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IV. Jugendliche im Kontext von Individualisierung und kapitalistischen Verwertungsinteressen

Weil es dem Titel nach den Anschein macht, als würden wir die sozialstrukturelle Ebene nun verlassen und unsere Aufmerksamkeit auf die subjektive verlagern, sollte wohl gleich vorweggenommen werden, daß auch in diesem Kapitel insofern die sozialstrukturelle Ebene im Vordergrund stehen wird, als hier versucht werden soll, die gegenwärtigen strukturellen Lebensbedingungen von Jugendlichen im Hinblick auf Individualisierung und kapitalistische Verwertungslogik ins Zentrum zu rücken. Wie die Subjekte, in diesem Fall die Jugendlichen, diese gegebenen Strukturen ganz konkret wahrnehmen, verarbeiten, reproduzieren und bewältigen, soll erst im empirischen Teil dieser Arbeit im Mittelpunkt unseres Forschungsinteresses stehen.

„Jung-Sein“, „Jugendlich-Sein“, „Jugend“ sind Begriffe, die ganz bestimmte Assoziationen wecken. Mit der im öffentlichen Diskurs verbreiteten Vorstellung von „Jugend“ wird ein Lebensstil propagiert, der sich in der heutigen Gesellschaft insoweit durchsetzte, als die ihm zugeordneten Attribute wie frisch, dynamisch, flexibel, frei, innovativ, attraktiv etc. inzwischen von allen Altersklassen zum kollektiven Maßstab erstrebenswerter individueller Lebenspraxis erhoben wurden. Dieser kursierende Mythos, der den Köpfen und Projektionen der Erwachsenenwelt entspringt (vgl. Ferchhoff 1999, S. 13), konstruiert und definiert „Jung-Sein“ nicht nur, sondern verschleiert ganz massiv die spezifischen Anforderungen dieses „Lebensstils“, dieser (schwierigen) Lebensphase.

Ganz konkret manifestiert sich diese Verschleierung beispielsweise in den gängigen pauschalisierenden sozialwissenschaftlichen Generationstypologien. Hier ist beispielsweise die Rede von der „freizeit- und erlebnisorientierten Schonhaltungsgeneration“, der „markenorientierten und markenbewußten Konsumgeneration“, der „fun- und thrillorientierten Erlebnisgeneration“, der „individualisierten Generation“ etc. (vgl. Ferchhoff 1999, S. 87). Neben der Mißachtung der Anforderungen wird durch derart schubladenhafte Typisierungen und Verallgemeinerungen, die ohne kritische Hinterfragung vom öffentlichen Diskurs vereinnahmt werden, eine gesamte Generation von Jugendlichen klassifiziert und abgestempelt (ebd. S. 86 f.). „Die gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens Jugendlicher bleiben notwendigerweise außer Betracht, ebenso wie ihre Bedürfnisse, die Arten und Weisen ihrer Verarbeitung gesellschaftlicher Gegebenheiten und Einflüsse.“ (Rathmayr 1990, S. 111) Auch die Fragen, wie, warum und unter welchen Umständen bestimmte Trends und Orientierungen überhaupt zustande kommen, werden nicht aufgegriffen, geschweige denn beantwortet.

Beginnen wir nun, diese mythisierten, klassifizierenden Diskurse aufzuschlüsseln und gehen wir dem auf den Grund, was die „Lebensphase Jugend“ bedeutet, welche strukturellen Anforderungen und Lebensbedingungen vor dem Hintergrund voranschreitender Individualisierungsprozesse bewältigt werden müssen.

Wie in den letzten Kapiteln wird uns auch in diesem wieder ein Autor, nämlich Wilfried Ferchhoff, bis zum Schluß begleiten, allerdings liegt sein Forschungsschwerpunkt nicht prinzipiell auf dem Zusammenhang von „Jugend“ und Individualisierung, vielmehr bearbeitet er das Thema „Jugend“ allgemein bzw. im Hinblick auf Jugendstile und -kulturen. Auch die anderen AutorInnen, die hier zitiert werden, konzentrieren sich, wenn überhaupt, auf spezifische Teilaspekte dieses Zusammenhangs und so gilt es nun, all diese allgemeinen und spezifischen Erkenntnisse, die verschiedenen Zugänge zum Forschungsgegenstand „Jugend“, miteinander zu verknüpfen und einen roten Faden zu spannen, mit dem Ziel, den Zusammenhang zwischen „Jugend“ und Individualisierung auf umfassende Weise zum Ausdruck zu bringen.

Unterzogen wir in den letzten Kapiteln manch verwendete/n AutorIn bzw. Theoretiker (diese waren nur männliche) einer Kritik, so wollen wir auch den nächsten Abschnitten eine wesentliche „Schwachstelle“ einiger AutorInnen voranstellen. So werden die verschärften Anforderungen und Bedingungen, denen die Jugendlichen in Zeiten voranschreitender Individualisierung ausgesetzt sind, zwar als „Schattenseiten“ (vgl. z.B. Ferchhoff 1999, S. 15; Heitmeyer et al. 1995) bezeichnet, damit beschränkt sich deren Kritik aber lediglich auf die negativen Symptome bzw. Auswüchse der bestehenden Strukturen und Verhältnisse. Da wir in den vorangegangenen Kapiteln unsere Position im Hinblick auf eine grundlegende Herrschafts- bzw. Kapitalismuskritik bereits erarbeiteten, wollen wir uns hier nur in einem Abschnitt (1. 1. 1.) auf die genannte „Schwachstelle“ konzentrieren und unser Hauptaugenmerk, den AutorInnen folgend, ebenfalls auf die negativen Symptome und Auswüchse richten.

 

1. Jugendzeit als gesellschaftliche Anforderung

„Jugendzeit ist für einen Großteil der heute Heranwachsenden nicht mehr nur primär Übergangsphase oder Durchlaufstadium (von der Kindheit zum Erwachsenenstatus), also nicht nur „Vorbereitungszeit auf etwas Späteres“ (Karriere, materieller Wohlstand in der Zukunft etc.), sondern immer mehr eine eigenständige Lebensphase, die eine eigene, nicht mehr wiederholbare Lebenszeit einschließt.“ (Brinkhoff & Ferchhoff 1990, S. 111) Dieser These folgend, wandelte sich die gesellschaftliche Position der Jugendlichen von einer eher abwartenden hin zu einer aktiven, eigenständigen Position. Mehr Eigenständigkeit heißt mehr Unabhängigkeit, aber auch mehr Selbstverantwortung und bedeutet für Jugendliche – in der Logik des Individualisierungsprozesses gesprochen – zunächst „die Chance, die eigene Entwicklung und die persönliche Biographie frei von allen sozialen Zwängen und unabhängig von der sozialen Herkunft gemäß den individuellen Interessen und Ansprüchen, Bedürfnissen und Zielvorstellungen zu planen und gegebenenfalls zu realisieren.“ (Mansel 1995, S. 18) So dargestellt erscheint der Individualisierungsprozeß erneut als ein „Projekt“ mit emanzipatorischem Potential; daß dieses jedoch auch für die Jugendlichen nicht einlösbar ist, sollte mit unseren bisherigen Kenntnissen sofort ins Auge stechen.

Folgen wir dem sozialwissenschaftlichen Diskurs, so haben wir es seit Mitte der 70er Jahre in dem Sinne mit einer zunehmenden Individualisierung der Jugendbiographie zu tun, als Jugendliche nun viel früher dazu „ermächtigt“ sind, jenseits der ehemals erwachsenen Autoritäten und Institutionen selbständig Entscheidungen zu treffen (vgl. Georg 1997, S. 431 f.). Ganz gewiß sprechen viele Indizien dafür, daß sich das strukturelle Machtgefälle zwischen den Generationen wandelte, können doch die gegenwärtigen Jugendgenerationen beispielsweise viel früher und intensiver an zentralen gesellschaftlichen Lebensbereichen (z.B. den Konsummärkten) teilnehmen (vgl. Ferchhoff 1999, S. 63), haben aufgrund der Bildungsoffensive mehr Entscheidungsspielräume hinsichtlich der beruflichen Lebensplanung und sind früher unabhängig und losgelöst von den Eltern durch die stärkere Rolle der Gleichaltrigengruppe bzw. „Peer-Group” (vgl. Heitmeyer et al. 1995, S. 64). Doch mit dieser scheinbaren Absage an alte Normen und Zwänge wurden neue eingetauscht, die in ihrer „sanften“ und subtilen Beschaffenheit viel schwieriger zu verorten sind. Genauer gesagt wirken die alten Normen und Zwänge in neuer Form, „unterhalb der Ebene subjektiver Wahrnehmung der Jugendlichen noch prägend weiter.“ (ebd. S. 43) Damit lassen sich „die mit der (scheinbaren) biographischen Freiheit erstarkten Ansprüche an die zukünftige Biographie“ (ebd.) häufig nicht einlösen. In diesem Sinne ist es auch hier wichtig, Individualisierung nicht nur als „neue“ Chance der individuellen Lebensgestaltung für Jugendliche zu diskutieren, sondern die damit verbundenen gesellschaftlichen Anforderungen, Normen und Zwänge herauszuarbeiten (vgl. Bilden & Diezinger 1984, S. 191).

