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I. Begriffliche Bestimmungen

Um uns einen Zugang zum theoretischen Feld der vorliegenden Arbeit zu verschaffen, werden wir uns zunächst an jene Begriffe annähern, mit denen wir es hier zu tun haben werden: „Individuum“, „Individualität“ und „Individualisierung“. Dabei wollen wir der Frage folgen, mit welchen Bedeutungen diese ausgestattet bzw. in welchen historischen Kontexten sie zu verorten sind.

 

1. Individuum/Individualität/Individualisierung

1. 1. Definition der Begriffe Individuum und Individualität

Wenn man/frau in psychologischen Wörterbüchern und Lexika den Begriffen „Individuum“ und „Individualität“ nachzuspüren versucht, ist es nicht leicht, auf „befriedigende“ Definitionen zu stoßen. In den meisten Werken sind sie erst gar nicht als für sich allein stehende Begriffe angeführt, geschweige denn ausführlich definiert:

„Individuum, das Unteilbare, Untrennbare, das in sich Geschlossene, Einmalige in raumzeitlicher und qualitativer Hinsicht. I. kann Einzelding und Einzelwesen (z.B. Tier, Pflanze) sein, insbes. wird I. aber bezogen auf den Einzelmenschen: Individualität bedeutet Heraushebung aus der Masse der Individuen (vergleichbar dem Verhältnis von Persönlichkeit und Person) und ist höhere Stufe des Individuums. Daher ist I. im gewöhnlichen Sprachgebrauch auch gleichbedeutend mit ausgeprägtem Charakter.“ (Häcker & Stapf 1998, S. 347 f.)

Diese Definition etwas genauer unter die Lupe nehmend, drängen sich uns sofort einige wichtige Fragen auf, was durchaus als Zeichen für die Unzulänglichkeit dieser Definition gesehen werden kann. „Individuum“ als Begriff wird nur im ersten Abschnitt dieser Definition erklärt, demnach ist „Individuum“ Einzelding oder Einzelwesen, mit bestimmten Eigenschaften wie einmalig, untrennbar, usw. ausgestattet. Nicht gerade aufgeklärt finden wir uns im zweiten Abschnitt bereits in einer nächsten Definition wieder, nämlich jener der „Individualität“. Es sei zwar unbestritten, daß diese beiden Begriffe zusammenhängen und in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, doch sollte wohl die Definition des einen nichts in der Definition des anderen verloren haben. Dazu sind beide Begriffe viel zu spezifisch und für sich allein stehend.

Noch genauer betrachtend lassen sich weitere Unstimmigkeiten erkennen. Auf der einen Seite ist die Rede vom „Individuum“ als einmaligem Einzelwesen, auf der anderen Seite wird von einer „Masse der Individuen“ gesprochen, aus der es gilt, sich herauszuheben. Wie soll das verstanden werden? Wenn ich als einmaliges Einzelwesen in einer „Masse“ solcher einmaligen Einzelwesen existiere, so wäre doch in einer logischen Schlußfolgerung eine Heraushebung nicht mehr notwendig.

Als letzten Punkt der Analyse dieser Begriffsdefinition wollen wir den Finger noch kurz auf eine weitere Beobachtung legen. Es ist also die Rede von einer „Masse der Individuen“. Hier bekommen wir bereits den Hinweis darauf, daß es in der Psychologie keinen Gesellschafts-Begriff gibt. Für sie stellt sich Gesellschaft sozusagen als Anhäufung, als „Masse“ von einzelnen Individuen dar. Der Frage, warum dieses Verständnis der Psychologie problematisch ist, als es die Gesellschaftlichkeit der Individuen ausblendet bzw. negiert, werden wir allerdings erst in Abschnitt 1. 4. genauer nachgehen.

Auch wenn in diesem Wörterbuch der Begriff der „Individualität“ bereits in der Begriffsdefinition des „Individuums“ erläutert wird, stoßen wir darin trotzdem auf eine eigene Definition, in der es heißt:

„Individualität, die Eigenart des einzelnen Wesens, die Gesamtheit der Eigenschaften und Merkmale, welche die Eigentümlichkeit, Besonderheit eines Wesens ausmachen. Die Individualität eines Menschen zeigt sich in seiner Persönlichkeit.“ (Häcker & Stapf 1998, S. 346)

Während hier der Begriff der „Individualität“ mit jenem der Persönlichkeit gewissermaßen gleichgesetzt wird – wiederum ein Aspekt, der uns in Abschnitt 1. 4. noch genauer beschäftigen wird – scheint auch hier unser Aufklärungsbedarf nicht gerade gestillt zu werden, was uns schließlich dazu veranlasst, den Begriffen etwas genauer auf den Grund zu gehen.

 

1. 2. Die Konstituierung des „Individuums“ nach Elias

 

Um nun unser Verständnis im Hinblick auf den Begriff „Individuum“ erweitern zu können, wollen wir uns zunächst auf dessen historische Spuren begeben. Da ich in der Psychologie, trotz ausführlicher Literaturrecherche, keine historisch-analytischen Konzepte hinsichtlich der Konstituierung des „Individuums“ finden konnte, suchte ich in einem weiteren Umfeld und stieß dabei auf einen soziologischen Theoretiker, der unseren diesbezüglichen Wissensbedarf zu befriedigen scheint. Die Rede ist von Norbert Elias.

Daß die Konstituierung des „Individuums“, auch im Sinne eines „neuen“ Bewußtseins ihrer/seiner selbst, grundlegende Veränderungen der Sozialstrukturen wie der Individualstrukturen nach sich zog, deren Auswirkungen bis in die heutige Gegenwart der „westlichen“ Gesellschaften hineinreichen, soll ebenfalls anhand seiner Überlegungen kurz thematisiert werden. Hier anschließend wollen wir noch einen Blick auf Foucault werfen, der mit seinen Analysen historischer Prozesse der Konstituierung des „modernen“ Subjekts nachspürt und seine Erkenntnisse jenen von Elias gegenüberstellen.

