erziehung,
die in der breiten Vorstellung unter Erziehung der Zügellosigkeit
oder in der Entwicklungspsychologie unter 'laisser faire'-Stil
gehandelt wird. Das ist schlichtweg falsch und wohl auf
den mißbräuchlichen Umgang mit Neill's Konzepten in den
60er und 70er Jahren zurückzuführen. Ein weiteres
Handicap stellt die Tatsache dar, daß es sich bei Neill
um keinen Wissenschaftler handelt und er wohl auch aus
diesem Grund in Pädagogik und Psychologie vernachlässigt
wird. Dabei kann es sich aber nach meiner Einschätzung
nur um eine Ursache in Alibifunktion handeln, da es ja
andere wichtige PädagogInnen und
EntwicklungspsychologInnen gegeben hat, die auch nicht
systematisch in ihrer Arbeit vorgingen (man denke nur an
Rousseau). Den wirklichen Grund vermute ich in der
Revolutionarität von Neill's Aussagen und Theorien, die
auf viele tradierte Annahme-(provokant: Glaubens-)systeme
bedrohlich wirkt und daher abgewehrt werden muß.
Da wir ja in einem Land leben, in dem
Schulpflicht herrscht und in dem man also bei Weigerung,
sein Kind in eine Schule zu schicken mit unangenehmen
Folgen zu rechnen hat (auch von sozialer Seite her, wie z.B
Ausgrenzung, sozialer Druck, Isolation u.ä.) haben wir
alle zwangsläufig unsere Schulkarriere hinter uns. Da
der Mensch ein wissensdurstiges Wesen ist, das sich seine
Umwelt durch aktives Auseinandersetzen und Lernen
aneignet und gleichzeitig auch starke sozial-emotionale
Bedürfnisse hat [1] die er versucht zu befriedigen, scheint es
mir wichtig, diese zweite Komponente, die in der
bisherigen Forschung eher vernachlässigt wurde, in ihrer
Relevanz zu betonen. Ich meine damit, daß die emotionale
Wichtigkeit der Lehrerinnen und der Schule für die
Psyche des Kindes als Forschungsgegenstand vernachlässigt
wurde und wird. Wenn ich mich selbst zurückerinnere an
meine Kindheit und Schulzeit, kann ich in bezug auf
einzelne LehrerInnen noch durchaus —meist negative—
starke Gefühle verspüren. Ich denke, daß es jedem von
uns —in unterschiedlichem Ausmaß, natürlich—
so geht. Sollte es uns nicht zu denken geben, daß es
kaum Kinder gibt, die gerne in die Schule gehen? Beinahe
jedes Kind freut sich am Anfang darauf — schon nach
ein paar Wochen ist davon oft nichts mehr zu spüren.
Faulheit und Desinteresse sind keine Eigenschaften, die
das Kind ursprünglich besitzt — sie sind Reaktionen
auf Umstände. Natürliche Impulse wie Neugier,
Wissensdurst, der Drang, alles verstehen zu wollen,
spielerisch zu lernen etc. werden in der Schule
systematisch unterdrückt.
Das in unserer Gesellschaft unumgängliche
individuelle Quantum an Frustrationen, sei es in der
Phase des Heranwachsens wie auch im erwerbstätigen
Erwachsenenleben, muß doch irgendwelche Folgen auf unser
Handeln und unser Erleben haben und eben solche Bereiche
unserer Existenz will ich hier aufzeigen und diskutieren.
Die Wissenschaft versteckt sich meistens
hinter dem Schlagwort der Objektivität. Was aber
konnektieren wir damit? Wohl: allgemeine Gültigkeit,
Wahrheit, Wirklichkeit. Diese Wahrheit wird aber von
Subjekten gemacht, aus ihrer eigenen Subjektivität
heraus. Woher nehmen sie dann diese Objektivität? Berger
& Luckmann (1980) zeigen sehr klar die Relativität
der jeweiligen Gesellschaftsform und damit ihrer
Legitimationssysteme auf. Das Leben in einer Gesellschaft
richtet sich für die in ihr lebenden Subjekte nach zu
Realität gewordenen Vorstellungen, es geschieht in einer
'symbolischen Sinnwelt' [2]. Diese
Sinnwelten haben ihre eigenen 'Stützkonzeptionen' und
als besonders markante heben die Autoren die Mythologie,
die Theologie, die Philosophie und eben die Wissenschaft
hervor. Damit relativiert sich die Objektivität der Stützwelt
mit der Relativität der symbolischen Sinnwelt, die ihre
Grundlage darstellt. Mir fallen auf der Stelle mindestens
drei mir bekannte Wissenschaftler in meinem näheren
Umfeld ein, die bei diesen Behauptungen zumindest die
Nase rümpfen würden, wenn sie nicht sogar lauthals
protestierten, aber seit Einstein ist ja sogar die Parade-Wissenschaftsdisziplin
in puncto Objektivität, die Physik, von Relativität
durchdrungen, wie sollte es dann in einem Bereich, der
als Forschungsgegenstand das Erleben und Verhalten des
Menschen [3] hat, anders, geschweige denn 'besser'
sein? "Jede Perspektive mit all ihrem Zubehör an
Theorien oder gar Weltanschauungen ist aufs Engste verknüpft
mit handfesten Interessen ihrer Trägergruppe." (Berger
& Luckmann, 1980) Das nur in Richtung von
KritikerInnen qualitativer Forschungsansätze.
Die Analyseinstrumente, bzw. die Kategorien
und Theorien für mein Vorhaben entnehme ich
weitestgehend dem Werk "Die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit" der eben zitierten
Autoren.