Um uns nun einen Einblick in die spezifischen strukturellen Anforderungen der Lebenswelt von Jugendlichen zu verschaffen, brauchen wir uns zunächst nur jene der Erwachsenenwelt vor Augen zu führen. „So gilt es zu bedenken, daß Jugendliche genauso wie ihre Eltern in Statushierarchien und Rangsystemen leben, die erste, zweite aber auch letzte Plätze kennen.“ (Brinkhoff & Ferchhoff 1990, S. 117) Durch den Vergesellschaftungsmodus der Individualisierung sind die Heranwachsenden bereits sehr früh damit konfrontiert, sich ihren Platz in der jeweiligen Lebensstruktur zu erkämpfen. Darin spiegelt sich auch in jugendlichen Lebenswelten die Konkurrenzlogik, stärker und besser zu sein als die anderen, wider (vgl. Brinkoff & Ferchhoff 1990, S. 116). „Erfolg des einzelnen hängt von seinem Einsatz in den zunehmenden Konkurrenzsituationen ab.“ (Heitmeyer et al. 1995, S. 41) Der positive „Vollzug“ dieses Konkurrenzmusters besteht allerdings immer mehr darin, „feinste Bewertungshierarchien in jeder sozialen Umgebung aufzuspüren und sich in ihnen nach oben zu arbeiten“ (Brater 1997, S. 153 f.).

Daß diese ständig zunehmende individuelle Konkurrenz- und Leistungsstruktur, die lebenszeitlich immer früher einsetzt (vgl. Heitmeyer et al. 1995, S. 64), ganz wesentlich zum Bestehen kapitalistischer Märkte beitragen, wurde bereits in Kapitel III. genau dargestellt. Die sich aus diesen Strukturen speisenden Maximen wie Wechselhaftigkeit, Mobilität, Flexibilität, Einzigartigkeit, Erfolg, Selbstverwirklichung etc. kennzeichnen das Programm, mit dem die industriewirtschaftlichen Prämissen perfekt umgesetzt werden (vgl. Heitmeyer et al. 1995, S. 64). Dies erklärt auch, warum sich die Mehrheit der Jugendlichen sehr stark an diese leistungs- und erfolgsorientierten Werte der modernen Lebensführung ausrichten (vgl. Brinkoff & Ferchhoff 1990, S. 117). Folglich scheinen sich immer mehr jugendliche Lebensbereiche unter das Diktat des „freien Wettbewerbs“ (vgl. Ferchhoff 1999, S. 58) und ökonomischer Kalküle zu stellen, „denn auch das Kulturelle und das Soziale werden heute rein ökonomisch, ja betriebswirtschaftlich vermessen.“ (ebd.)

Indem nun die Entwicklung einer eigenständigen individuellen Planung der eigenen Lebensbiographie an die Teilnahme und den individuellen Einsatz am Wettbewerb gebunden ist, kann die durch die Individualisierung „versprochene“ bzw. vermittelte individuelle Unabhängigkeit auch für Jugendliche nicht realisiert werden. Gleichzeitig gilt hier jedoch zu bedenken, daß die zu mehr Entscheidungsfreiheit und Eigenständigkeit ermächtigten Heranwachsenden unter den sich immer verschärfenderen Konkurrenzbedingungen und
-zwängen folglich zunehmend auf sich selbst verwiesen sind und sich dabei für ihr „Schicksal“ selbst zu verantworten haben. Entsprechend der Individualisierung sozialer Ungleichheit (siehe Kapitel II., 2. 1. 3.) wird auch von Jugendlichen individueller „Erfolg“ (gemeint als „Aufstieg“ innerhalb der gegebenen sozialen Strukturen) als „Eigenleistung“, „Mißerfolg“ als individuelles und persönliches Scheitern betrachtet, was die Dynamik der Konkurrenzstruktur weiter vorantreibt. Indem das persönliche Versagen jedoch als selbstverschuldet erlebt wird, muß es auch individuell bewältigt und verarbeitet werden (vgl. Ferchhoff 1999, S. 56).

Mit dieser Individualisierung der „Scheiternsrisiken“ geht jedoch der Blick verloren, daß es in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit strukturell verankert ist, auch für Jugendliche ganz entscheidend von der jeweiligen Rang- bzw. Startposition abhängt, wer aus diesem (Konkurrenz-)Kampf als „GewinnerIn“ oder „VerliererIn“ hervorgeht. Tatsache ist jedenfalls, daß sich „die Schere zwischen armen und reichen Jugendlichen […] inzwischen auch in Europa immer weiter“ (Ferchhoff 1999, S. 64) öffnet.

Daß sich die objektiven Chancenstrukturen zur Realisierung der individuellen Lebensplanungskonzepte im Sinne des Erwerbs einer „sozial anerkannten“ Position unter den Rahmenbedingungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklungen, wie sie in Kapitel III. dargestellt wurden, weiterhin verschärfen, trifft gerade die Jugendlichen besonders hart. Verunsicherungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklungen und andere Ereignisse, die die zukünftigen Chancen für die selbstverantwortliche Herstellung der eigenen Biographie bedrohen, prägen den jugendlichen Alltag ganz entscheidend (vgl. Mansel 1995, S. 17). Nicht zuletzt hängt gerade wegen der gegenwärtigen Entwicklungen und den damit implizierten Verunsicherungen die „erfolgreiche“ Bewältigung der strukturellen Anforderungen in der Jugendphase nicht mehr primär von der Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen, sondern ganz entscheidend und immer mehr von jener mit sozialen, kulturellen, mit Selbstbehauptungs- und Selbstorganisationskompetenzen ab, deren Erwerb allerdings vom sozialen Umfeld der Person geprägt und bestimmt wird (ebd., S. 96). Damit ist als logische Konsequenz die „erfolgreiche“ Bewältigung der jugendspezifischen Anforderungen sehr stark an die milieu- bzw. geschlechtsspezifische Sozialisation, das heißt an die ungleichen Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse, gebunden.

Darüber hinaus ist zu erwarten, daß Jugendliche im Gegensatz zu Erwachsenen noch nicht in „ausreichendem“ Maße über die geforderten Bewältigungskompetenzen und Erfahrungen verfügen (ebd. S. 141), was eine „erfolgreiche“ Bewältigung dieser Lebensphase zur Leistung schlechthin werden läßt. „Die geänderten Rahmenbedingungen in Kindheit und Jugend stellen die Heranwachsenden insgesamt vor schwierigere Aufgaben, stellen sozusagen an das Aufwachsen höhere Leistungsanforderungen.“ (Vollstädt & Tillmann 1999, S. 8) Schließlich ist es nicht weiter verwunderlich, wenn viele Jugendliche oftmals Schwierigkeiten haben, „mit den hohen Anforderungen und Erwartungen, die an die eigene Lebensführung gestellt werden, zurechtzukommen.“ (Ferchhoff 1999, S. 62, vgl. auch Haberlandt et al. 1995, S. 88)

Die Erforschung der konkreten Auswirkungen und Folgen der sozialen Anforderungen, mit denen die Jugendlichen konfrontiert sind, wollen wir in diesem Kapitel nun nicht mehr genauer thematisieren, da sie in der anschließenden empirischen Erhebung von zentralem Interesse sein werden.