Vor diesem Hintergrund soll in den folgenden Abschnitten unser Augenmerk nicht primär auf der Gültigkeit von Elias’ Thesen liegen, sollen auftretende „Schwachstellen“ nicht theoretisch überprüft, wohl aber benannt werden. So verstehen sich die nächsten Abschnitte als Grundlage für die weiterführende theoretische Diskussion bzw. sollen sie uns den Zugang zum theoretischen Raum eröffnen, mit dem wir es in den nächsten Kapiteln zu tun haben werden.

1. 2. 1. Historische Ursprünge

Nach Elias (1991) wurden im mittelalterlichen Latein die Begriffe „individualis“ oder „individuus“ gebraucht, um von etwas Unteilbarem, Untrennbarem zu sprechen. Sollte sich der mittelalterliche Begriff „Individuum“ seit dem 17. Jahrhundert zunächst nicht bloß auf den Menschen, sondern auch auf jedes einzigartige Ding dieser Welt beziehen, so wurde er erst im Laufe der Zeit speziell zur Bezeichnung der menschlichen Einzigartigkeit verwendet.

Es drängt sich hier die Frage auf, wie es zu dieser ausschließlichen Bezogenheit auf den Menschen kommen konnte, deren Erkundung sich Elias (1991) in seinen Forschungsarbeiten ebenfalls zu widmen versuchte. Er verortet diese Entwicklung in einem „Anstieg der Gesellschaftsentwicklung zu einer Stufe, auf der sich unter Menschen, zunächst vielleicht unter Menschen ganz bestimmter Gruppen, das Bedürfnis verstärkte, über ihre Einzigartigkeit – und allgemeiner über die Einzigartigkeit des Menschen –, über die Besonderheit ihrer Existenz verglichen mit der aller anderen Menschen miteinander zu kommunizieren.“ (S. 217, Hervorh. K. H.) Die Hervorhebungen sollen darauf hinweisen, daß Elias hier selbst vage und unkonkret bleibt. Es scheint, als hätten wir es mit einem „plötzlichen“ bzw. „zufälligen“ Bedürfnis zu tun, welches sich in bestimmten sozialen Gruppen zunächst vielleicht verstärkte. In dieser festgestellten Ungenauigkeit manifestieren sich bereits die Grenzen seiner historischen Analysen: Elias erklärt nicht, sondern beschreibt historische Prozesse vielmehr. Dementsprechend sind diese für ihn, im Besonderen der Zivilisationsprozeß als ganzer, dessen Erforschung er sich hauptsächlich widmete (siehe Elias 1998 und 1999), insofern ein Produkt von „zufälligen“ Entwicklungen, als sie von einzelnen Menschen nicht „>rational< durch zweckentsprechende Maßnahmen verwirklicht“ (Elias 1999, S. 323) wurden. „Sie [die Zivilisation] vollzieht sich als Ganzes ungeplant“ (ebd., S. 323 f.). Auch wenn wir dieser These fürs erste zustimmen wollen, so dürfen wir trotzdem nicht vergessen, daß historischen Entwicklungen Ursachen zugrundeliegen, die Elias allerdings nicht weiter zu interessieren scheinen. Wenn wir uns also weiterhin auf seinen Pfaden bewegen, so werden wir auf bestimmte Warum-Fragen keine befriedigenden Antworten finden.

Nun aber zurück zu unserem Gegenstand, dem „Individuum“. Im selben Maße, wie sich die Menschen ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit seit dem europäischen Mittelalter und vor allem von der Renaissance ab immer bewußter wurden, verortet Elias (1991) eine Veränderung der Balance zwischen der Wir- und Ich-Identität (S. 263). Lag früher das Schwergewicht zum größeren Teil auf ersterer, so verlagerte sich dieses im Laufe der Zeit mehr und mehr auf zweitere. In dieser entstandenen Konzeption von „Individuum“ begreifen sich die Einzelnen nun immer häufiger als „wirlose Iche“ (ebd.), nehmen sich nicht mehr primär als gesellschaftliche Wesen wahr und bilden dabei die Vorstellung eines „geschlossenen Kosmos […], eine[r] Natur für sich, die mit der übrigen Natur und erst recht mit den übrigen Menschen nichts zu tun hat.“ (ebd. S. 89)

Gerade in den philosophischen Erkenntnistheorien, die sich innerhalb dieser Prozesse etablierten, werden diese Vorstellungen besonders evident. „Auch wenn man den Gedanken an andere Menschen in seine Argumente einführte, sah man sie im wesentlichen als einen Haufen geschlossener Systeme, von denen jedes, genau wie man es an sich selbst erlebte, ganz für sich von ‚innen’ in eine Welt blickte, die ‚außen’ lag. Man sah sie, entsprechend dem Grundschema des eigenen Selbsterlebens, nicht als etwas, zu dem man ‚Du’ oder ‚Wir’ sagen konnte, sondern, wenn man sich so ausdrücken darf, als eine Masse von ‚Ichen’.“ (ebd., S. 155)

