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II. Individualisierung im Kontext moderner Gesellschaften

In diesem Kapitel wollen wir nun versuchen, anhand einer genaueren Analyse des Individualisierungsprozesses dessen Zusammenhänge mit der Funktionsweise moderner Gesellschaften herauszuarbeiten.

 

1. Struktur und Rahmenbedingungen des Individualisierungsprozesses

Bereits nach einem kurzen Blick in die wissenschaftliche Literatur, die sich mit dem Individualisierungstheorem auseinandersetzt, stoßen wir auf ein nicht zu erahnendes Dickicht an Theorien und Thesen, deren Komplexität nur schwer zu durchschauen ist. Wie bereits im letzten Abschnitt angedeutet, wurde der Begriff der „Individualisierung“ von den verschiedensten Theoretikern (in diesem Fall sind nur männliche gemeint) begründet und verwendet, weshalb wir hier keinen einheitlichen roten Faden finden werden, der uns durch dieses Dickicht leiten könnte. In diesem Sinne erscheint es notwendig, unsere Analyse mit der Auswahl eines „Individualisierungs-Theoretikers“ anzulegen, uns aber gleichzeitig nicht auf seine Konzepte allein zu beschränken. Unsere Wahl trifft deshalb Ulrich Beck, da dieser in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften als einer der Begründer des Individualisierungstheorems gilt und sich mit dem Individualisierungsprozeß im 20. Jahrhundert beschäftigte (siehe v.a. Beck 1983 und 1986). Auch wenn Beck, vor allem in seinen späteren Arbeiten, immer wieder Zielscheibe linker Kritik wurde (siehe z.B. Seppmann 1998, Weber 1999), erscheinen die hier zur Diskussion stehenden Thesen brauchbar und zielführend, ein Bild der gegenwärtigen Gesellschaft zu entwerfen. Weil wir uns hier ausschließlich mit seinen früheren Arbeiten beschäftigen und auch dabei nicht bei einer Diskussion ihrer „Schwächen“ hängenbleiben wollen, soll der m.E. wesentlichste Kritikpunkt kurz formuliert werden: Ähnlich wie Elias (s.o.) erklärt Beck gesellschaftliche Verhältnisse nicht, sondern beschreibt sie nur und dringt damit nicht in deren ursächliche Wurzeln vor; ebenso einige der hier zitierten AutorInnen, die sich auf ihn beziehen. Nichtsdestotrotz sind seine bzw. deren Überlegungen brauchbar, weshalb wir es bei dieser kurzen Kritik fürs erste belassen wollen. Diese grundlegenden theoretischen „Schwachstellen“ bilden schließlich den Ausgangspunkt der Ausführungen in Kapitel III.

 

1. 1. Individualisierung im Zeichen von Wandel und Modernisierung

In den gegenwärtigen Sozialwissenschaften ist oft die Rede von sozialem Wandel, von gesellschaftlichen Umbrüchen, von Veränderungen der Wertemuster und der Sozialstrukturen (vgl. Ebers 1995). In diesem Zusammenhang etablierte sich der Begriff der Individualisierung inzwischen so weit, als er verwendet wird, „einen gesellschaftlichen Tatbestand [zu bezeichnen], der nicht nur gegenwärtig wirksam ist, sondern der seit der Heraufkunft der modernen Gesellschaft zentrale Merkmale der Sozialstruktur und der normativen Anforderungen an die Individuen erfaßt.“ (Arbeitsgruppe Bielefelder Jugendforschung [ABJ] 1990, S. 11)

Wenn nun aber die Individualisierung nichts „Neues“ ist, da sie bereits in der „Heraufkunft der modernen Gesellschaft“, wie dies beispielsweise von Elias (s.o.) im Hinblick auf die Konstituierung des „modernen“ Individuums dargestellt wurde, ihren Ursprung hat, stellt sich die Frage, was denn jetzt das „Neue“ ist, das in den Sozialwissenschaften als gesellschaftlicher Wandel diskutiert wird?