Zunächst soll kurz geklärt werden, was
Sozialisation hier bedeutet, nämlich das Hineinwachsen
von Individuen in die sie umgebende Gesellschaft. Wir
kommen ja nicht schon eingeweiht (in die Regeln und Übereinkünfte
des zugehörigen Systems) auf die Welt, sondern als
unbeschriebenes Blatt (weitestgehend; Berger &
Luckmann [1977] merken an, daß der Mensch wohl eine
Disposition als gesellschaftliches Wesen mitbringe bzw.
eine für Gesellschaft). Über die Identifikation mit den
Eltern bis zur Ausbildung der eigenen Identität lernen
wir alles Wichtige, das es zu wissen gilt, aber mehr als
das ist die Bildung unserer Identität (in der Form wie
wir sie kennen) ausschließlich erst durch die Teilhabe (seit
Kindesbeinen an) an der Gesellschaft möglich. Die
gesellschaftliche Wirklichkeit und somit auch all ihre
bestehenden Normen und Regeln werden vom ersten Moment
des Eintretens in diese übernommen und internalisiert.
Unser Geist, unsere Art zu denken, unsere Interessen sind
alle Produkte der menschlichen Gemeinschaft. "Gesellschaft,
Identität und Wirklichkeit sind subjektiv die
Kristallisation eines einzigen Internalisierungsprozesses."
(ebenda, S. 144) Genauer betrachtet handelt es sich um
einen aktiven Vorgang des Handelns (zur 'Theorie des
symbolischen Interaktionismus' siehe: Mead, 1973), um
aktives Auskundschaften, Kennenlernen, Reagieren,
Annehmen, Rebellieren (Sozialisation ist ja nicht nur
angenehm, denn sie schränkt ja auch ein, stülpt einer/m
Gesetze und somit Pflichten über) und nicht um simples
Lernen bzw. Aufnehmen und dementsprechendes Handeln, wie
es oft in der Psychologie und der Sozialpsychologie
postuliert wird (wie am bekannten Beispiel des
Behaviourismus nachvollziehbar).
Berger und Luckmann (op.cit.) nehmen des
Weiteren eine nützliche Differenzierung vor zwischen der
Sozialisation, die uns als Menschen bildet und jener im
kleineren Rahmen, die uns in spezifische Wissensgebiete,
sowie Funktions- und Sinnabläufe von Institutionen
einweist; es sind dies Respektive die primäre und die
sekundäre Sozialisation. Wobei hier zu bemerken ist, daß
im Falle der Schulen für Kleinkinder diese beiden
Begriffe etwas verschwimmen, da die primäre Ebene der
Menschwerdung als gesellschaftliches Wesen mit der
zweiten, der Einweisungsebene in Institutionen, simultan
oder zumindest ständig abwechselnd, passiert.
In den hier auszubreitenden Überlegungen
soll die Aufmerksamkeit auf die Institution Schule und
die Interaktion mit ihr seitens SchülerInnen (als dort
Hineinwachsende) und Lehrenden (als dieses Wachstum
Steuernde und Überwachende) fokussiert werden. Daher ist
zu Anfang erst einmal abzuklären, was 'Institution' überhaupt
bedeutet. Im Lateinischen steht 'institutio' für
'Einrichtung', 'Unterweisung', was beides schlichtweg
genau das ausdrückt, was es für uns auszubreiten gilt.
Mead (op.cit.) sieht den ersten Schritt,
der zu einer Institutionalisierung führt, in der
Vereinheitlichung von Handlungsmustern gegenüber
bestimmten Situationen. Reaktionsmuster und -abfolgen
werden im jeweiligen Sinne der sich entwickelnden bzw.
entwickelten Institution geeicht. Die ganze Gemeinschaft
oder der betroffene —sich als solcher empfindende—
Teil davon reagieren in einer geeigneten Situation, das
ist eine solche, die das Handeln der Einrichtung
entsprechend ihrer Funktion (d.h. Zielsetzung und ihrem
Sinngefüge) erfordert, gegenüber dem Einzelnen, der ihr
Eingreifen nötig macht oder sich (z.B. zwecks
Dienstleistung) an sie wendet, auf vereinheitlichte Weise.
Daraus ist erkennbar, daß der Begriff der Institution
weiter gefaßt werden muß, als man es umgangssprachlich
gewohnt ist: Nämlich als Übereinkunft (dieser Begriff
ist aber nicht ganz passend, da er das Einverständnis
aller miteinschließt, welches aber sicherlich nicht
einfach vorausgesetzt werden kann), in einer bestimmten
Weise auf bestimmte Gegebenheiten zu reagieren. "Institutionalisierung
findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch
Typen von Handelnden reziprok typisiert werden." (Berger
und Luckmann, op.cit., S.58) Damit ist gemeint, daß
—in vorinstitutionalisierten Zuständen—
Menschen in ihren sich wiederholenden Handlungen einer
Gewöhnung unterliegen, welche die Handlungen im Großen
und Ganzen immer gleich ausschauen läßt und dem
handelnden Subjekt aus der Sicht eines Betrachters eine
Eigenart (im Umgang mit der entsprechenden Situation)
aufdrückt. Der nächste Schritt ist, daß von diesem
eingewöhnten Handlungsablauf (der ursprünglich der
Zeitersparnis dient) nicht mehr abgewichen wird und zusätzlich
nicht mehr abgewichen werden darf. Letzteres ist schon
eine Vorstufe zur Institutionalisierung — es fehlt
jedoch der Zusatz, daß es sich bei den die
institutionalisierte Handlung Tätigenden um typisierte
Subjekte handelt, d.h. solche, die in der erforderlichen
Situation, abseits ihrer individuellen Unterschiede, in
derselben Art und Weise handeln und das allen an sie
Herantretenden gegenüber. Es entsteht also eine
bestimmte Rolle, die zur Ausführung institutioneller
Handlungen maßgeschneidert ist.
Wir sehen Institution in der Folge als
menschliches Konstrukt, das das Verhalten aller an einer
bestimmten Gesellschaftsordnung Teilhabende in
betreffenden Situationen vereinheitlicht und in
vorbestimmte(n) Bahnen lenkt (über das menschliche Bedürfnis
nach Institutionen siehe Berger & Luckmann, op.cit.,
S.108 ff).