Wo sich die Menschen früher in erster Linie als gesellschaftliche Wesen definierten und damit eine Einheit mit der Gesellschaft bildeten, so hatten wir es also im Laufe der letzten Jahrhunderte mit einer Aufhebung dieser Einheit zu tun, in der Elias (1991) den Grundstein für die noch heute charakteristische Distanz zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen „innen“ und „außen“ und schließlich zwischen dem Privaten und Öffentlichen verortet. „Das Empfinden des einzelnen Individuums, letzten Endes ganz allein zu sein, das für immer von dem abgetrennt ist, was ‚außen’ existiert, ist heute in vielen okzidentalen Gesellschaften vielleicht selbstverständlicher und allgemeiner geworden, als es je in der Vergangenheit und selbst in der nur wenige Jahrhunderte zurückliegenden Epoche der klassischen europäischen Philosophen war.“ (ebd., S. 158)

Mit diesem kurzen historischen Abriß sollte in erster Linie gezeigt werden, daß das Bewußtsein der eigenen Einzigartigkeit, welches das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. der „Ich-Wir-Balance“ bis heute konstituiert, Produkt relativ junger historischer Entwicklungen ist. Mag uns die heute vorgefundene Wirklichkeit noch so natürlich und selbstverständlich erscheinen, so ist sie dennoch das Ergebnis historischer Prozesse, denen Handlungen und Entscheidungen von Menschen vorausgehen.

Um allerdings die mit diesen Entwicklungen einhergehenden Veränderungen in ihren Dimensionen noch etwas konkreter erfassen zu können, bleiben wir noch einen Moment bei Elias, genauer bei dem, was er als Transformation der Sozial- und Individualstrukturen bezeichnet.

 

1. 2. 2. Die Transformation der Sozial- und Individualstrukturen

Wenn wir also die Konstituierung des „Individuums“ mit dem 15., 16. und besonders dem 17. Jahrhundert datieren, so sehen wir uns in dieser Zeit ganz entscheidenden Veränderungen der Sozialstrukturen gegenüber. In diesem Zusammenhang sieht Elias (1991) in dieser neuen Form des Selbstbewußtseins Parallelen „mit der wachsenden Kommerzialisierung und Staatenbildung, mit dem Ausftieg reicher höfischer und städtischer Schichten“ (S. 138). Der wachsende Grad des individuellen Bewußtseins steht also in dem Sinne mit einer Weiterentwicklung der (vor allem okzidentalen) Gesellschaften in Verbindung, als sich – als Folge des Übergangs „von einer mehr von ‚äußeren’ Autoritäten abhängigen zu einer mehr autonomen und ‚individuellen’ Gewissensbildung“ (ebd.) – die bis dahin weniger differenzierten, einfach organisierten Menschenverbände zu höher bzw. hoch differenzierten, in Form von stadtreichen Staatsgesellschaften und später Nationalstaaten, formierten. Im „Akt der Loslösung in der Beobachtung anderer und seiner selbst“ (ebd., S. 148) konstituierte sich gewissermaßen ein öffentlicher, abstrakter, weil immer differenzierterer und komplexerer Raum und gleichzeitig „die Vorstellung von sich selbst als einem losgelöst und unabhängig von allen anderen Existierenden.“ (ebd.)

Bei dieser Darstellung einer Facette im Hinblick auf die Transformation der Sozialstrukturen wollen wir es fürs erste belassen, auch wenn dem Formierungsprozeß der Staaten natürlich ein weitaus höherer Grad an Komplexität zugrundeliegt. Vielmehr wollen wir unseren Blick nun darauf konzentrieren, daß und warum die mit dieser Transformation einhergehenden individuellen Vorstellungen von Unabhängigkeit bzw. Autonomie in der Praxis nicht einlösbar sind, was uns in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit immer wieder beschäftigen wird. Elias sieht diese Nicht-Einlösbarkeit in der mit der Transformation der Sozialstrukturen einhergehenden Transformation der Individualstrukturen begründet.

Folgen wir seiner Argumentation, so sind die Veränderungen der Individualstrukturen, „im Sinne einer immer differenzierteren Regelung der gesamten, psychischen Apparatur […] bestimmt durch die Richtung der gesellschaftlichen Differenzierung, durch die fortschreitende Funktionsteilung und die Ausweitung der Interdependenzketten, in die, mittelbar oder unmittelbar, jede Regung, jede Äußerung des Einzelnen unausweichlich eingegliedert ist.“ (Elias 1999, S. 328) Weil aufgrund der immer größer werdenden Komplexität der Sozialstrukturen das Verhalten von immer mehr Menschen aufeinander abgestimmt werden muß, sieht sich das einzelne Individuum also einem immer feinmaschigeren und verzweigteren Regelnetzwerk von Handlungs- und Interdependenzketten gegenüber, in dem die einzelne Handlung ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen soll. „Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.“ (ebd., S. 327) In dieser Form der gesellschaftlichen Verhaltenskontrolle sieht Elias die „Veränderung des psychischen Apparats“ (ebd., S. 328) begründet, welche (die Verhaltenskontrolle) dadurch charakterisiert ist, daß sie den in diesen Sozialstrukturen Heranwachsenden „von klein auf mehr und mehr als ein Automatismus angezüchtet wird, als Selbstzwang“ (ebd.) und dergestalt regelrecht zu ihrer zweiten Natur wird. An anderen Stellen spricht er von einer psychischen „Selbstkontrollapparatur“ (ebd.) oder der „Selbstzwang-Apparatur“ (ebd., S. 331). Die gesellschaftliche Kontrolle, dieses Regelnetzwerk, wird dieser These nach in dem Maße internalisiert, ja zu einem Bestandteil ihrer/seiner selbst, als sie nicht mehr bewußt erfahrbar und deshalb automatisch reproduziert wird.