Bevor wir uns jedoch diesem Forschungsschwerpunkt zuwenden, gilt es, die Anforderungsstrukturen konkreter individualisierter Räume gesellschaftlicher Praxis von Jugendlichen darzustellen und einer weitreichenderen Analyse zu unterziehen: die (gegenwärtigen) Ausbildungs- bzw. Arbeitsmärkte und Konsummärkte.

 

1. 1. Individualisierung im Zentrum von Schule, Ausbildung und Arbeitswelt

Um uns einen Einblick in diesen „Sektor“ jugendlicher Lebensrealitäten zu verschaffen, werden wir uns in erster Linie an jenen Phänomenen orientieren, vor deren Hintergrund die gegenwärtigen Anforderungen an Jugendliche zu verorten sind: die Entwicklungen und Folgen der Bildungsexpansion, die aktuelle Krise und die damit verbundenen strukturellen Veränderungen der Ausbildungs- und Arbeitsmärkte.

1. 1. 1. Die Folgen der Bildungsexpansion

Im öffentlichen Diskurs wird die Bildungsexpansion der 70er und 80er Jahre, deren Auswirkungen in die heutige Gegenwart hineinreichen, zumeist als Errungenschaft von hohem politischen und gesellschaftlichen Wert betrachtet. Auch wenn ich mich grundsätzlich dieser Sichtweise anschließen kann, sollten wir uns vor Augen führen, daß die damit propagierten Ideale wie: mehr Chancengleichheit, größere (vor)berufliche Selbstverwirklichungsmöglichkeiten etc. zwar theoretisch realisiert werden können, aber in der Praxis nur unter erheblichen Anstrengungen und Mühen der Einzelnen und selbst dann oftmals nicht einlösbar sind. Diese „Scheiternsrisiken“ oder „Schattenseiten“ werden von einigen der hier zitierten AutorInnen zwar benannt, sie stellen sich allerdings nicht die grundsätzliche Frage, welche Funktion Bildung bzw. Ausbildung in einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft haben und welche Interessen und Ziele damit verfolgt werden. Vor diesem Hintergrund greift deren Kritik im Hinblick auf die Verschärfung der gegenwärtigen Bildungsstrukturen zu kurz. Um unser diesbezügliches Verständnis der sog. „Schattenseiten“ oder „Scheiternsrisiken“ zu erweitern, wollen wir nun kurz veranschaulichen, wie das etablierte Bildungssystem von seinem Prinzip her soziale Ungleichheit, Unterwerfungszwänge und damit Herrschaftsverhältnisse konstituiert bzw. produziert und den Rahmen der sog. (vor)beruflichen „Selbstverwirklichung“ begrenzt und kontrolliert. Ein dementsprechender Einstieg in eine solch umfassendere Darstellung wäre eine kurze Analyse der Funktion und Funktionsweise der Institution Schule.

1. 1. 1. 1. Struktur und Funktion der Institution Schule

Wenn wir also die gegenwärtige Struktur und Funktion der Institution Schule verstehen und diskutieren wollen, so führt auch hier kein Weg daran vorbei, auf den historischen Kontext, auf die Genealogie dieser Institution zu verweisen. In diesem Zusammenhang können wir erneut auf Foucault (1998) rekurrieren, dessen Erkenntnisse sich nicht nur auf die Konstituierung von Gefängnissen beschränken, sondern sich auch auf andere Institutionen, wie eben jene der Schule beziehen. So ist, seinen Thesen folgend, die Schule ebenfalls ein Produkt der Disziplinarmacht und folglich eine Disziplinaranlage, als sich vor allem auch in dieser Institution Disziplinartechniken etablierten. Eine genauere Vertiefung in die Genealogie bzw. Ideologiekritik der Schule nach Foucault findet sich beispielsweise bei Holzkamp (1995), wir wollen es hier aber bei diesem kurzen historischen Verweis belassen und unseren Blick auf den Disziplinar-, Kontroll- und Verwertungscharakter der Institution Schule, wie wir sie heute vorfinden, zuwenden. Daß sich dieser Forschungsgegenstand dazu anbieten würde, unendlich viele Seiten zu füllen, wie dies von Holzkamp (1995) bestätigt wird, macht es natürlich schwierig, sich auf eine kurze Diskussion zu beschränken. Deshalb können hier nur einige Aspekte angerissen werden.

Ohne uns näher mit den schulischen und pädagogischen Konzepten von Neill (1969) auseinandersetzen zu wollen, dessen Buch Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung vor allem in den sechziger Jahren den öffentlichen Diskurs erreichte (und inzwischen leider wieder marginalisiert wird), werden wir dennoch mit einem Zitat von ihm direkt in unsere Kritik einsteigen:

„Es liegt auf der Hand, daß eine Schule, die tatendurstige Kinder an Schreibtische zwingt und sie Dinge lernen läßt, die meistens nutzlos sind, eine schlechte Schule ist. Nur jene unschöpferischen Mitbürger, deren Kinder fügsam und unschöpferisch bleiben sollen, damit sie in eine Gesellschaft passen, deren Erfolgsmaßstab Geld heißt, können eine solche Schule für richtig halten.“ (Neill 1969, S. 22)

Daß die etablierte Form von Schule nicht nach den Bedürfnissen der Subjekte ausgerichtet ist, zeigt sich bereits in diesem kurzen Textausschnitt, als hier einige wesentliche „problematische“ Strukturen bzw. Funktionen dieser Institution angesprochen werden: die räumliche Anordnung bzw. Platzzuweisung der SchülerInnen, die (Fremd-)Bestimmung der Lerninhalte, strukturelle Unterordnungszwänge und schließlich die Ausrichtung an die kapitalistische Verwertungslogik.

So haben die zahlreichen äußeren Reglementierungen (aufgezwungener Zeitrhythmus, Zwang zum Stillsitzen, Essen nur in der Pause etc.) die Funktion, daß „Disziplin und Gehorsam […] durch systematischen Drill zum inneren Bedürfnis werden.“ (Sanin 1999, S. 51) Damit erfüllt die Institution Schule auch in ihrer heutigen Ausformung ganz gezielte Kontroll-, Normierungs- und Disziplinierungsfunktionen.

Oberstes Steuerungsprinzip der schulischen Struktur ist der „Wettkampf“ um die abstrakte Belohnung individueller Leistung in Form von Noten. Damit wird das Sozialverhalten, die zwischenmenschlichen Beziehungen der SchülerInnen, bereits in sehr frühem Alter einem strukturell vorgegebenen Konkurrenzverhältnis unterworfen. „Schüler-Schüler-Beziehungen sind gerade heute wesentlich vom Leistungs- und Konkurrenzprinzip bestimmt: Der – vom Lehrer vorgenommene – soziale Leistungsvergleich und die Knappheit guter Noten machen die Schulklasse zum wirksamsten Erfahrungsfeld von Konkurrenz.“ (Ulich 1991, S. 384)

Durch diese Form der Reglementierung zwischenmenschlichen Verhaltens sollen schließlich jene Verhaltensweisen erlernt werden, die man/frau dazu benötigt, „um als egoistischer Privateigentümer der Ware Arbeitskraft (oder auch anderer Waren) im späteren kapitalistischen Erwerbsleben, in den Zwängen des Marktes und der Produktion zu überleben.“ (Ottomeyer 1977, S. 226) In diesem Sinne ist die Schule auch eine Vorbereitung auf die spätere Härte des kapitalistischen Erwerbslebens (vgl. ebd., S. 220).