Das Problem der Entpersonifizierung, das
sich durch die die Institutionen tragenden Rollen ergibt,
stellt ein individualitätsfeindliches dar, da die
Institution auf die einzelnen Menschen nicht spezifisch
sondern vereinheitlichend zugeht. "Ein Teil des
Selbst hat sich (...) objektiviert als Vollstrecker eben dieser Handlung, während das ganze
Selbst sich nun mehr oder weniger von der vollzogenen
Handlung zurückziehen kann. So wird es möglich, sich
sein Selbst als nur teilhaft mit der Handlung
identifiziert vorzustellen (...)". (ebenda, S. 77)
Durch Verdinglichung [4] scheinen
die Institutionen mit der Natur zu verschmelzen; und die
Welt der Institutionen wird Notwendigkeit und Schicksal,
Glück oder Unglück.” Dasselbe gilt eben für
Rollen: "Die Modellformel für diese Art der
Verdinglichung lautet: 'Ich habe in diesem Falle keine
Wahl. Ich muß in meiner Stellung so handeln.'" (ebenda,
S.97) Das Problem eines Individuums kann innerhalb einer
Institution also erst dann (voraussichtlich) gelöst
werden, wenn es die Regeln beherrscht und sich nach ihnen
verhält und die Möglichkeiten der Institution nicht überschritten
werden.
Ein erstes Problem ergibt sich also aus der
Tatsache, daß der Mensch seine Realität in oben ausgeführem
Sinn verdinglicht und diese somit einen Ausschließlichkeitscharakter
bekommt. Diese Ausschließlichkeit bewirkt, daß in
dieser Welt nur bestimmte, mit den Vorstellungen
konforme, Dinge Platz haben, d.h. sie ist ausschließend.
Kinder müssen sich nun dieser Situation anpassen und
zwar nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen: Ein
Kind hat nicht die Möglichkeit, eine Realitätsvariante
abzulehnen und sich statt dessen eine andere auszusuchen.
"Da das Kind sich seine signifikanten Anderen [ein
von Mead, op.cit, übernommener Begriff [5]] nicht aussuchen kann, ist seine
Identifikation mit ihnen quasi-automatisch, und aus
demselben Grunde ist seine Identifikation mit ihnen quasi-unvermeidlich.
Es internalisiert die Welt seiner signifikanten Anderen
nicht als eine unter vielen Welten, sondern als die Welt
schlechthin, die einzige vorhandene und faßbare." (Berger
& Luckmann, op.cit.) [6]
Ein wesentlicher Faktor, der bei Berger
& Luckmann zwar erwähnt (S.101), aber nicht weiter
ausgeführt wird, ist die Neugier des Kindes auf die Begründung
der menschlichen Realität. Auf die ständigen 'Warum-Fragen'
der Kinder wird seitens der Eltern und Erwachsenen
irgendwann nur mehr mit "das ist halt so" oder
mit Achselzucken geantwortet. Das hinterläßt den
Eindruck, als gäbe es darauf gar keine Antworten (wenn
schon nicht einmal die Erwachsenen eine wissen) und
bildet die Voraussetzung, die soziale Realität als
naturgegeben wahrzunehmen. "Die Fragen der Kinder
nach der symbolischen Sinnwelt sind schwieriger zu
beantworten als ihre Fragen nach den institutionalen
Wirklichkeiten des Alltagslebens. Auch die Fragen
beunruhigter Erwachsener verlangen noch mehr und
differenzierte Denkarbeit." (Berger & Luckmann,
op.cit., S.114) Die 'Warum-Fragen' wirken auf die
Erwachsenen verunsichernd, da sie nach einer Erklärung für
Vorgänge verlangen, die man nicht gewohnt ist zu
hinterfragen (das ist auf den Wirklichkeitscharakter der
menschlichen Gesellschaft zurückzuführen). Wenn
wiederholt keine Antworten kommen, wird das Kind im Laufe
der Zeit seine Fragerei einstellen. Als positive Aussicht
ist noch anzumerken, daß dieser Impuls wieder zum Leben
erweckt werden kann. Zum Zeitpunkt, wo das Kind in die
Schule kommt, hat es schon für viele Bereiche gelernt,
diese einfach hinzunehmen, auch wenn es den Grund dafür
nicht weiß. Als solcher, d.h. hinzunehmender, Bereich
kommt nun die Schule hinzu und in dieser selbst wird auch
nicht gerade das Hinterfragen gelehrt.
Gleichzeitig mit der Gewöhnung seitens des
Kindes, diese bestimmten Fragen nicht mehr zu stellen,
kommt es zu dem Effekt, daß damit die Fähigkeit zum
'selbständigen Denken' untergraben, dramatisch ausgedrückt:
verstümmelt wird.