Die Stabilität dieser neuen Form der Selbstkontrolle, der Selbstregulierung, der Selbstbeherrschung steht wiederum „mit der Ausbildung von Monopolinstituten der körperlichen Gewalttat und mit der wachsenden Stabilität der gesellschaftlichen Zentralorgane in engstem Zusammenhang.“ (ebd. S. 331) Von diesen geht zwar gewöhnlich keine unmittelbare Bedrohung aus, wohl aber ist es „ein auf mannigfache Weise vermittelter und weitgehend voraussehbarer Zwang oder Druck, den sie beständig auf den Einzelnen“ (ebd. S. 337) ausüben.

Ein beständiger und gleichmäßiger Druck, Affektregelungen, Triebverzichte und Triebverwandlungen, die Fähigkeit zur Langsicht und die eigenen Handlungen rational zu kalkulieren, werden damit zu einem wesentlichen, weil notwendigen Bestandteil des individuellen Lebens, zur Bedingung für die Teilnahme an dieser Form von Gesellschaft.

Elias sieht also in den veränderten Sozialstrukturen im Sinne differenzierterer, komplexerer und verlängerter Interdependenz- und Handlungsketten und den Monopolinstituten der physischen Gewalt die „Geburtsstunde“ des „modernen“, nutzbaren und sich selbst kontrollierenden und beherrschenden Individuums. Daß wir uns mit diesen Erkenntnissen auf einem ideologischen Terrain bewegen, als diese Form der Konstitution des Individuums ideologisch ist (dazu gleich), wird von Elias, der hier die „neutrale“ Position des Beschreibenden einnimmt, allerdings nicht artikuliert.

Bevor wir uns im nächsten Abschnitt einem anderen wesentlichen Kritikpunkt an seinen Thesen widmen (siehe 1. 3.), wollen wir noch kurz einen Blick auf Foucault richten, als mit seinen historischen Analysen, im besonderen jenen der Formierung der sogenannten „Disziplinargesellschaft“, unser Verständnis erweitert bzw. bis hierher manch offen gebliebene Wissenslücke im Hinblick auf zwei wichtige Begrifflichkeiten aufgefüllt werden kann, mit denen der ideologische Charakter des Individuums klarer benannt wird und die uns in dieser Arbeit weiterhin begleiten werden. So wenig Raum Elias eben den Begriffen Macht und Herrschaft beimißt, umso gewichtiger und zentraler sind diese nämlich bei Foucault. Wie bei Elias beruht seine Argumentation auf der Analyse historischer Schriftquellen.

Während Elias die Geburtsstunde des „modernen“ Individuums als Folge veränderter Sozialstrukturen mit dem 17. Jahrhundert datiert, datiert Foucault (1998) im 17. und 18. Jahrhundert jene des „modernen“ Subjekts, als Folge der fortschreitenden Etablierung der Disziplinarprozeduren und schließlich der Formierung der Disziplinargesellschaft. Seine Argumentationsgrundlage bildet der Übergang der Macht des zentralen Souveräns zur Macht der Disziplinen, genauer: die Transformation der Bestrafungsmaßnahmen durch die Konstituierung einer institutionellen Strafgewalt, eines Disziplinarraumes, dem Gefängnis. In diesem Raum etablierten sich zunächst jene Disziplinardressuren, -maßnahmen und
-techniken, die im Laufe der Zeit die sich vervielfältigenden Institutionen erfaßten, sich allmählich auf wichtigere, zentralere und produktivere Bereiche der Gesellschaft erstreckten, die da wären: die manufakturmäßige Produktion, die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, der Kriegsapparat (vgl. Foucault 1998, S. 271), bis sie schließlich zu allgemeinen, den gesamten Gesellschaftskörper umfassenden Herrschaftsformen wurden (ebd. S. 269).

Die Disziplinarmacht wirkt anonym und funktionell, ihre Zielscheibe sind die einzelnen Körper, die es gilt, nutzbar zu machen und gleichzeitig zu unterwerfen.

Wo es also bei Elias die verlängerten Handlungs- und Interdependenzketten sind, die die (Selbst-)Kontrolle konstituieren und die Individuen nutzbar machen, sind es bei Foucault die Disziplinen als allgemeine, neue Herrschaftsformen, mit ihren „Methoden, welche die peinliche Kontrolle der Körpertätigkeiten und die dauerhafte Unterwerfung ihrer Kräfte ermöglichen und sie gelehrig/nützlich machen […].“ (Foucault 1998, S. 175) Eines der zentralen Elemente, mit denen sie (die Disziplinen) operieren, ist die Sichtbarkeit der Körper. Formuliert Elias die „Beobachtung anderer und seiner selbst“ als „Akt der Loslösung“ (s.o.), so ist bei Foucault (1998) eben diese aufgezwungene Sichtbarkeit, „gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das ständige Gesehenwerdenkönnen“ (S. 241) bereits Schlüssel und Produkt der etablierten Disziplinarmacht, die durch ihre unsichtbaren und unscheinbaren Techniken „das Disziplinarindividuum in seiner Unterwerfung festhält.“ (ebd.) Was Elias mit dem Begriff der Selbstzwang-Apparatur als Internalisierung der Verhaltenskontrolle beschreibt, formuliert Foucault (1998) als Internalisierung von Machtverhältnissen. „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung.“ (S. 260).

Genau diese charakteristische Wirkungskraft der Disziplinartechniken, mit denen die körperliche Vielfalt detailliert erfaßt, klassifiziert und hierarchisiert wird, um die Körper, die Kräfte und Fähigkeiten der Einzelnen nutzbar zu machen bzw. zu unterwerfen und gleichzeitig Normen zu bestimmen, bezeichnet Foucault als „neue >Mikrophysik< der Macht“ (ebd., S. 178).

Damit sind wir fürs erste am Ende unseres Besuches bei Foucault und wollen ihn mit einem passenden Zitat schließen: „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer >ideologischen< Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der >Disziplinen< produziert worden ist.“ (Foucault 1998, S. 249 f.)