In diesem Zusammenhang muß aber noch eine weitere Funktion von Schule betont werden. So hat sie nicht nur den Auftrag, die äußere gesellschaftliche Realität bzw. Ordnung so weit zu vermitteln, als sie von den Subjekten als einzig- und allgemeingültige Norm übernommen werden soll, sondern auch jenen, die kapitalistischen Arbeitsmärkte bzw. „die verschiedenen gesellschaftlich präformierten Berufslaufbahnen mit entsprechend qualifizierten bzw. >berechtigten< Individuen zu bedienen.“ (Holzkamp 1995, S. 389) Damit konstituiert und produziert sie soziale Ungleichheit im Hinblick auf ungleiche Ränge bereits etablierter Berufsbilder. Gerade die „Bewertungstotalität“ (ebd., S. 380) der Notengebung legitimiert die scheinbar natürliche Selektionspraxis, als damit bestimmt wird, wer in höhere Stufen aufsteigt und wer zurückbleibt (vgl. ebd.). „Durch die normalisierende Differenzierung der Noten auf den Klassendurchschnitt hin werden, da so immer gute und schlechte Noten in einem bestimmten Verhältnis herauskommen, zwangsläufig und automatisch jene Unterschiede und Ungleichheiten produziert, aufgrund derer immer nur ein Teil der Schülerinnen/Schüler in höhere Klassen und Schulzweige aufsteigen kann.“ (ebd., S. 381)

Auch wenn sich die Disziplinierungs-, Kontroll- und Verwertungslogik der schulischen Strukturen noch weiter ausbauen ließen, wollen wir es hierbei belassen. Daß sich die Schule von ihrem Prinzip her nicht nach den Bedürfnissen der SchülerInnen, sondern nach den „Bedürfnissen“ der kapitalistischen Ordnung richtet, sollte zumindest angedeutet werden. Die Tatsache, daß sich manche Schulprojekte verstärkt an den Wünschen und Vorstellungen der SchülerInnen orientieren oder die autoritäre Praxis in manchen stärker und in manchen schwächer ausgeprägt ist, widerspricht inofern nicht den dargestellten Überlegungen, als die prinzipiellen Strukturen, vor allem die Noten bzw. andere, sich auf die Norm beziehende Bewertungsformen, dennoch bestehenbleiben (zumindest in den staatlichen Schulen).

1. 1. 1. 2. Inflation und Entwertung der Bildungsabschlüsse

Versuchen wir nun, auf der Grundlage des letzten Diskurses aufbauend, uns die Folgen der Bildungsexpansion zu vergegenwärtigen. So gilt grundsätzlich zu bedenken, daß die Heranwachsenden aufgrund der Bildungsexpansion länger in schulischen Strukturen verweilen und damit auch länger mit den andiskutierten Disziplinar-, Kontroll- und Konkurrenzprinzipien konfrontiert sind, weshalb es nicht angebracht erscheint, die schulischen und vorberuflichen Institutionen, wie z.B. Brinkhoff & Ferchhoff (1990), als „Schutzraum“ (S. 112) zu bezeichnen. Bereits unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, ist eine Bildungsexpansion nur begrenzt emanzipatorisch.

Nichtsdestotrotz erweiterte dieser vorangetriebene und forcierte Zugang zu Bildung und Ausbildung die Chancen und Möglichkeiten der (beruflichen) Lebensplanung. Gerade für sozial benachteiligte Jugendliche, Mädchen und junge Frauen wurde durch den Ausbau und die Öffnung weiterführender Bildungsgänge zwar eine wichtige Voraussetzung zur Realisierung einer Lebensplanung jenseits alter Traditionen geschaffen, diese wird in der Praxis allerdings, wie wir schon gehört haben, nur begrenzt eingelöst. „Nach wie vor entscheidet […] die regionale und soziale Herkunft junger Menschen über ihre Bildungschancen.“ (Kytir & Münz 1994, S. 34) Wer eine weiterführende Schule besucht, eine Lehre absolviert oder als An- oder Ungelernte/r sofort ins Erwerbsleben einsteigt, wird also nach wie vor von der sozialen Position der Eltern und dem Geschlecht entschieden (ebd.).

Auch wenn wir mit dem Habitus-Begriff von Bourdieu bereits ein wesentliches Prinzip der Reproduktion sozialer Ungleichheit darstellten (siehe Kapitel II., 2. 1. 3. 1.), wollen wir hier noch andere Strukturen und Prinzipien beleuchten, die erklären, warum es an der Umsetzung der vergrößerten Bildungsmöglichkeiten und -chancen in der Praxis oftmals scheitert.

Indem durch die Bildungsexpansion eine verlängerte Verweildauer von Jugendlichen im Bildungssystem forciert wurde, wurde schulische und vorberufliche Bildung auch zu einer immer wesentlicheren Voraussetzung für die Wahrung und Verbesserung der zukünftigen Beschäftigungschancen (vgl. Ferchhoff 1999, S. 186, vgl. auch Olk & Strikker 1990, S. 172). Parallel zur Aufwertung schulischer und vorberuflicher Bildung stieg auch die gesellschaftliche Wertschätzung schulisch-beruflichen Erfolges. Damit entwickelte sich das stärker ausdifferenzierte Bildungssystem zu einem immer wichtigeren Instrument „sozialer Plazierung“ (vgl. Kytir & Münz 1994, S. 30). Vor diesem Hintergrund beginnt für die SchülerInnen trotz der längeren Verweildauer in schulischen bzw. vorberuflichen Institutionen nun „immer früher die konkurrenzbezogene Fixierung und Planung der beruflichen Zukunft.“ (Heitmeyer et al. 1995, S. 41; Hervorh. K.H.)

In logischer Konsequenz sind die beruflichen Chancen durch die deutliche und bis heute zu verzeichnende Zunahme von mittleren und höheren Schulabschlüssen in weitaus höherem Maße an den Abschluß eines möglichst hohen Bildungszertifikates gebunden (vgl. Olk & Strikker 1990). Die Frage ist nur, ob die altehrwürdige Logik, daß das Durchlaufen schulischer Bildungswege auch gleichzeitig die Realisierung beruflicher Wunschvorstellungen, eines gesicherten Einkommens und eines hohen Lebensstandards garantiert, eingelöst werden kann (vgl. Ferchhoff 1999, S. 186).

Die Kehrseite der Medaille ist vielmehr, daß die Anhebung der Ausbildungs- und Qualifikationsniveaus zugleich zu einer Entwertung aller Bildungsabschlüsse führte (ebd.). Neben dieser „Inflation schulischer Zertifikate“ (vgl. Olk & Strikker 1990, S. 172) haben wir es gleichzeitig mit einer Aufwertung zusätzlicher Leistungskompetenzen und Selektionskriterien zu tun. „Dies heißt, daß sich bei formaler Chancengleichheit aufgrund schulischer Zertifikate die Konkurrenzbeziehungen der Individuen auf die Ebene sozialer und personaler Kompetenzen verlagern.“ (ebd.) Die individuelle Ausstattung mit den entsprechenden psychischen und sozialen Kompetenzen, die im sozialwissenschaftlichen Fachjargon mit den von Bourdieu (1983) begründeten Begriffen des „kulturellen“ und „sozialen Kapitals“ bezeichnet werden, steht jedoch in direktem Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der Jugendlichen. Indem nun die Ausstattung mit diesen „sanft“, nicht unmittelbar wirkenden Kapitalien zum neuen Maß der Leistungsbewertung erkoren wird, werden, wie bereits in Abschnitt 1. andiskutiert, schulischer und späterer beruflicher „Erfolg“ von den Jugendlichen vermehrt als Eigenleistung, „Mißerfolg“ als persönliches Versagen erlebt. Damit wird „Erfolg“ und „Mißerfolg“ „immer weniger mit einer kollektiv geteilten unterprivilegierten Lage bzw. sozialen Herkunft in Zusammenhang gebracht“. (Olk & Strikker 1990, S. 173) Von gleichen Startchancen unter Jugendlichen kann demnach keine Rede sein (vgl. Zimmermann 2000, S. 29).

Halten wir kurz noch einmal fest: Die individuellen Chancen und Möglichkeiten zur Gestaltung der beruflichen Zukunft erweiterten sich durch die Bildungsexpansion, jedoch mit dem Preis der Steigerung, Ausdifferenzierung und fortschreitenden Individualisierung der schulischen Leistungsanforderungen und damit der Verschärfung der zwischenmenschlichen Konkurrenzstrukturen. Die alten, weil in den Bildungsinstitutionen verankerten, Ungleichheitsrelationen wirken jedoch weiter. Indem sich allerdings die (ungleichen) Lebenschancen immer mehr von „harten Fakten zu feinen Signalen“ (vgl. Strikker & Timmermann 1986, zit.n. Olk & Strikker 1990, S. 172) verschieben, werden die Jugendlichen für ihr schulisches und berufliches Schicksal zunehmend selbst verantwortlich gemacht.

Die Schul- bzw. Ausbildungszeit weiterhin als „Schonzeit“ zu bezeichnen, erscheint anhand der skizzierten Verschärfungen an Leistungsanforderungen noch unplausibler.