Interessant ist auch, sich die Frage zu
stellen, wie es denn überhaupt zur Entstehung der
Institution Schule kam. Eine verbreitete aber nur
teilweise zutreffende Erklärung findet sich in den
Impulsen der Aufklärung: Sie "gilt als die
'bedeutenste europäische Emanzipationsbewegung' [Mieck,
1989], deren Grundgedanken bis heute gelten und
gesellschaftsgestaltend wirken. Immanuel Kants Worte
werden paradigmatisch als Definition für die neue
Sichtweise des Menschen zitiert, wonach Unmündigkeit
selbstverschuldet ist, 'wenn die Ursache derselben nicht
am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und
des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen
zu bedienen'. 'Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung'
[Kant, 1964], die [sic] klar mit den Prämissen
einer gottgewollten Ordnung bricht. Das selbständige,
vernunftgeleitete, seinem Gemeinwesen dienende Individuum
wird zum Ideal erhoben, durch Erziehung sollen die
Menschen zu eigenem und damit allgemeinem Glück geführt
werden. Die philosophischen Diskussionen waren
vielschichtig und unterschiedlich, Vernunft und Verstand
zu den wichtigsten Werkzeugen erkoren sollten empirisch
und rational die Welt erfassen lassen. [7]" (Lauggas, 1997, S.8 ff.) [8]
Ein genauerer Blick auf Österreich: "Maria
Theresia [die ja die allgemeine Schulpflicht einführte,
s.u.] war (...) eine gebildete Frau. (...) Ihr Hauptziel
war in allen Bildungsebenen von Universitäten bis zu
Elementarschulen eine Ausweitung der Staatsmacht [Hervorhebung
v.Verf.] und staatlich kontrollierte Ausbildung der
Untertanen, wie dies besonders deutlich in den Universitätsreformen
seinen Niederschlag fand. 'Rationalität, Uniformität,
Utilität und Funktionalität waren nicht nur die
Leitprinzipien der unter den Auspizien allgemeiner Glückseeligkeit
[sic] von seiten des Staates in der zweiten Hälfte
des 18. Jahrhunderts in Angriff genommenen Reformen in
den Bereichen der politischen Verwaltung, der Rechts-,
Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern galten
auch auf dem Gebiet der Bildungspolitik als oberste
Maximen.' [Grimm, 1987] Bis zu Maria Theresias
Regierungszeit lag das Schulwesen völlig in der Hand der
Stände, vor allem der Geistlichkeit. Ihre
Bildungspolitik wird beschrieben als Übergang vom
'Ecclesiasticum' zum 'Politicum': Das als Angelegenheit
der Kirche betrachtete Schulwesen wurde sukzessive auch für
das Staatswesen interessant, 1770 kulminierte diese
Entwicklung in der Aussage der Kaiserin, 'das Schulwesen
aber ist, und bleibet allzeit ein Politikum' [Engelbrecht,
1984]. 1774 wurde die allgemeine Unterrichtspflicht
eingeführt, der Kaiserin aber lag es fern, damit jener
aufklärerischen Intention Vorschub zu leisten, wonach
das Individuum aus seiner Unmündigkeit herausgeführt
werden sollte. (...) 'Die Chancen auf eine unter originär
pädagogischen Vorzeichen stehenden grundlegenden
Neugestaltung des gesamten Bildungswesens waren durch das
Faktum, daß Schule und Unterricht in Österreich in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in das <Vorfeld
der Verwaltung> rückten, auf ein Minimum gesunken,
denn die von der <Staatsräson> gerägten
bildungspolitischen Zielsetzungen der theresianischen (und
in großen Teilen auch josephimischen; Anm. M.L.) Bürokratie,
die ... zum <Träger der neuen Staatsanschauung>
wurde, unterschied sich stark von den als <liberal>
zu qualifizierenden Vorstellungen über Erziehung und
Unterricht, wie sie die zeitgenössische Aufklärungspädagogik
entwickelt hatte.'[Grimm, 1987]" (Lauggas, 1997, S.13)
Da Regierungen damals wie heute von Interessen geleitet
wurden und werden [9], verwundert es wenig, wenn jene, die
weitreichende Entscheidungen treffen, diese so fällen,
daß sie für sie selbst zum Vorteil gereichen. Wie das Päckchen
dann präsentiert wird (eben mit Aufklärungsgedanken umhüllt),
ist im Grunde eine andere Frage. Dieser Oberfläche
sollte man aber nicht verhaftet bleiben, da sie die
wahren Handlungsmotive verschleiert. Das mag jetzt
vielleicht alles etwas paranoid und verschwörungstheoretisch
klingen, doch die verfolgte Absicht ist die, hinter eine/n
selbst betreffende Mechanismen zu blicken und die Dinge
beim Namen zu nennen. Den Diskurs fortsetzend: Um die
Machtverhältnisse vom Prinzip her beibehalten zu können,
war es also notwendig, die Aufklärungsgedanken in einer
kontrollierbaren Form umzusetzen. “Der Ort, an dem
flächendeckende Erziehung gewährleistet werden sollte,
wird die Schule. Eines der zentralen Fächer stellt von
Anfang an die sogenannte 'Leibeserzeihung' dar, die Körper-
und Selbstbeherrschung, die nichts mehr dem Zufall überläßt
und die eigene Diszipliniertheit und Gehorsamkeit zum verinnerlichten
Bedürfnis [Hervorhebung v.Verf.] macht. Die
Wahrnehmung von Kindern bewirkt die Entwicklung der Pädagogik
und ist unmittelbar gekoppelt an den Ursprung moderner
Verschulung, die wiederum eine sukzessive Verlängerung
der Kindheit einleitet. Glantschnig [1987] faßt treffend
zusammen: ‘Der Mensch wird unter dem Aspekt der
Effektivierung seiner Arbeitskraft gesehen, der
Disziplinierung seines Körpers und der Normalisierung
seines Verhaltens. Die Pädagogik hat wesentlichen Anteil
an der Entwicklung dieser wissenschaftlichen Maschinerie,
die den Körper des Einzelnen durchdringt, zergliedert
und in Hinblick auf einen allgemeinen Zweck wieder
zusammensetzt.’” (ebenda, S.121)
Die Schulpflicht der Kinder erfüllt in
unserem kapitalistischen Gesellschaftssystem zwei
Grundfunktionen: Erstens dient sie der Heranbildung
produktiver WirtschaftsteilnehmerInnen und
gesellschaftstreuer Mitmenschen und zum zweiten gewährleistet
sie die Bereitstellung der Arbeitskraft der Eltern bzw.
der Mutter für die Zeit, die das Kind (die Kinder) in
der Schule verbringt. Daß die Schule nicht primär dem
Wohle der Kinder dient und nach ihren Bedürfnissen
ausgerichtet ist, zeigt sich schon an der Struktur dieser
Einrichtung. Ottomeyer (1977) geht sogar soweit, daß er
Schulen als ‘totale Institutionen’ bezeichnet,
in der es “eine bürokratische Verwaltung”
gibt, “hierarchische soziale Ränge und ein (...)
Regelsystem für das zwischenmenschliche Verhalten.”