In diesem Zusammenhang können die Prozesse der Individualisierung in zwei Phasen eingeteilt werden. „Zum einen eine Phase eines primären Individualisierungsschubs, den die soziologische Klassik als eine Unterscheidung zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften im Sinne einer prinzipiellen Freisetzung der Menschen aus vormodernen Bindungen und Zwängen erfaßt, zum anderen eine Phase sekundärer Individualisierungsschübe, die die gegenwärtige soziologische Diskussion als >Individualisierung< innerhalb der Moderne thematisiert.“ (Ebers 1995, S. 26; Hervorh. K.H.; vgl. auch ABJ 1990, S. 13)

Vor diesem Hintergrund gilt Beck (1983, 1986) als einer der ersten und wichtigsten Theoretiker der sog. „sekundären“ Individualisierungsschübe, deren Ursprünge er in den 50er Jahren verortet (seine Analyse beschränkt sich jedoch zum größten Teil auf die Bundesrepublik Deutschland). Beck setzt sozusagen bei seiner Beschreibung der „sekundären“ Individualisierungsschübe den „primären“, wie er beispielsweise von Elias (s.o.) dargestellt wurde, „also die prinzipielle Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder aus vormodernen Bindungen und Zwängen“ (ABJ 1990, S. 13 f.), voraus.

In seinen Ausführungen beschränkt sich Beck explizit auf eine sozialstrukturelle Analyse des sekundären Individualisierungsschubs. In diesem Sinne wird sich der theoretische Teil der vorliegenden Arbeit zu einem großen Teil ebenfalls auf die sozialstrukturelle Ebene konzentrieren, die Analyse der subjektiven soll im daran anschließenden empirischen Teil stattfinden.

 

1. 2. Gesellschaftliche Voraussetzungen des sekundären Individualisierungsschubs

In der theoretischen Konzeption von Beck (1986) ist die Bildung des Wohlfahrts- bzw. Sozialstaates nach dem zweiten Weltkrieg eine der wesentlichsten Voraussetzungen, mit der die sekundären Individualisierungsschübe in Gang gebracht wurden (vgl. auch Leisering 1998, S. 69).

Aufgrund der errungenen Verbesserungen der ökonomischen Lebensbedingungen wie die Zuwächse in den Löhnen der IndustriearbeiterInnen, des Anstiegs erwerbsarbeitsfreier Lebenszeit als Folge wachsender Lebenserwartung und sinkender Arbeitszeiten (vgl. ABJ 1990, S. 14, Beck 1986, S. 122), der Einführung von staatlichen Sozialleistungen, der Bildungsexpansion etc., wurden nun auch sozial „schwächer“ gestellte gesellschaftliche Gruppen, wie beispielsweise die ArbeiterInnenklasse und Frauen in den Individualisierungsprozeß einbezogen (vgl. auch Leisering 1998, S. 71). In diesem Sinne meint Beck (1986) mit dem Individualisierungsbegriff die „Freisetzung des Individuums aus sozialen Klassenbedingungen und aus Geschlechterlagen von Männern und Frauen.“ (S. 116) An anderer Stelle wird er noch etwas konkreter und spricht von einer „dreifachen >Individualisierung<: Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und
-bindungen im Sinne traditionaler Versorgungszusammenhänge (>Freisetzungsdimension<), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (>Entzauberungsdimension<) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (>Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension<).“ (ebd., S. 206)

Vor dem Hintergrund dieser sozialstrukturellen Veränderungen bezeichnet Beck (1986) den Individualisierungsprozeß einerseits – im Sinne der „Freisetzungsdimension“ – als einen „neuen Modus der Vergesellschaftung“ (S. 205), anhand welchem er den fortschreitenden Gestaltwandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft verortet und andererseits – im Sinne der „Kontrolldimension“ – als einen widersprüchlichenProzeß der Vergesellschaftung“ (ebd., S. 119), denn auch wenn sich spezifische Abhängigkeiten von den traditionellen gesellschaftlichen Bindungen verringern und dabei neue Chancen der Emanzipation für die Individuen entstehen, entpuppt sich die scheinbare Autonomie jenseits von Klasse und Geschlecht in der Praxis als Schein, da die ungleichen Herrschaftsverhältnisse, soziale Zwänge, neue und alte Abhängigkeiten weiterhin bestehen bleiben, jedoch mit dem Unterschied, daß sie nicht mehr mittelbar erlebt werden.