Daß die Konstituierung des „modernen“ Individuums in einen ideologischen Kontext von Macht, Herrschaft und Unterwerfung eingebettet ist, sollte mit dieser kurzen Gegenüberstellung von Elias und Foucault veranschaulicht werden. Ein kritischer Blick auf Foucault wäre zwar spannend, würde allerdings eine genauere Vertiefung und Auseinandersetzung erfordern und somit den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.

1. 3. Kritische Analyse der Konzeption des „Individuums“ aus feministischer Sicht

Elias (1991) verweist in seinen Analysen nur an einer Stelle darauf, daß Frauen aufgrund ihrer speziellen gesellschaftlichen Position im Vergleich zu Männern erst viel später ins Individuumskonzept, in die Vorstellungen der eigenen Einzigartigkeit und Besonderheit, miteinbezogen wurden: „Selbst in den differenzierteren Staatsgesellschaften Europas breitet sich dieses Ideal, etwas Einzigartiges und Verschiedenes zu sein, zu haben oder zu vollbringen, und die Befriedigung, die ein Mensch in seiner Erfüllung findet, erst allmählich von kleineren über weitere Schichten hin aus, und auch da zunächst mehr unter Männern und weit langsamer unter Frauen, die gewöhnlich erst später, aufgrund besonderer gesellschaftlicher Bedingungen, einbezogen werden.“ (S. 192 f.) Die Vorstellungen der eigenen Einzigartigkeit beschränkten sich – mit dem Hinweis auf besondere gesellschaftliche Bedingungen – in ihren Anfängen also auf das männliche und bürgerliche Individuum. Damit eröffnet Elias zwar ein Problemfeld, beläßt es aber einzig bei dieser Feststellung. In dem Maße, in dem Macht und Herrschaft für ihn keine zentralen Kategorien darstellen, scheinen für ihn soziale Herrschaftsverhältnisse, wie z.B. das Geschlechterverhältnis, für eine weiterführende Analyse nicht von Bedeutung zu sein. Wir wollen nun diesem „Versäumnis“, zumindest im Hinblick auf die Geschlechterthematik, auf den Grund gehen und uns in diesem Abschnitt mit der Frage beschäftigen, warum „bereits in ihrer Entstehungszeit […] die Begriffe des Individuums, der Identität, mit völliger Selbstverständlichkeit männlich konzipiert“ (Bilden & Geiger 1988, zit.n. Bilden 1989, S. 28) waren.

1. 3. 1. Die Verbannung der Frauen ins Private

Während sich auf der einen Seite in den von Elias (s.o.) beschriebenen Pozessen allmählich ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von „innen“ und „außen“, als Folge der Verschiebung der Wir-Ich-Balance etablierte, so konstituierte sich auf der anderen Seite eine neue, grundlegende Dichotomie patriarchaler Geschlechtererordnung, nämlich die Trennung der privaten und öffentlichen Sphäre, die die geschlechtliche Aufgabenteilung bis heute grundlegend bestimmen sollte. Auch wenn wir es schon vor dieser Trennung mit einer patriarchalen Ungleichsetzung der Geschlechter und geschlechtlichen Aufgabenteilungen zu tun hatten, so begründete diese Dichotomisierung „die Zuständigkeit von Frauen für den neu entstandenen Bereich des Privaten.“ (Baatz 2002, o.S.) Diese Verbannung der Frauen ins Private setzte sich im Laufe der Zeit nicht nur in den bürgerlichen, sondern auch den proletarischen Haushalten durch (ebd.). So beschränkte sich die öffentliche, den Männern vorbehaltene Sphäre nunmehr auf die Berufs- bzw. Produktionsarbeit, die private auf Familien-, Haus- bzw. Reproduktionsarbeit.

Während auf der einen Seite, ab 1850, mit dem bürgerlichen Familienrecht die neue Form der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie die völlig rechtliche und finanzielle Abhängigkeit der Ehefrau festgeschrieben wurde (vgl. Gerhardt 1978), so sahen sich auf der anderen Seite zahlreiche männliche Philosophen dazu veranlasst, die Geschlechter mit eben jenen „typischen“ Eigenschaften und Fähigkeiten auszustatten, um die getrennten Zuständigkeiten als natürlich erscheinen zu lassen und damit zu legitimieren. Mit Rousseau, Kants Anthropologie sowie spezifischen Wochenzeitschriften für Familien wurden seit Ende des 18. Jahrhunderts die komplementären Geschlechtscharaktere mit ihren psychologischen Begrifflichkeiten entworfen, um eben die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu verbreiten (vgl. Bilden 1989, Hausen 1976, Wartmann 1982, Rosenbaum 1982).

Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Rationalität, Entschluß- und Tatkraft usw., wie wir sie noch heute als typisch männliche bezeichnen würden, wurden den Männern, solche wie Abhängigkeit, Emotionalität, Anschmiegsamkeit, Harmoniefähigkeit usw. den Frauen zugeschrieben. Nach Bilden (1989) zeigt sich darin, daß die „Vorstellung vom vernunftgeleiteten autonomen Individuum an das männliche Geschlecht geknüpft war.“ (S. 30) Jene Fähigkeiten und Eigenschaften, die fürs Bestehen in der öffentlichen Sphäre notwendig waren, galten damit dezidiert nur für männliche Individuen.