Die Kinder “sind mehr oder weniger unfreiwillig hier
und unterstehen der Weisungsbefugnis und Sanktionsgewalt
des ‘Stabs’. (...) Den Insassen werden viele Möglichkeiten
zum Ausdruck ihrer persönlichen Identität weggenommen”
und sie unterliegen “noch in den intimsten
Verrichtungen (man denke an das schulische ‘Austreten’)
der Kontrolle durch den Stab”. (ebenda, S.212)
“Der Eintritt in die Schule ist für das Kind ein
folgenschweres und ziemlich bitteres Ereignis. Deshalb
versucht man es ihm auch durch das bekannte Zuckertüten-Ritual
[in der BRD] zu versüßen. Die in der Schule
herrschenden Anforderungen an das kindliche Verhalten
bedeuten einen scharfen Bruch mit dem vertrauten sozialen
Milieu der bisher fast ausschließlich bestimmenden
Familien- und Freundschaftsbeziehungen, in denen sich die
ersten Ansätze eines kindlichen Selbstgefühls und
Selbstbewußtseins herausgebildet hatten.” (ebenda,
S.220) Horn (o.J.) meint dazu, daß “wenn das Moment
der Sachbildung gegenüber der Affekt- und Sozialbildung
gesellschaftlich in den Vordergrund tritt, dann
verunsichert das Eltern wie Kinder und es ergeben sich
gleichsam Sozialisationsdefizite, die sich als
mitmenschliche Indifferenz, Aggressivität, offene
Destruktivität und Angst äußern. So taucht das Problem
sozialer Desintegration (...) auf.” (S.362) “Derselbe
Bruch betrifft auch die Art und Weise der kindlichen
Gegenstandsaneignung und des Erkundungsverhaltens. Während
dies bisher eng mit spontanen körperlichen Bewegungsabläufen,
Herumtoben, Klettern, Wandern und mehr oder weniger
spielerischen Handhabung der Lerngegenstände verbunden
war, findet Lernen nun abgelöst vom direkten Kontakt mit
den Gegenständen statt, daß der Körper samt seinem Betätigungsdrang
erst einmal auf einem Stuhl stillgestellt werden muß.
Der Schüler [und die Schülerin] muß seine persönliche
Lebens- und Herkunftsgeschichte weitgehend vor der
Schulpforte lassen, und er lernt, in zwei verschiedenen
zwischenmenschlichen Welten zu leben. Die Anforderungen
der Schule sind unpersönlich, leistungsbezogen und
unerbittlich - wer nicht mitkommt, dem droht die soziale
Ausstoßung in die Sonderschule und der Status des
Asozialen; hierin ist die Schule durchaus schon eine
Vorbereitung auf die Härte des kapitalistischen
Erwerbslebens.” (Ottomeyer, op.cit., S.220)
Franz (1978) stellt die provokante Frage,
ob die immer stärker um sich greifende
Produktorientiertheit und funktionalistische Ausrichtung,
nicht “den Schüler mehr zum Objekt der Institution
als zum Subjekt in der Institution Schule machen.” (in
Horn, o.J., S.373)
Das Interesse am Schulstoff wird durch die
Zerstückeltheit und zeitliche wie lebenspraktische
Entfernung der Lehrinhalte zusätzlich behindert. “Das
Fehlen eines wirklichen Sachbezugs für die gemeinsame
Lerntätigkeit hat zur Folge, daß die schulischen
Lerngegenstände nur noch in symbolisch-abziehbildartiger
Form gegenübertreten. (...) Aber auch diese symbolisch
vorgestellten gemeinsamen Lehrgegenstände werden durch
das von staatlichen Lehrplänen kontrollierte Prinzip des
Fachunterrichtes noch einmal aufgesplittert und damit
entwirklicht [s. Beck, 1974]. So taucht etwa ein
eigentlich so interessantes Thema wie das Leben der
Menschen in der englischen Gesellschaft einmal (...) im
englischen Sprachunterricht auf, dann noch einmal im
Geschichtsunterricht, im Georaphie-Unterricht, wo die
Beziehungen der Menschen zur Natur und ihre
Siedlungsformen ganz abgelöst von der Geschichte und vom
Sozialleben behandelt werden, und vielleicht noch einmal
im Sozialkundeunterricht. Wenn die Schüler in diesen Fächern
auch noch von verschiedenen Lehrern unterrichtet werden,
was anzunehmen ist, so wird es ihnen wahrscheinlich endgültig
unmöglich gemacht, einen sinnvollen Zusammenhang
zwischen den verschiedenen Teilaspekten herzustellen.”
(Ottomeyer, op.cit., S.224) Hier ist hinzuzufügen, daß
die verschiedenen Epochen in den diversen Fächern oft
gar nicht simultan behandelt werden.
“Es liegt auf der Hand, daß eine
Schule, die tatendurstige Kinder an Schreibtische zwingt
und sie Dinge lernen läßt, die meistens nutzlos sind,
eine schlechte Schule ist. Nur jene unschöpferischen
Mitbürger, deren Kinder fügsam und unschöpferisch
bleiben sollen, damit sie in eine Gesellschaft passen,
deren Erfogsmaßstab Geld heißt, können eine solche
Schule für richtig halten.” (Neill, 1969, S.22)
Summa summarum kristallisiert sich das Bild
einer Institution heraus, die den Bedürfnissen der in
sie eingebundenen, mehr noch: der sie legitimierenden
Individuen nicht oder nur in geringem Ausmaß entspricht.
Die Folgen, die sich daraus ergeben, werden bei einem
Vergleich mit Summerhill-SchülerInnen traurig erkennbar.
Wie schon weiter oben erwähnt, gründete
Neill sein Schule 1921. Voeher hatte er schon einige
Jahre in herkömmlichen Schulen unterrichtet, anfangs
sogar mit traditionellen Methoden (Prügelstrafe etc.).
Nach einem Schlüsselerlebnis wandte er sich von dieser
Art des Umgangs mit Kindern ab und begann, sich mit
Psychologie und psychoanalyischen Theorien zu beschäftigen.