Damit wenden wir unseren Blick von den strukturellen Folgen der Bildungsexpansion ab und verlagern unsere Analyse auf die aktuellen Entwicklungen jugendspezifischer Ausbildungs- und Arbeitsmärkte.

1. 1. 2. Jugendlicher Alltag an der Schwelle von Ausbildung zur beruflichen Tätigkeit: zur aktuellen Lage des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes

„Der Statuswechsel vom Jugendlichen zum Erwachsenen wird maßgeblich bestimmt durch die Integration der Jugendlichen ins Erwerbsleben.“ (vgl. Heitmeyer et al. 1995, S. 84). In diesem Sinne wird grundsätzlich zwischen zwei Statuspassagen unterschieden, zum einen dem Übergang von der Schule in die Ausbildung, zum anderen jenem von der Ausbildung in die abhängige Beschäftigung (ebd.).

Neben der im letzten Abschnitt skizzierten Ausdifferenzierung und Verschärfung der schulischen Leistungsanforderungen müssen sich viele Jugendliche heutzutage dem beinharten leistungsindividualisierten „Verdrängungswettbewerb vor allem um äußerst knappe, keineswegs ausreichende […] Arbeits- und Ausbildungsplätze“ (Ferchhoff 1999, S. 188) stellen. Die Gefahr, keinen Ausbildungs- bzw. Arbeitplatz zu finden, betrifft nun keineswegs mehr ausschließlich bildungsbenachteiligte „Randgruppen“. Trotz der Abwertung schulischer Abschlußzertifikate erleichtern schulische Abschlüsse zwar den „direkten Übergang in eine beruflich vollqualifizierende Ausbildung und erlauben den Eintritt in die attraktiveren Ausbildungsgänge“ (Zimmermann 2000, S. 70), sind aber keine Garantie mehr für späteren beruflichen Erfolg. Die Anzahl jener Jugendlichen, die trotz aller Bemühungen, Anstrengungen und aufzuweisenden Abschlüssen (Schul-, Hochschul-, Lehr- und Arbeitsabschlüsse) den „Sprung“ in ein Ausbildungs- bzw. Beschäftigungsverhältnis nicht schaffen, nimmt deutlich zu (vgl. Ferchhoff 1999, S. 64). Viele müssen im Kampf um den erwünschten Ausbildungsplatz unter diesen Umständen ihre beruflichen Wunschvorstellungen aufgeben bzw. auf andere Ausbildungsberufe oder Bildungsgänge ausweichen (vgl. Olk & Strikker 1990). Diejenigen, die bei diesem Kampf völlig „leer“ ausgehen, werden zunächst in sog. staatlich eingerichtete und finanzierte (Berufs-)Qualifizierungsmaßnahmen mit relativ beschränkten Wahlmöglichkeiten gedrängt, wo sie sich anhand von Coaching-Seminaren die erfolgversprechenden sozialen Kompetenzen aneignen sollen; d.h. in erster Linie dafür ausgebildet werden, sich für den Arbeitsmarkt „attraktiver“ zu machen.

Aus all dem folgt, „daß die Wahlmöglichkeiten bei der Ausbildungsplatzsuche und die beruflichen Karrieremöglichkeiten weiter restringiert werden, was zudem durch die Blockierung und den Wegfall von höher angesiedelten Berufspositionen verschärft wird.“ (Heitmeyer et al. 1995, S. 91)

Vor diesem Hintergrund kommt der in der frühen Jugendphase geforderten Entscheidung für die Berufswahl ein immer größeres Gewicht zu und wird damit zum wichtigen Faktor für den Verlauf des späteren Erwerbslebens. Aus dieser Situation heraus wird jedoch der „Erfolg“ oder das „Scheitern“ im Rahmen der angestrebten Berufslaufbahn einerseits „als Konsequenz der selbstgetroffenen Entscheidungen verstanden“ (Mansel 1995, S. 19) und andererseits den unzureichenden individuellen Bemühungen und Leistungen zugeschrieben und nicht etwa den strukturellen Bedingungen wie dem objektiven Mangel an Ausbildungsplätzen (ebd.).

Weil nun die Nachfrage nach Ausbildung und Beruf durch das bestehende Angebot nicht gedeckt wird, wird Arbeitslosigkeit zu einer realen Bedrohung für Jugendliche (vgl. Zimmermann 2000). Dabei verschlechtert sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt insbesondere für jüngere Bevölkerungsgruppen zunehmend (ebd., S. 35). Gerade weil genügend formal qualifizierte bis hochqualifizierte Fachkräfte verfügbar sind, werden nun soziale Kompetenzen und Fähigkeiten, wie bereits erwähnt: Selbstdarstellung, Flexibilität, Kreativität, Eigeninitiative, hohe Anpassungs-, Weiterbildungs- und Einsatzbereitschaft zu immer wichtigeren Kriterien der Leistungsbeurteilung (ebd.). Damit sind die Jugendlichen immer stärker „auf sich selbst als Personen und ‚Zentren ihres Arbeitsmarktschicksals’ verwiesen“. (ebd. S. 175) (Stichwort: „UnternehmerIn eigener Arbeitskraft“; siehe Kapitel III., 1. 3.)

Unter all diesen Gesichtspunkten gestaltet sich der Übergang von der beruflichen Ausbildung in die Erwerbstätigkeit als besonders kritische Phase (ebd. S. 65, vgl. Mansel 1995, S. 22). Auftretende Schwierigkeiten (z.B. Arbeitslosigkeit) können entscheidende Folgen und prägende Wirkungen für den Verlauf des weiteren Erwerbslebens haben (z.B. langfristige Einkommenseinbußen, schlechte Arbeitsverhältnisse) (ebd. S. 66, vgl. auch Sacher 1998, S. 169, Olk & Strikker 1990, S. 168).

Auch durch die Logik neoliberaler Wirtschaftspolitik, welche die Durchsetzung neuer und in erster Linie unsicherer Formen von Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeitarbeit, freie Werkverträge, etc.), wie sie bereits weiter oben diskutiert wurden (siehe Kapitel III., 1. 3.), begünstigt und forciert, gestaltet sich der Übergangsprozeß von der Ausbildung in die Beschäftigung zunehmend kritischer (vgl. Sacher 1998). Damit ist die aktuelle staatliche Arbeits- und Wirtschaftspolitik an der „Gestaltung dieser kritischen Übergangsphase junger Erwachsener aktiv beteiligt.“ (vgl. Olk & Strikker 1990, S. 165)

„Aufgrund der auch in Zukunft zunehmenden Anzahl von Schulabgängern ist zu erwarten, daß die Probleme der Jugendlichen auf ihrem Weg in das Erwerbsleben auch zukünftig nicht abnehmen, sondern sich im Gegenteil verstärken.“ (Zimmermann 1990, S. 241) In diesem Zitat manifestiert sich allerdings eine verkehrte Sichtweise von Ursache und Wirkung. So sollte die Ursache der Probleme wohl nicht der steigenden Zahl von SchulabgängerInnen, also wieder den Jugendlichen selbst, in die Schuhe geschoben werden, sondern vielmehr dem etablierten Wirtschaftssystem mit den dahinter stehenden staatlichen Politiken.

1. 1. 3. Berufliche Selbstverwirklichung und Individualität als leistungsmotivierende Faktoren

Im Hinblick auf die dargestellten Verschärfungen und Mißstände der gegenwärtigen Ausbildungs- und Arbeitsmärkte möchte man/frau wohl eine dementsprechend schwindende Arbeits- und Leistungsmotivation bei Jugendlichen vermuten. Jedoch entgegen allen Vermutungen ist ein leistungsorientiertes Selbstverständnis für junge Menschen von hoher Relevanz: „Man will seine Leistungsfähigkeit erfahren und sich auch in der Leistungserbringung bestätigt sehen. (Schulz 1994, S. 223) Verständlicher wird uns diese Haltung, wenn wir berücksichtigen, daß auch die Jugendlichen den stark ausgeprägten, gesellschaftlich propagierten Ansprüchen nach (vor)beruflicher Selbstverwirklichung gerecht werden wollen (vgl. Mansel 1995, S. 20). „Der Großteil der Jugendlichen […] ist vom starken Wunsch geprägt, die eigenen Möglichkeiten optimal zu entfalten. Begriffe wie Selbstverwirklichung und Individualität stehen im Zentrum persönlicher Zukunftswünsche.“ (Friesl, Richter & Zulehner 1994, S. 49)

Mit dem Ziel einer eigenständigen, selbstbestimmten, kreativen, flexiblen, die eigenen Fähigkeiten herausfordernden beruflichen Tätigkeit vor Augen ist man/frau schließlich bereit, größere „Opfer“ im Sinne einer erhöhten individuellen Leistungsbereitschaft zu erbringen. Dies erklärt auch, warum es sich beim Arbeitsverständnis von Jugendlichen um ein zutiefst „individualistisches“ handelt (vgl. Olk & Strikker 1990, S. 181).