Durch die Verbannung in die Privatsphäre, was die rechtliche und finanzielle Abhängigkeit der Frau vom Mann begründete, hatten die Frauen aufgrund dieser konstruierten weiblichen Eigenschaften und Fähigkeiten dort einerseits die Funktion bzw. Rolle zu erfüllen, den autonomen Individuen, also den Männern, durch Fürsorglichkeit, Verständnis und Harmoniefähigkeit einen Raum für Erholung und Ruhe von der oftmals harten öffentlichen (Berufs-)Welt zu bieten und sie gleichzeitig wieder für diese zu stärken und aufzubauen. Andererseits waren sie für die Aufzucht der Kinder zuständig. „Den Frauen wurde ein Bereich, für den sie von Natur aus geschaffen seien, zugewiesen, in dem sie Schalten und Walten [sic!], unbezahlt ein Heim für den Mann schaffen und sich sonst aus allem heraushalten sollten.“ (Krondorfer & Mostböck 1997, S. 62)

1. 3. 2. Veränderungen und Fortschreibungen in der Moderne

Erst im 20. Jahrhundert wurde das Konzept des autonomen Individuums, vor allem in den westlichen Gesellschaften, so weit generalisiert, daß auch Frauen darin miteinbezogen wurden. Durch Faktoren wie steigende Lebenserwartungen von Frauen, sinkende Kinderzahl, sowie neue Erwerbsarbeitsmuster von Frauen, gerieten das Geschlechterverhältnis und die Geschlechterrollen in Bewegung, was die sogenannten Normalbiographien von Frauen veränderte (vgl. Bilden 1989, S. 31). Sie verschafften sich den Zugang zur öffentlichen Welt, was ihnen ein selbstbestimmteres Leben ermöglichte. Ihre Zuständigkeit für die Privatsphäre, für Familie und Haushalt, blieb jedoch im Großen und Ganzen unangetastet. Noch immer ist die Vorstellung bzw. Norm: „’Die Mutter gehört zum Kind!’“ (ebd.), fest in den Köpfen der Menschen verankert und bildet einen wesentlichen Kern des weiblichen Selbstverständnisses, so als wäre es eine „natürliche“, das heißt „angeborene“, Fähigkeit von Frauen, für Familie und Kinder zu sorgen. Daß hier nicht von Natur die Rede sein kann, sollte mit der historischen Analyse gezeigt werden.

Doch genau diese ungebrochene Zuständigkeit der Frauen für die Reproduktionsarbeit bestimmt den Fortbestand dieser konstruierten weiblichen Geschlechtsrolle, was das ungleiche Geschlechterverhältnis bis heute begründet.

Bilden (1989) sieht in der ‚weiblichen Identität’ einen „Widerspruch in sich, weil ‚Weiblichkeit’ Unterordnung und Abhängigkeit der Frau gegenüber dem Mann, Selbstlosigkeit der Mutter gegenüber dem Kind beinhaltet.“ (S. 32) Diese These, die auf eine Dekonstruktion dieser Form von Weiblichkeit abzielt, liefert ganz gewiß den Zündstoff für eine spannende Auseinandersetzung und weiterführende Diskussion, liegt aber außerhalb des Rahmens unseres Forschungsgegenstandes.

Mit diesen Ausführungen sollte zumindest veranschaulicht werden, daß die Konstituierung des (männlichen) Individuums in einen Kontext patriarchaler Geschlechterordnung eingebettet ist, deren Fortbestand die gesellschaftlich untergeordnete Position von Frauen bis heute determiniert. Damit entziehen wir dem Geschlechterverhältnis fürs erste unsere Aufmerksamkeit, diese Form sozialer Ungleichheit wird uns in der vorliegenden Arbeit jedoch in Kapitel II. noch einmal genauer beschäftigen.

1. 4. Das Individuum als Erkenntnisgegenstand der Psychologie

Haben wir in den letzten Abschnitten bereits mehrere grundlegende Aspekte im Hinblick auf den Begriff des Individuums thematisiert, so bilden diese wiederum eine wichtige Grundlage für den Zugang der Psychologie. Auch wenn wir diesen Begriff bzw. jenen der Individualität in psychologischen Wörter- und Handbüchern überhaupt nicht bzw. unzureichend definiert vorfinden (siehe Abschnitt 1. 1.), so baut die traditionelle wissenschaftliche Psychologie, ob es jetzt die Persönlichkeits- oder Differentielle Psychologie ist, die Test-Diagnostik, die allgemeine oder die experimentelle Sozialpsychologie, auf dem sich durch historische Prozesse veränderten Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, der Trennung von „innen“ und „außen“ bzw. der Verlagerung der Ich-Wir Balance auf und erklärt damit die einzelnen, von der Gesellschaft losgelösten, Individuen zu ihrem Forschungs- und Erkenntnisgegenstand (vgl. Buchholz 1987). In diesem Sinne bezeichnet Keupp (1993) die Psychologie als ein „Kind der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft“ (S. 226), mit dem Ziel, das „entdeckte bürgerliche Individuum“ (ebd.) gewissermaßen zu entschlüsseln und kultur- und kontextfreie, universelle Gesetze des Psychischen zu erforschen (ebd. S. 227). Um dem ideologischen Charakter der Psychologie und ihren Beschränktheiten genauer nachzuspüren, werden wir nun der Frage folgen, wie und mit welchem dahinterstehenden Menschenbild sie an ihren Erkenntnisgegenstand, das „Individuum“, herangeht.