“Nach meiner [Neill’s] Ansicht sind Kinder von
Natur aus verständig und realistisch. Sich selbst überlassen
und unbeeinflußt von Erwachsenen, entwickelt es sich
entsprechend seinen Möglichkeiten.” (ebenda, S.22)
In diesem kurzen Satz steckt schon einiges, das genauerer
Betrachtung lohnt: Der Autor spricht dem Kind Verständigkeit
zu, d.h. er sieht in ihm ein kleines Individuum mit dem
man seinen Möglichkeiten entsprechend auf einer egalitären
Basis kommunizieren und umgehen kann. Das Kind ist auf
die Unterstützung der Erwachsenen angewiesen, da es sich
in der Welt noch nicht auskennt. Das verleiht den schon
Eingeweihten Macht über es. Sie lassen es meist nicht
allein entdecken und sich entwicken, sondern wollen es
nach eigenen Vorstellungen lenken. Wie viele Erwachsene
halten es z.B. aus, einem Kind bei einer Aufgabe oder
einem Spiel zuzusehen, das es nicht lösen kann oder mit
dem es ‘falsch’ umgeht? Nach Neill’s
Erfahrung raubt man durch Hillfestellungen und Aufzeigen
von Lösungen einem Kind die Freude am Entdecken. Man
macht nicht dem Kind einen Gefallen, indem man ihm bei
der Lösung einer schwierigen Aufgabe zur Hand geht,
sondern man befriedigt seine eigene Ungeduld und das
eigene Ego, indem man es genießt, wenn es dann das Kind
so macht, wie man es ihm gezeigt hat — man hat
Gelegenheit auf ‘väterliche’ Art dem Kind zu
‘helfen’ und sich durch diese Geste überlegen
und somit gut zu fühlen.
Etwas erstaunliches ist in Summerhill das (grundlegende)
Recht auf Selbstbestimmung. Es “gilt gleiches Recht
für alle. Niemand darf sich auf den Konzertflügel
stellen, und ich kann auch nicht einfach das Fahrrad
eines Jungen benutzen, ohne ihn um Erlaubnis zu bitten.
In einer Schulversammlung hat die Stimme eines sechsjährigen
Kindes genausoviel Gewicht wie meine [Neill’s]. Die
Neunmalklugen werden jetzt sagen, in der Praxis zählten
ja doch nur die Stimmen der Erwachsenen. ‘Ehe das
sechsjährige Kind die Hand hebt, wartet es doch bestimmt
erst einmal ab, wie Sie stimmen.’ Ich wollte, es wäre
so; denn zu viele von meinen Vorschlägen werden
abgelehnt. Freie Kinder lassen sich nicht so leicht
beeinflussen. Sie haben eben keine Angst.” (ebenda,
S.27) Sie haben keine Angst vor Schlägen und
Bestrafungen und wenn sie etwas ausgefressen haben und
dabei erwischt werden, akzeptieren sie die in der
Schulversammlung getroffene Strafe bereitwillig [10]. (ebenda, S.60 ff.)
Es “ist die Tatsache entscheidend, daß
der Einzelne nicht nur Rollen und Einstellungen Anderer,
sondern in ein und demselben Vorgang auch ihre Welt übernimmt.”
(Berger & Luckmann, op.cit., S.142) Auf diese ‘Welt’
kommt es nun an: Jene, in die die Summerhill-Kinder
hineinwuchsen stellt sich fundamental anders dar als die,
die ‘normale’ SchülerInnen präsentiert
bekommen. “Die eindeutige Folge” der “minder
begünstigten Situation des Kindes ist die, daß ihm,
obgleich es nicht ganz unbeteiligt und passiv während
seiner Sozialisation ist, die Erwachsenen die Spielregeln
aufstellen. Es kann gern oder ungern mitspielen, ein
anders Spiel ist jedenfalls nicht zu haben.” (ebenda,
S.145) Der Unterschied der Welten liegt in dem Wort
‘gern’. Der Summerhill-Kindern macht das Lernen
Freude, sie sind schöpferisch (und nicht zerstörerisch),
offen und freundlich. Sie werden als gleichwertige
Gemeinschaftsmitglieder respektiert und niemand zwingt
ihnen seinen Willen auf. Sie können über die zu
befolgenden Regeln autonom und demokratisch abstimmen und
niemand zwingt sie dazu, den Unterricht zu besuchen.
Neill vertritt in diesm Aspekt die radikal anmutende
Meinung, daß das Kind nur das lernen sollte, was es auch
interessiert, denn nur das ergebe einen Sinn — der
Rest würde vergessen (womit er ja nicht so unrecht hat,
denn wieviel der Unmenge an in der Schule aufgenommener
Information können wir heute noch abrufen?) “Die
Kinder können zum Unterricht gehen, sie dürfen aber
auch wegbleiben — sogar jahrelang, wenn sie wollen.
Es gibt einen Stundenplan — aber nur für die
Lehrer. (…) Schüler, die im Kindergartenalter nach
Summerhill kommen, nehmen von Anfang an am Unterricht
teil, Kinder, die von einer anderen Schule zu uns kommen, schwören sich jedoch oft, nie wieder in ein
Klassenzimmer zu gehen. [Hervorhebung v.Verf.] Sie
spielen, fahren mit dem Fahrrad, stören andere bei der
Arbeit, aber sie hüten sich vor der Schulbank. In
einigen Fällen dauert das Monate. Die Zeit der ‘Genesung’
entspricht der Stärke des Hasses, den ihnen die vorige
Schule eingegeben hat. Den Rekord hält ein Mädchen, das
aus einer Klosterschule kam und bei uns drei volle Jahre
nur gefaulenzt hat. Im Durchschnitt dauert es drei
Monate, bis ein Kind wieder bereit ist, am Unterricht
teilzunehmen.” (Neill, op.cit., S.23) Bei Berger
& Luckmann geht es nicht um eine kritische
Auseinandersetzung mit herrschenden
Gesellschaftsstrukturen, sondern nur um eine möglichst
umfassende Analyse der Sozialisationsprozesse, daher
schreiben sie z.B. auch, daß “als Sprache und
mittels Sprache (…) beliebige institutionell
festgesetzte Begündungs- [sic] und
Auslegungszusammenhänge internalisiert” werden
“— so benimmt man sich etwa wie ein tapferer
kleiner Junge und glaubt, daß kleine Jungen von Natur
aus nach tapfer und feige zu scheiden sind [Hervorhebung
v.Verf.]. Derartige Schemata versorgen das Kind für das
Alltagsleben mit institutionalisierten Programmen, deren
einige unmittelbar verwendbar sind, während andere ein
Benehmen, das die Gesellschaft späteren Lebensphasen
vorbehält, antizipieren (…).” (Berger &
Luckmann, op.cit., S.145 ff.) Was diese Doktrinen den
einzelnen Individuen an Streß- und Angstverarbeitung,
Verdrängung, Fähigkeit zu Bedürfnisaufschub und
Frustrationstoleranz abverlangen, interessiert in diesem
Rahmen nicht. Gerade aber von psychologischer Seite sind
das interessante ergänzende Fragen.