Indem der Grad an Selbstverwirklichung direkt am (vor)beruflichen Erfolg gemessen wird, wird verständlich, warum „fast alle berufstätigen Jugendlichen (…) bereit [sind] (91%), zusätzlich Anstrengungen auf sich zu nehmen, um später einmal eine bessere Berufsposition zu bekommen; man würde längere Ausbildungszeiten und zusätzliche Kurse auf sich nehmen und zusätzliche Qualifikationen anstreben. Nur 8% der Jugendlichen geben an, daran kein Interesse zu haben.“ (Schulz 1994, S. 223)

Weil die neuen, bereits mehrfach benannten, Leistungs- und Selektionskriterien wie Eigenständigkeit, Flexibilität, Kreativität, Selbstverantwortung etc., den verbreiteten Vorstellungen von Individualität und Selbstverwirklichung entsprechen, werden sie nicht mehr als von „außen“ gesetzte Anforderungen, sondern als von „innen“ geleitete Bedürfnisse, Ansprüche und Fähigkeiten erlebt. Die „getarnte“ Fremdbestimmung wird als Selbstbestimmung gefeiert.

In anbetracht der Ausbildungs- und Arbeitsplatzmisere und der arbeitsmarktlogischen Tendenz zur „Reduktion dieser Individualität aufs Arbeitskraft-Sein“ (Bilden & Diezinger 1984, S. 203) fördert dies jedoch gerade auch bei jungen bzw. zukünftigen ArbeitnehmerInnen die Herausbildung subjektiver Verarbeitungsformen, „die es ihnen ermöglichen sollten, trotz des Aufschubes der Verwirklichung bestehender Ansprüche ihre jeweilige Positionierung auf dem Ausbildungsstellen- und Arbeitsmarkt als im großen und ganzen positiv zu definierendes Resultat eigener biographiebezogener Anstrengungen und Leistungen zu interpretieren.“ (Olk & Strikker 1990, S. 185)

 

1. 2. Individualisierung im Zentrum der Konsumindustrie

1. 2. 1. Das Geschäft mit den Jugendlichen

Ein Merkmal der Logik kapitalistisch organisierter Gesellschaften ist es, alle darin aufwachsenden Individuen als KonsumentInnen ernst zu nehmen. Von daher werden z.B. schon Kinder in der Welt des Konsums „von klein auf […] für voll genommen und wie Erwachsene behandelt“. (Unverzagt & Hurrelmann 2001, S. 121) Als potentielle/r KonsumentIn, KundIn und KlientIn sowie als KonsumberaterInnen für ihre Eltern werden Kinder und Jugendliche immer früher in eine Welt eingebunden, die von kommerzieller Konkurrenz geprägt ist. Vor diesem Hintergrund beginnen die Unterschiede zwischen dem Erwachsenenstatus und dem Jugend- und Kindheitsstatus nicht nur hinsichtlich der (vor)beruflichen Anforderungen, sondern auch jener der Konsummärkte immer mehr zu verschwinden (ebd. S. 70). Gleichzeitig bleibt jedoch diese Aufforderung bzw. Ermächtigung der „unmündigen“ Altersgruppen, am öffentlichen Leben zu partizipieren, auf die Beteilung an den etablierten Konsummärkten beschränkt (vgl. Rathmayr 1990).

Jugendliche gelten heute als besonders konsumfreudige, ja sogar als die konsumfreudigste Bevölkerungsgruppe (vgl. BAT 1997, S. 395). Aufgrund des immer selbstverständlicher werdenden Jugendeinkommens (in der Regel finanziert durch Eltern und Großeltern) sind Kaufkraft und differenzierter Massenkonsum von Jugendlichen deutlich angestiegen (vgl. Ferchhoff 1999, S. 205). Auch wenn Jugendliche im Vergleich zu anderen Altersgruppen ganz besonders von Armut betroffen sind, haben sie heute relativ viel Geld zur Verfügung, das zur Ausgabe einer immer größer werdenden Bandbreite von Konsumgütern vorgesehen ist (ebd.). „Weil sie Geld haben, über Geld bestimmen und mit jedem Jahr mehr Geld haben“ (Unverzagt & Hurrelmann, 2001, S.75) wurden sie zur heiß umworbenen Zielgruppe offensiver Markt- und Werbestrategien, „was eine zunehmende Kommerzialisierung ihrer Lebenswelten nach sich zieht.“ (ebd., S.51)

Vor diesem Hintergrund spricht die enorme Entwicklung der auf Jugendliche zugeschnittenen Konsum-, Waren- und Freizeitmärkte eine eindeutige Sprache. Immer ausdifferenziertere Konsumgüter wie Kleidung, Kosmetik, Körperpflegeartikel, Mopeds, Motorräder, Autos, CDs, Print-Medien (insbesondere Jugendzeitschriften) und Fernsehen, Gaststätten-, Disco- und Kinobesuche, Rauchen und andere Genußmittel, diverse elektronische Accessoires (Stereoanlagen, Walkman, Minidisc, CD-Player, Videorekorder, Computer, Handy etc.), Fitneß- und Sport-Artikel, Spielhallenbesuche, neue Formen des Jugendtourismus u.v.m. (vgl. Ferchhoff 1999, S. 207), kennzeichnen die jugendspezifische Ausrichtung der gegenwärtigen Konsumwelten.

Die Konsumorientierung und die Bereitschaft von Jugendlichen, sich die Freizeit und damit den Konsum etwas kosten zu lassen, nehmen zu (vgl. Unverzagt & Hurrelmann 2001). Besonders auffallend „ist die Abhängigkeit von teuren Konsumangeboten und die Bereitschaft, dafür Schulden zu machen.“ (ebd., S.25) Während die einen einen Nebenjob (neben der Schule oder in den Ferien) in Kauf nehmen, um die zusätzlichen Verdienste in erster Linie für den Erwerb von Konsumwünschen auszugeben (vgl. Ferchhoff 1999, S. 206), leben die anderen oftmals „gerne“ über ihre Verhältnisse. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen geben zu, sie würden in der Freizeit des öfteren zuviel Geld ausgeben (vgl. BAT 1997, S. 395). „Sofort kaufen, was einem einfällt, Wunscherfüllung sofort, Genießen, ohne Reue sind die Imperative und Lebensmaximen, die dieser, der Logik des Marktes folgenden warenproduzierenden Gesellschaft inhärent sind“ (Ferchhoff 1999, S. 206) und die die Schuldenbereitschaft der Jugendlichen vorantreiben.

Dem zufolge entdeckten inzwischen auch Banken den gestiegenen „Marktwert“ von Jugendlichen. Eigene JugendberaterInnen wurden eingesetzt, die sich um die Geldgeschäfte der jungen KundInnen kümmern und ihnen spezielle Konten verbunden mit besonderen Konditionen und Serviceleistungen anbieten (vgl. Unverzagt & Hurrelmann 2001, S. 80). Einen besonderen Anreiz stellen die kostengünstigen Clubmitgliedschaften für Jugendliche dar, die ihnen durch verbilligte Eintrittskarten den Zugang zu einem breiten Angebot an kulturellen Veranstaltungen und „Events“ erleichtern. Daß die Banken aber nicht aus der Logik heraus agieren, die Bedürfnisse ihrer jungen KundInnen zu befriedigen, sondern in erster Linie die eigenen Interessen verfolgen, zeigt sich in dem sich ausweitenden Kreditwesen speziell für junge BankkundInnen, das deren gestiegene Schuldenbereitschaft geschickt ausnutzt (vgl. Rathmayr 1990, S. 116).