Während die etablierte akademische Psychologie also die Gewordenheit des Individuums als Folge historischer Prozesse, welche das Einzelne und Einzigartige erst konkret hervorgebrachten (Elias, s.o., vgl. auch Zimmer 1991) und diese den individuellen Status bedingenden Prozesse nicht berücksichtigt, setzt sie es (das Individuum) als von der Natur gegeben voraus, so, als hätte es von Natur aus nichts mit der Gesellschaft zu tun. Rexilius (1987) drückt das folgendermaßen aus: „Weder Philosophie noch Soziologie haben jemals so konsequent wie die Psychologie den Gegenstand ‚einzelner Mensch’ aus all seinen sozialen, gesellschaftlichen, historischen Bezügen herausgelöst.“ (S. 749) Das psychologische Individuum erscheint also als „vereinzelt, innerlich frei, privat, persönlich unabhängig und subjektiv autonom.“ (Buchholz 1987, S. 491) Schwartz (1991) stellt in diesem Zusammenhang die wichtige Frage, was „von dem Anspruch einer Erkenntnis zu halten [ist], wenn sie das Individuelle als gegeben voraussetzt und sich damit zufrieden gibt, Strategien der Annäherung an es zu entwerfen?“ (S. 18)

Auf diesen Grundlagen fußend ist es der etablierten Psychologie nicht möglich, den Menschen als gesellschaftliches Wesen zu begreifen und zu beforschen. „Indem sie sich in ihrer Betrachtungsweise mit Individuen auseinandersetzt und diese als solche zu erfassen trachtet, ist es ihr nicht mehr möglich, diese in Relation zu ihrer nicht physikalischen Umwelt zu setzen. Der einzelne Mensch wird nicht mehr in Sinnzusammenhängen begreifbar, sondern nur noch in scheinbar bedeutungslos nebeneinander stehende Einzelfunktionen zerlegt.“ (Fürnkranz 1998, S. 249) Dementsprechend entziehen sich gesellschaftliche Bestimmtheiten, wie strukturelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse, denen die Einzelnen unterworfen sind, dem Blick dieser Form von Psychologie, ja sie werden regelrecht negiert. Bestimmend ist einzig und allein die Psyche des einzelnen Menschen.

Wenn sich die Psychologie sodann der Erforschung gesellschaftlicher Phänomene annimmt, wird dergestalt an sie herangegangen, als entweder die Summe oder der Durchschnitt von „psychischen Äußerungen“ von Einzelnen behandelt werden. „Die Gesellschaft erscheint dann einfach als eine additive Häufung von vielen einzelnen Individuen [als „Masse der Individuen“, siehe 1. 1.], die statistische Bewältigung von psychischen Fakten statt als ein unentbehrliches Hilfsmittel vielmehr als Ziel und als stärkster Beweisgrund der psychologischen Forschung.“ (Elias 1991, S. 20 f.) Durch diese Erforschung der vielen Einzelnen werden Klassifikationsmodelle entworfen, mit dem Ziel, Normen zu konstituieren. Mit dieser Klassifizierungs- bzw. Normalisierungsmacht stellt sich die Psychologie in den Dienst einer ideologischen Funktionslogik, deren angestrebtes Ergebnis die (soziale) Kontrolle der Individuen ist.

Dieses Menschenbild und dessen Naturalisierung bilden des weiteren die Grundlage dafür, daß aus dem daraus folgenden traditionell-psychologischen Selbstverständnis das Subjekt zum Objekt verkehrt wird, was nicht nur in der Forschungsmethodik (z.B. Experimentalpsychologie usw.), sondern auch in den abgeleiteten Theorien und Interpretationen ihrer Ergebnisse zum Ausdruck kommt. Damit ist dieses Menschenbild „unfähig, den widersprüchlichen Prozeß gesellschaftlicher Bestimmtheit und aktiven subjektiven Handelns abzubilden (Holzkamp 1972).“ (Mattes 1987, S. 1111) Dementgegen sollte eine Wissenschaft, deren Erkenntnisgegenstand der Mensch ist, berücksichtigen, daß der in der Welt handelnde Mensch durch seine „Aktivität die Konstruktion strukturierter Modelle veranlasst“ (Granger 1967, S. 200, zitiert nach Schwartz 1991, S. 17), sie verändert und mitgestaltet.

Zudem wird der Status, der den Subjekten vor allem in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen zugeschrieben wird, nur mit (psychologischen) Kategorien wie Persönlichkeit, Selbst, Identität etc. beschrieben (vgl. Buchholz 1987, S. 491), die „aus ihnen selbst“ emergieren – ohne gesellschaftliche Bedingtheit. Die Psychologie kann sozusagen den Begriff des Individuums nur in Begriffen fassen, „die nicht auf den gesellschaftlichen Grund durchschlagen.“ (ebd.) Hier stehen wir vielleicht jener Antwort gegenüber, die uns über die mangelnde bzw. Nicht-Präsenz der Begriffe Individuum, Individualität in den psychologischen Wörterbüchern aufklärt.

Zudem liegt diesem Menschenbild ein weiterer, kritisch zu betrachtender, Aspekt zugrunde. So wird jegliche Problematik, die ursprünglich gesellschaftlicher Natur war, den Individuen selbst als ihnen eigene Problematik angelastet. „In diesem Fall spricht man kritisch von einer sog. Individualisierung oder Psychologisierung gesellschaftlicher Phänomene. Praktisch findet man psychologistische Vorstellungen von gesellschaftlichen Zusammenhängen häufig in psychologischen Erklärungen von politischen Prozessen. Jene erscheinen als naturbedingt, weil deren Ursachen in der Psyche des Individuums angelegt seien.“ (Fellner 1998, S. 483) Auch in diesem Kontext erfüllt die Psychologie wiederum die (ideologische) Funktion der Verschleierung von Herrschafts- und Machtverhältnissen (ebd.).

Dieses, in der traditionellen Psychologie verankerte, Menschenbild bietet sich aber nicht nur dafür an, gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern bzw. zu negieren, sondern auch noch deren Stabilisierung zu dienen, indem sich psychologische Erkenntnis als dienstbare Wissenschaft – „ökonomisch, aber dann zwangsläufig inhaltlich – herrschenden Interessen verpflichtet.“ (Grubitzsch & Rexilius 1987, S. 1237).