Die primäre Sozialisation in Summerhill
zeichnet sich im Wesentlichen durch drei Punkte aus:
Erstens ist das Hineinwachsen in die Gesellschaft vom
Kind gesteuert und nicht von den Erwachsenen, d.h. daß
dem Kind keine Regeln gestellt werden, die es befolgen muß
(abgesehen von Regeln die das Gemeinschaftsleben
betreffen, da diese für ein gutes Zusammenleben natürlich
befolgt werden müssen; aber hier sind gesellschaftliche
Regeln gemeint, die bestimmen, wie man sich zu verhalten
hat und wie nicht). Die Kinder müssen sich nicht vor dem
Essen die Hände waschen und sie dürfen überhaupt
schmutzig sein (solange sie nicht durch unangenehmen
Geruch die anderen stören), sie dürfen fluchen und ihre
sexuellen Regungen (Masturbieren u.ä. [11]; siehe dazu Neill, op.cit., S.197 ff.)
werden nicht unterbunden oder mit Strafen verfolgt (wobei
Neill immer sehr darauf bedacht war, es nie zu einer
Schwangerschaft kommen zu lassen —was ihm auch
gelungen ist— aber trotzdem keine Überwachung
stattfand, sondern mit den —in diesem Fall—
Jugendlichen sachlich argumentiert wurde, daß wenn eines
der Mädchen schwanger würde, die Schule wahrscheinlich
schließen könne; ebenda, S.71 ff.). Es gab und gibt [12] in Summerhill keine Moral, sondern nur
Respekt vor den (flexiblen und selbstbestimmten bzw. -bestimmbaren)
Gemeinschaftsregeln und den einzelnen Mitgliedern. Neill
meint, daß die meisten Eltern Angst hätten, ihr Kind würde
ohne Moral verrohen und zu einem schlechten und
primitiven Menschen werden. Sie “akzeptieren eben,
zumindest passiv, daß der Mensch sündig von Geburt und
schlecht von Natur sei und daß er raubgierig, grausam
und mordlüstern werde, wenn man ihn nicht zum Gutsein
erziehe.” (ebenda, S.232) Ein Aspekt, der von
biologistischen Wissenschaften und ihren VertreterInnen (Lorenz,
1966; Ardrey, 1966; Wilson, 1975, 1998; Hamer &
Copeland, 1998, Eibl-Eibesfeld, 1998 u.v.m.) untermauert
wird (die aber sozialisatorische Theorien wie eben gerade
den symbolischen Interaktionismus konsequent ignorieren
— was nicht gerade eine wissenschaftliche
Vorgangsweise darstellt).
Neill berichtet z.B. von einer bei seinen
Vorträgen in ähnlicher Form immer wieder auftauchenden
Frage: “Was würden Sie tun, wenn ein Junge
anfinge, Nägel in einen Konzertflügel zu schlagen? Ich [Neill] bin inzwischen ein solcher Experte geworden,
daß ich oft schon vorher weiß, wer die Frage stellen
wird. Meist ist es eine Frau, die in der ersten Reihe
sitzt und von Zeit zu Zeit mißbilligend den Kopf schüttelt.
Die beste Antwort auf diese Frage: Es ist ganz egal,
was Sie mit dem Kind machen, solange ihre Einstellung zum
Kind richtig ist. Es macht nichts, wenn Sie es vom Flügel
wegziehn, solange Sie ihm keine Schuldgefühle beibringen.
Solange Sie nur auf Ihren persönlichen Rechten bestehen,
ohne das durch moralische Urteile zu einer Frage von Gut
und Böse zu machen, solange richten Sie auch keinen
Schaden an.”(ebenda, S.149)
Das Problem, das das Unwissen der Kinder um
gesellschaftliche Normen und Zusammenhänge mit sich
bringt, ist, daß die Kinder diese Welt natürlich
verstehen wollen und daher natürlich auch Fragen
stellen, die die symbolische Sinnwelt an sich betreffen.
Fragen, deren Existenz die Erwachsenen schon vergessen
haben und auf die sie selbst als Kinder nie eine Antwort
erhielten. Diese Fragen stellen jedoch die Selbstverständlichkeit
der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit in Frage und
stellen somit —unbeabsichtigt— ein subversives
Elemant dar, das abgewehrt und unterdrückt werden muß,
da es die Berechtigung der Realität in Frage stellt (siehe
S.7, ebenda; bei Berger & Luckmann, op.cit., S.108 ff.).
Es wird also nicht nach einer Erklärung gesucht, sondern
dem Kind vermittelt, daß es nicht so ‘dumme’
Fragen stellen soll. So wird gelernt, gesellschaftliche
Verhältnisse nicht zu hinterfragen, sondern sie als
naturgegeben und unveränderbar oder zumindest von einem/r
selbst nicht beeinflußbar hinzunehmen. “Die neue
Generation erlernt die Legitimation im gleichen Prozeß,
durch den sie in die institutionale Ordnung eingeführt
und auf sie abgestimmt wird [Hervorhebung v.Verf.].”