Die gestiegene Konsumorientierung, Abhängigkeit von Konsumangeboten und Verschuldungsbereitschaft von Jugendlichen weisen also deutlich darauf hin, daß die voranschreitende Umwerbung und Kommerzialisierung jugendlicher Interessen, Bedürfnisse und Lebenswelten ein gewinnbringendes und lukratives Geschäft sind.

Die Frage, die sich uns an diesem Punkt jedoch stellt, ist, warum dieses Geschäft so gut funktioniert. Was treibt die Jugendlichen dazu an, den Interessen der Konsumindustrie derart entgegen zu kommen? In Kapitel III. gingen wir der Funktionsweise und dem Zusammenhang des Konsumverhaltens mit der kapitalistischen Verwertungslogik bereits auf den Grund. Nun sollen jedoch jene Mechanismen und Faktoren im Mittelpunkt unseres Forschungsinteresses stehen, die das konsumorientierte Verhalten von Jugendlichen vorantreiben.

1. 2. 2. (Jugend-)Konsum als Ausdruck von Individualitätsansprüchen und sozialer Anerkennung

Ganz gewiß spüren Jugendliche, daß sie im öffentlichen Leben nirgends so ernst genommen werden wie in ihrer Rolle als KonsumentInnen. Ja gerade in einer Zeit, in der die Konsumgüterindustrie gezeichnet ist von Schnell- und Kurzlebigkeit und der rasche Fortschritt – vor allem der technischen Produkte – immer unüberschaubarer wird, „genießen“ Jugendliche regelrechte „Wettbewerbsvorteile“ gegenüber den Erwachsenen, da sie beispielsweise im Computer-Bereich als die „Experten und Lehrmeister der Älteren“ (Ferchhoff 1999, S. 204) gelten. Diese Statusgewinne gegenüber den Erwachsenen spielen „gerade auch als Chance zur Distinktion und ‚sozialen Anerkennung’, aber auch als Chance zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung eine bedeutsame Rolle.“ (ebd., S. 206) Alles, was gerade „in“, zeitgemäß und neu ist, wird nun von Jugendlichen als Ausdruck individueller Lebenspraxis und eines individuellen Lebensstils propagiert und begehrt (vgl. BAT 1997, S. 395). Konsumorientiertes Konkurrenzverhalten als Chance der Verwirklichung sozialer Anerkennung und der Individualitätsansprüche stellt damit auch für Jugendliche ein zentrales Anliegen und Konsummotiv dar.

Begeben wir uns nun ein Stück weiter in die konkrete Lebenswelt von Jugendlichen und schauen uns an, wie ihre sozialen Strukturen und Beziehungen jenseits jener der Erwachsenenwelt durch konsumorientierte Verhaltensweisen geprägt sind.

1. 2. 2. 1. Konsumorientierung als Statusaufwertung in der Gleichaltrigengruppe

Von besonders großer Bedeutung für Jugendliche ist die Gleichaltrigengruppe (Schulklasse und noch mehr die Clique), „deren Bedeutungszugewinn parallel zu den gesellschaftlichen Individualisierungsschüben verlaufen ist“ (Heitmeyer et al. 1995, S. 64) und jenseits von Elternhaus und Schule entscheidende Funktionen sozialer Integration übernahm. Zugehörigkeit zu einer Gleichaltrigengruppe wurde durch deren Bedeutungszugewinn zur sozialen Norm, verleiht aber auch gleichzeitig sozialen Status und soziale Anerkennung, „die über Leistung, Attraktivität und Stärkedemonstration“ (ebd.) erworben werden können. Soziale Distinktion durch Konkurrenzverhalten ist nun die neue und „sanfte“ Form sozialer Kontrolle, mit der wir es bei der Struktur von Gleichaltrigengruppen zu tun haben (vgl. Brinkhoff & Ferchhoff 1990)

Welche Rolle kommt nun aber dem Konsum in der Gleichaltrigengruppe zu? (Freizeit)Konsum wird gerade in Gleichaltrigengruppen, die aufgrund des vielfältigen Angebots an Ausdrucksmöglichkeiten ganz bestimmte Lebensstile verkörpern und propagieren, als Mittel sozialer Positionierung bzw. Selbst- und Statusaufwertung genutzt (vgl. Ferchhoff 1999, S. 206) „Das schnelle, grenzenlose, aber auch das gezielte Konsumieren des richtigen In-Produkts zur richtigen In-Zeit ist nicht nur in die Alltagskultur von Jugendlichen eingewandert, sondern gehört zum Ritual der Gruppen- bzw. Cliquenzugehörigkeit des In- bzw. Hip-Seins, das insbesondere in den Gleichaltrigenszenen herausgebildet, definitionsmächtig festgezurrt und auch ständig kontrolliert wird.“ (ebd., S. 206)

Teilnahme am Konsum, als Mittel sozialer Zugehörigkeit und Selbstaufwertung, verschafft Selbstsicherheit und Ichvertrauen (vgl. Unverzagt & Hurrelmann 2001, S. 159). Aufgrund des identitäts- und sicherheitsstiftenden Charakters von Gleichaltrigengruppen ist es – solange man/frau dazugehören möchte – kaum möglich, sich dem Gruppen- bzw. Konsumdruck zu entziehen (ebd., S. 20). Um dort mitzuhalten bzw. „Statusgewinne“ verzeichnen zu können, ist es erforderlich, die jeweils etablierten konsumspezifischen Anforderungen, Praktiken und den dort „anerkannten“ Lebensstil zu erfüllen, was ein spezifisches Leistungsvermögen voraussetzt (vgl. Brinkhoff & Ferchhoff 1990, S. 118, vgl. auch Ferchhoff 1999, S. 207). Beispielsweise verschulden sich viele Jugendliche, „um nicht außen vor zu bleiben.“ (Unverzagt & Hurrelmann 2001, S. 85) Derartige Konsumpraktiken als Mittel zur sozialen Integration und Anerkennung sind demnach auch für Jugendliche gleichermaßen wie für Erwachsene ganz klar mit spezifischen (Leistungs-)Anforderungen verbunden.

Die Logik der Marktstrategien und der Jugendkonsummärkte baut nun ganz gezielt auf dieser konsumorientierten Dynamik der Gleichaltrigengruppen und -szenen auf. Die immer vielfältigeren Angebote an immer differenzierteren Stilen und Produkten treiben diese Dynamik ständig weiter voran. Zudem wurden Jugendliche direkt in den Dienst der Konsum- und Werbeindustrie gestellt und erhielten in ihrer Rolle als ImpulsgeberInnen und WarenpromoterInnen (vgl. Unverzagt & Hurrelmann 2001, S. 32) die Funktion, „bestimmte Produkt- und Markeninformationen aus der Werbung weiterzugeben und ein Markenimage zu schaffen.“ (ebd., S.20) Mit ihrer Unterstützung sollen die angepriesenen Angebote und Erlebnisse und die „Glücksbotschaften“ der Konsum- und Werbeindustrie, welche die Erfüllung der kleinen und großen Träume versprechen, verbreitet, materielle an die Stelle immaterieller Werte gesetzt werden (ebd., S. 159).

Aus all dem folgt, daß Jugendliche in ihrer „freien“ Zeit dazu aufgefordert sind, den etablierten Konsumansprüchen ihres sozialen Umfeldes möglichst gerecht zu werden, was von der industriellen Warengesellschaft über den Verkauf von Konsumgütern und Unterhaltungswaren entsprechend geschickt genutzt wird. „Das soziale Überleben in einer dynamische [sic!] Hierarchie von Statusgruppen, in denen jeder Einzelne den Aufstieg will und den Abstieg fürchtet, hat das physische Überleben gewissermaßen ersetzt, aber mit der Unausweichlichkeit von Naturereignissen Konsumstandards gesetzt, die so fest und starr sind, dass sie auch bei sinkendem Einkommen beibehalten werden.“ (Unverzagt & Hurrelmann, 2001, S.68) Konsumverhalten, als Teilnahme am sozialen Leben, wurde damit zur normalen, selbstverständlichen und notwendigen Form jugendlicher Freizeitbedürfnisse (vgl. Rathmayr 1990, S. 115). „Freiheit, zu tun, was man will, wird auf diese Weise zur Freiheit zu wählen, was einem vorgesetzt wird, Teilhabe am Leben dieser industriellen Gesellschaft wird Teilhabe an ihren Produkten auch in der ‚freien’ Zeit.“ (ebd.)