Auch wenn die etablierte akademische Psychologie ihre „Beschränktheiten“ in den letzten Jahren zu begreifen begann, Lebens- und Arbeitsverhältnisse, der Alltag von Menschen usw. immer stärker in den Blick genommen, statt ausschließlich quantitative Methoden auch qualitative verwendet werden, finden kritische Theorien, die Herrschaftsverhältnisse nicht nur abstrakt in Frage stellen, sondern sie für körperliches und psychisches Leid von Menschen verantwortlich machen (z.B. die Kritische Psychologie), nur selten bzw. gar keine Aufnahme in psychologische Wörter- oder Handbücher (Grubitzsch & Rexilius 1987, S. 1237), geschweige denn in akademisch-institutionelle Gefilde. Gerade die Kritische Psychologie, die sich als (marxistische) Subjektwissenschaft versteht und dabei nicht nur darauf beschränkt bleibt, die Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten von Subjekten gegenüber den gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnissen zu thematisieren, sondern auch die Perspektive einer gemeinsamen und selbstbestimmten Befreiung aus diesen zum Gegenstand hat (vgl. Weber 1998, S. 476), findet in der sog. „Mainstream-Psychologie“ noch immer keine Beachtung.

Dieses Kapitel ließe sich noch weiter fortsetzen und ausbauen, was aber nicht Ziel dieser wissenschaftlichen Arbeit sein kann bzw. soll. Spannend wäre in diesem Zusammenhang bestimmt noch eine Darstellung der Persönlichkeits- oder Differentiellen Psychologie, deren ideologischer Charakter mittels einer kritischen Analyse zum Vorschein kommen würde (siehe dazu Holzkamp 1985, Schmid 1987, Rexilius 1987 und 1998), doch sollten die Ausführungen dieses Kapitels die „problematische“ Konzeption der traditionellen wissenschaftlichen Psychologie – zumindest in Ansätzen – deutlich genug aufgezeigt haben. Daß eine kritische wissenschaftliche Arbeit, wie die vorliegende, nicht auf solchen Konzepten aufbauen kann, sondern sie als unbrauchbar verwerfen muß, versteht sich (nun quasi) von selbst.

1. 5. Der Begriff der Individualisierung

Legten wir in den letzten Abschnitten unser Augenmerk in erster Linie auf den Begriff des „Individuums“, so erweitern wir unser Forschungsinteresse nun um einen neuen Begriff, jenen der „Individualisierung“. Damit sind wir am eigentlichen Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit angekommen, weshalb wir uns zunächst auf eine kurze Begriffsdefinition beschränken und dessen genauere Analyse erst in Kapitel II. fortsetzen.

Wie bereits die beiden Begriffe „Individuum“ und „Individualität“, scheint auch der Begriff der „Individualisierung“ nichts in psychologischen Wörterbüchern verloren zu haben, weshalb kein Weg daran vorbei führt, eine entsprechende Definition aus einer anderen wissenschaftlichen Disziplin, der Soziologie, heranzuziehen.

Nach einem ersten Blick in ein soziologisches Wörterbuch läßt sich sofort erkennen, daß es keine einheitliche Definition bzw. Verwendung des Begriffs der „Individualisierung“ gibt, was bereits auf dessen Komplexität hinweist. Verschiedene Wissenschafter wie eben Elias und Foucault, Georg Simmel, Karl Marx oder Ulrich Beck haben in verschiedenen Epochen den Begriff der Individualisierung mehr oder weniger konkret theoretisiert und definiert (Fuchs-Heinritz, Lautmann & Rammstedt 1995). Zur Erklärung dieses Entwicklungsprozesses werden also unterschiedliche Deutungsmuster herangezogen (vgl. Ebers 1995, S. 21).

Da wir uns in dieser Arbeit zu einem großen Teil an Becks Individualisierungsbegriff anlehnen werden, soll sich die nun folgende Definition auf seine Konzeption beschränken.

Individualisierung: „In U. Becks I.sthese (1983, 1986) Bezeichnung für einen Zentralvorgang in der gegenwärtigen modernen Gesellschaft: Die die Lebensführung der Menschen bisher ordnenden großen Gußformen (Zugehörigkeit zu Klasse bzw. Schicht, Familie und Konstellationen von Mann und Frau sowie von Erwachsenen und Kindern, – bei den Männern – lebenslange Berufsarbeit usw.) verlieren an Ordnungskraft; absehbar werde eine dominant aufs Schicksal des einzelnen (Arbeitsmarkt-Individualisierung, aber auch Dominieren von individuellen Interessenlagen in bisherigen Primärgruppen, besonders in Ehe und Familie) zentrierte Lebensform. Solche Freisetzung sei begleitet von Verlusten (Einbindung in traditionale Orientierungssysteme, in hergebrachte Solidargruppen usw.) sowie insbesondere von einer – unter Bedingungen des Wohlfahrtsstaates – radikalen Steigerung der Abhängigkeit der Lebensführung von institutionellen Vorgaben, Regelungen und Standardisierungen des Lebenslaufs. Es entstehe eine Art von direktem Verhältnis zwischen individualisierter Existenzform und staatlich gesellschaftlichen Vorgaben (das die I. weiter zu steigern tendiert).“ (Fuchs-Heinritz, Lautmann & Rammstedt 1995, S. 292 f.)

Auch wenn uns diese erste Definition bereits einige Anhaltspunkte zu dessen Widersprüchlichkeit und Komplexität liefern kann, bleibt die spezifische Funktionsweise des Individualisierungsprozesses wohl noch sehr unklar. Es ist Zeit, sich nun dessen genauerer Analyse zu widmen.

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