(Berger & Luckmann, op.cit., S.66)
Damit kommen wir schon zum zweiten Punkt:
Die Kinder können in Summerhill ohne Tabus alle Fragen
stellen, die sie möchten, sei es innerhalb der
gesellschaftlichen Grenzen (z.B. über Sexualität), wie
eben auch andere, darüber hinausschreitende, da man sich
um sie bemüht und ihnen Zeit einräumt. Fragen, die die
symbolische Sinnwelt betreffen, sind zwar schwieriger zu
beantworten als andere, aber es ist nicht unmöglich. In
dem Moment, da Dogmatismen wegfallen, ist ein flexiblerer
Umgang mit Vorschriften möglich.
Das stellt schon den Dritten Punkt dar:
Offenheit und Flexibilität in den Gesellschaftsregeln,
da diese sich nicht aus einer Moral herausbilden, sondern
von den aktuellen Bedürfnissen der Schulgemeinschaft
bestimmt werden. Die Regeln richten sich nach den Bedürfnissen
der Beteiligten und nicht die Beteiligten nach Regeln,
die nicht ihnen dienen, sondern der Aufrechterhaltung
eines abstrakten Moralsystems. “Der ursprüngliche
Sinn der Institution ist ihrer eigenen Erinnerung unzugänglich”
(ebenda, S.66) und darin liegt das einschränkende
Element: Der Sinn wird nicht gesucht, sondern
vorausgesetzt und die Institution somit erhalten. Sie
passt sich nicht mehr den Menschen an, sondern diese sich
ihr. Genau das passiert in Summerhill nicht. Dazu zwei
Beispiele: “Als ich [Neill] in Deutschland
unterrichtete, wurde ein dreizehnjähriges (…) Mädchen
namens Maroslawa zu mir geschickt. Maroslawa haßte ihren
Vater leidenschaftlich. Ein halbes Jahr lang machte sie
mir das Leben an der Schule zur Hölle. In den
Schulversammlungen griff sie mich häufig an. Bei einer
Gelegenheit brachte sie den Antrag ein, mich wegen Unfähigkeit
zu entlassen. Sie hatte Erfolg. Nach drei freien Tagen
fing ich gerade an, Freude an einem Buch zu finden, das
ich schrieb, als leider beschlossen wurde, mich zurückzuholen
(mit einer Gegenstimme natürlich). (Neill, op.cit., S.287)
In einer Schulversammlung war durch den Einfluß einer
neuen Schülerin namens Ansi die Anarchie augerufen
worden. “Unter ihrer Führung marschierten die Schüler
aus dem Raum. Sie hatte keine Schwierigkeiten, die
anderen mitzureißen, weil die Kinder alle noch verhältnismäßig
klein waren und noch kein soziales Bewußtsein entwickelt
hatten. Ansi führte sie in die Werkstatt, wo sie sich
mit Sägen bewaffneten, um, wie sie erklärten, alle
Obstbäume zu fällen. Ich ging wie üblich in den
Garten, um zu graben. Zehn Minuten später kam Ansi zu
mir [Neill] und fragte sehr sanft: ‘Was müssen wir
machen, um die Anarchie aufzuheben und wieser Gesetze
einzuführen?’
‘Ich kann dir keine Ratschläge geben’,
sagte ich.
‘Können wir nicht eine neue
Schulversammlung einberufen?’ fragte sie.
‘Natürlich könnt ihr das , aber ich
werde mich da nicht sehen lassen. Wir haben uns ja für
die Anarchie entschieden.’ Sie ging, und ich setzte
meine Gartenarbeit fort. Kurz darauf kam sie wieder.
‘Die Kinder haben beschlossen, eine regelrechte
Schulversammlung einzuberufen. Kommen Sie auch?’
‘Eine regelrechte Schulversammlung?’
fragte ich. ‘Ja, ich komme.’
In der Schulversammlung war Ansi dann sehr
ernsthaft, und wir konnten in Frieden unsere Gesetze
verabschieden. Gesamtschaden während der Zeit, in der
Anarchie herrschte: ein zersägter Garderobenständer.”
(ebenda, S.285 ff.)
Ich denke, dadurch wird deutlich, daß in
Summerhill mit den Regeln des Zusammenblebens
experimentiert werden kann und sie nicht blind übernommen
werden müssen. Man kann sie einsehen, sie werden einem/r
nicht aufoktroyiert. Es handelt sich um eine offene und
flexible Sozialisation.
Die Position, die ich mit diesen meinen
Ausführungen beziehen möchte, ist jene für ein ‘Prinzip
der Möglichkeiten’. Das Problem der Objektivität
in den Wissenschaften wurde ja eingangs schon angerissen
und aus diesem folgernd ergibt sich auch die politische
Dimension der Wissenschaft, da sie ja als
gesellschaftliches Legitimationsinstrument
gesellschaftliche Wirklichkeit bestimmt. Wenn aber Regeln
strikt gezogen werden, ist es unumgänglich, daß Leute,
eigentlich Mitglieder der Gemeinschaft, aus dieser
ausgeschlossen werden, man denke nur an die Ausgrenzung
homosexueller Frauen und Männer. Wenn die Wissenschaft
ihrer Subjektivität eingedenk ist, gelten ihre
Erkenntnisse nur im Rahmen des gesellschaftlichen
Regelsystems, in dem sie und ihre VertreterInnen sich
befinden (das gilt hauptsächlich für die geistes- und
sozialwissenschaftlichen Richtungen, aber auch für
naturwissenschaftliche wie z.B. die Biologie, da diese
ihre Erkenntnisse ja als für die soziale Welt geltend
darstellt und z.B. weniger für die Chemie), d.h. ihre
Ergebnisse werden zu einer Möglichkeit als Gegenpol zur
Gewißheit. Das wäre eine Chance für eine
freundlichere, offenere, vielfältigere und weniger
aggressive Haltung, die den Weg weisen könnte zu einer
Gesellschaft der Toleranz.
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