Im Anschluß an die skizzierte gruppenorientierte Dynamik jugendlicher Konsumpraxen werden wir uns nun einem weiteren Konsumprinzip zuwenden, was uns einen genaueren Einblick in aktuelle Konsumformen und -trends verschaffen soll.

1. 2. 2. 2. Konsumorientierung als „neue“ Form der „Ich-Zentrierung“

Auf der Suche nach „neuen“ Formen individueller Lebenspraxis spielt in der gegenwärtigen Alltagskultur die Fähigkeit zur Selbstdarstellung und Selbstinszenierung eine immer herausragendere Rolle. „Sport, Fitness, Gesundheit, Vitalität, Erotik, Kraft, Spaß, Schönheit, Jugendlichkeit und Körperkapital und vor allem Fun erfahren einen niemals zuvor erlebten Aufschwung und sind die Metaphern und Themen, die in dieser individualisierten, erlebnisorientierten und erlebnishungrigen Gesellschaft“ (Ferchhoff 1999, S. 157) zu kollektiven Idealen erklärt wurden. Ideale haben sozialen Aufforderungscharakter und leisten in kapitalistischen Gesellschaften sozialen Normierungsprozessen und kapitalistischen Verwertungsinteressen Vorschub, wenn dies auch noch so geschickt „getarnt“ wird. Den Individuen stehen nun die verschiedensten „Medien“ zur Verfügung, diesen Idealen zu folgen und ihr soziales Handeln daran zu orientieren. Wenden wir uns nun der Frage zu, welche diesbezüglichen Verwertungsinteressen speziell die Jugendlichen erfüllen.

1. 2. 2. 2. 1. Auf der Suche nach der „idealen“ Selbstdarstellung

Den zeitgemäßen Idealen folgend, wurde gerade auch von Jugendlichen der eigene Körper, als Ausdruck jugendspezifischen Kapitals, zum neuen Prestigeobjekt und Statussymbol erkoren und wird „zur sozialen Plazierung und vor allen Dingen zur individuellen visuellen Attraktivitätssteigerung eingesetzt, modelliert und mit Unterstützung entsprechender Accessoires stilisiert.“ (Brinkhoff & Ferchhoff 1990, S. 101 f.) Schönheit und gutes Aussehen sollen – den gefragten Schönheitsnormen entsprechend – auf möglichst unkonventionelle und spaßorientierte Art und Weise, gleichzeitig der Logik von Warenmärkten folgend, durch Konsum und Erwerb der vielfältigen Güter und Dienstleistungen nach dem „alles ist möglich“-Prinzip verwirklicht und um jeden Preis „erkauft“ werden. Der Preis ist jedoch nicht nur einer in Geld zu messender, sondern vor allem auch ein in physischen und psychischen Anstrengungen und Leistungen zu bemessender.

Vor diesem Hintergrund gehen Sport und Mode ein immer engeres Bündnis ein (vgl. Ferchhoff 1999, S. 157). Beides sind „Medien“, anhand derer die Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung und Integration, nach Zugehörigkeit und Selbstdarstellung eingelöst werden können. Schlank, schön und sportlich sein demonstriert Eigenständigkeit, Durchsetzungsvermögen und Leistungsstärke und wird damit zum Garant gesellschaftlichen Erfolges. Erfolg wird damit wesentlich über diese Attribute definiert (ebd., S. 168). Somit wurden diese Formen der (lustbetonten) Selbstdarstellung zum selbstverständlichen und „notwendigen“ Bedürfnis und damit zur unumgänglichen individuellen und sozialen Anforderung.

1. 2. 2. 2. 1. 1. Sport und Ästhetik als Medien zeitgemäßer Selbstdarstellung

„Wer bei dieser neuen Form von Wettbewerb, dessen Maßstäbe sowohl in der Selbsteinschätzung als auch in der Außenwahrnehmung härter werden, mithalten will, muß zunächst am eigenen Körper ansetzten.“ (Brinkhoff & Ferchhoff 1990, S. 124) Dies erklärt, warum sich immer mehr Jugendliche im sportlichen Bereich durch „ein hohes Maß an Aktivität“ auszeichnen und „neben dem Schulsport, der von vielen als >Lieblingsfach< angegeben wird, […] ein Großteil der Teenager in Sportvereinen regelmäßig die unterschiedlichsten Sportarten (Tanzen, Handball, Fußball, Tennis)“ (Gehling 1993, S. 521) betreibt. In diesem Sinne erfüllen sportliche Betätigungen bei Jugendlichen einerseits die Funktion der sozialen Anerkennung, weil sie durch sportliche Leistungen auf sich aufmerksam machen können, „indem sie, lange vor beruflichen Erfolgen, sportbezogene Leistungen erbringen, die nicht nur bei Gleichaltrigen, sondern auch bei den Erwachsenen hohe Anerkennung und Würdigung finden.“ (ebd. S. 112; vgl. auch Hasenberg & Zinnecker 1999, S. 55)

Andererseits bieten die diversen sportlichen Betätigungsfelder die „Chance“, sich die „notwendigen“ sozialen Fähigkeiten, sprich: Durchhaltevermögen, Härte, Zielstrebigkeit, aber auch „Können, Leistungsstärke, Scharfsinn, Flexibilität, Geschicklichkeit und Beweglichkeit“ (Ferchhoff 1999, S. 168) anzulernen. Es handelt sich um ein „shaping“ des Körpers, das im gleichen Zuge auch die Psyche formt: der Körper wird zum „Resultat technisch umgesetzter Willensanstrengung“ (ebd., S. 160). Hier kommt das Prinzip individualistisch geprägter Leistungsmoral und -konkurrenz wieder deutlich zum Ausdruck, wie es gerade auch von den aktuell etablierten Sportszenen und -arten und in den „hochgradig individualisierten und kommerzialisierten sportbezogenen ‚neuen’ Dienstleistungs- und Konsumbetrieben“ (Brinkhoff & Ferchhoff 1990, S. 120), wie z.B. im Fitnesscenter, propagiert wird. Die offene, vereinsmäßige Wettkampfkultur ist damit zwar in den Hintergrund getreten, aber keinesfalls verschwunden: Sie hat sich individualisiert.

Schließlich gilt es, den „idealen“ Körper, das „Produkt“ der physischen und psychischen Leistungen und Anstrengungen, noch dementsprechend „ideal“ zu verpacken. Mode bietet – wie der Sport – die Möglichkeit, „auf der Subjektebene ein[en] Status [zu] erreichen oder [sich] zumindest individuell und lebensstilaffin“ (Ferchhoff 1999, S. 165) zu demonstrieren. „Mode kann vieles: sie kann Abwechslung anzeigen, initiieren, inszenieren, provozieren, schockieren, aber auch vergewissern, Angepasstheit, Integration und Gruppenidentität ausdrücken.“ Sie ist somit zusätzlich zur Funktion des Ausdrucks der eigenen „Unverwechselbarkeit“ ein Medium zur Signalisierung von sozialer Zugehörigkeit, z.B. zu einer „Subkultur“ und gleichzeitig eines zur sozialen Abgrenzung.

„Ich fühle und inszeniere meinen Körper, ‚also bin ich’“ (ebd., S. 160) ist das Motto, um dessen Erfüllung willen (fast) jeder Preis in Kauf genommen werden soll (Stichwort: Der Boom der Schönheitschirurgie). Daß diese Ansprüche strapaziöse, gelegentlich auch runinöse und selbstquälerische Anstrengungen und Mühen erfordern, ist die logische Konsequenz dieser individualistisch geprägten Wettbewerbskultur. Indem die Erfüllung dieser (Leistungs-)Kriterien einen immer wichtigeren Garant für individuellen „Erfolg“ im Sinne des sozialen „Aufstiegs“ darstellt, bleibt die Frage offen, wie es denjenigen geht, die diese Leistungen nicht erbringen.

Unter all diesen Gesichtspunkten zeigt sich, „dass Heranwachsende in allen Feldern ihres Lebens mit Leistungsanforderungen zu tun haben“ (Vollstädt & Tillmann 1999, S. 5; Hervorh. K.H.)

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