Genau diese Widersprüchlichkeit ist es nun, die für die Funktionsweise des Individualisierungsprozesses charakteristisch ist und uns in den nächsten Abschnitten genauer beschäftigen soll.

 

2. Individualisierung im Zentrum moderner Ordnungsbildung

Wir wissen nun, daß wir es seit der Heraufkunft der Moderne mit Individualisierungsprozessen zu tun haben, unter welchen Rahmenbedingungen sie im 20. Jahrhundert vorangetrieben wurden und daß sie einen neuen, widersprüchlichen Modus der Vergesellschaftung implizieren.

Als weitere Charakteristik dieser Prozesse wurde ein gesellschaftlicher Wandel postuliert. Wenn nun aber mit dem Begriff der Individualisierung ein kontinuierlicher Prozeß beschrieben wird, welcher in der Heraufkunft der Moderne seinen Ursprung hat und in den gegenwärtigen Gesellschaften, als Folge bestimmter Bedingungen, weiterhin voranschreitet, so stellt sich die Frage, warum hier von einem Wandel gesprochen bzw. was hier als Wandel bezeichnet wird. Allgemein wird unter Wandel wohl Veränderung verstanden und nicht Kontinuität. Wandel im Sinne von Veränderung würde bedeuten, daß sich die gegenwärtigen modernen Gesellschaften aufgrund der mit dem Individualisierungsbegriff bezeichneten Komplexitätssteigerung und Ausdifferenzierung der Sozialstrukturen und den damit einhergehenden Herauslösungsprozessen in einem Umwälzungsprozeß befinden, was die diesen Gesellschaften zugrunde liegende Ordnung im Hinblick auf Herrschaftsverhältnisse nicht nur in Frage stellen, sondern regelrecht aufbrechen, eben umwälzen würde. Indem allerdings dem Individualisierungsprozeß eine Kontinuität zugrundegelegt wird, kann hier deshalb nicht von Veränderung die Rede sein, weil Kontinuität nicht Veränderung, sondern Fortdauer impliziert. Es ist hier also Wandel im Sinne von (Fort-)Bewegung und nicht Wandel im Sinne von Veränderung bzw. Umwälzung, der den Sachverhalt in seiner richtigen Bedeutung trifft. Genau darin liegt die spezifische, widersprüchliche „Funktionsweise“ des Individualisierungsprozesses: durch kontinuierliche Bewegung, also scheinbare Veränderung, als Folge von fortschreitenden Herauslösungsprozessen, konstituiert bzw. sichert und verschleiert er gleichzeitig das Fortdauern und Weiterbestehen der etablierten gesellschaftlichen Ordnung. „Kulturelle und sozialkulturelle Individualisierung ist also vor allem das Problemlösungsmuster komplexer sozialer Systeme zu ihrem Systemerhalt bzw. eine Variante sozialer Ordnungsbildung zur Konstitution komplexer Gesellschaften.“ (Hahn 1995, S. 166)

Wenn wir also mit Beck (s.o) dem Individualisierungsprozeß einen widersprüchlichen Modus der Vergesellschaftung zugrundelegen, so können wir anhand dieser Überlegungen noch einen Schritt weiter gehen und kommen zu folgendem Schluß: der Funktionsweise des Individualisierungsprozesses liegt an sich ein Widerspruch zugrunde.

Bevor wir uns allerdings der Frage widmen, wo sich die mit dem Individualisierungsbegriff beschriebene Kontinuität der sozialen Ordnung festmachen läßt, stellt sich zuerst die Frage, wo diese widersprüchliche Funktionsweise des Individualisierungsprozesses ihren Ursprung hat bzw. von welcher Form sozialer Ordnung hier die Rede ist.

Vergegenwärtigen wir uns dabei noch einmal kurz die Ausführungen von Elias und Foucault hinsichtlich der Konstituierung des „modernen“ Individuums bzw. jener des „modernen“ Subjekts (siehe Kapitel I., 1. 2.). Etablierte sich nach ersterem eine neue Form sozialer Ordnung mit der Bildung einer Selbstzwang-Apparatur als Folge von Herauslösungsprozessen und der sich ausdifferenzierenden bzw. verlängernden Interdependenzketten, so verortet zweiterer die neue Form sozialer Ordnung in der Formierung der Disziplinargesellschaft, auch als Folge der Herauslösung im Hinblick auf das Sichtbar-Werden und der damit einhergehenden Verlagerung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Dieser (primäre) Individualisierungsschub, als Ausdruck von Herauslösungsprozessen, ist damit gewissermaßen in den Ursprüngen moderner Ordnungsbildung anzusiedeln, ist also bereits von seinem Grundprinzip her nicht emanzipatorisch, da er gleichzeitig in einen Kontext von Macht und Herrschaft, von Selbst- und Unterwerfungszwängen eingebettet ist. Damit befinden wir uns im Ursprung des postulierten Widerspruches, so erscheint die Herauslösung einerseits als Potential für Veränderung und Emanzipation und konstituiert gleichzeitig eine neue Form sozialer Ordnung, die durch unscheinbarere Macht- und Herrschaftsverhältnisse, Selbst- und Unterwerfungszwänge kontextualisiert ist, deren gleichzeitige Wirkung eben verschleiernd wirkt.

Auf den Thesen von Elias und Foucault aufbauend gilt es nun, die Kontinuität dieser Prozesse, die Momente der Verschleierung, diese Gleichzeitigkeit von Emanzipation und Unterwerfung, in den gegenwärtigen Gesellschaften zu verorten und zu erforschen, mit welcher Form sozialer Ordnung wir es hier zu tun haben.

In diesem Zusammenhang kam Bundschuh (2000), die sich zur Analyse der gegenwärtigen Individualisierungsprozesse, unter Bezugnahme auf Beck, ebenfalls auf den Pfaden von Foucault und Elias bewegte und sich einen ähnlichen Forschungsschwerpunkt stellte, zum Schluß, „daß wir […] heute in der Kontrollgesellschaft leben“ (S. 97) bzw. daß „die Kontrolle […] die einzig voll funktionstüchtige Brücke zur disziplinarischen Vergangenheit“ (S. 98) bildet, wobei sie sich bei diesen Aussagen an Deleuze (1993 und 1997) orientierte, der in seiner Interpretation von Foucault einen Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft postuliert. Vor diesem Hintergrund können wir nun wieder den Bogen zu Beck spannen, der, wie in Abschnitt 1. 2. dargestellt, dem Individualisierungsprozeß eine „Kontrolldimension“ zugrundelegt und darin dessen Widersprüchlichkeit verortet.

Unter diesen Gesichtspunkten wollen auch wir in den nächsten Abschnitten unser Augenmerk auf den Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Kontrolle und auch jenen zwischen der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft legen.

 

2. 1. Individualisierung als Funktion sozialer Kontrolle

Folgen wir nun wieder Becks Thesen in Hinblick auf den sekundären Individualisierungsschub, welchen er als eine fortschreitende Freisetzung der Individuen von sozialen Großgruppen, im besonderen von traditionellen Klassen- und Geschlechterlagen, charakterisiert, so erwecken diese Prozesse eben den Eindruck, als gerate die damit immer differenzierter werdende Gesellschaft aus den Fugen. Daß diesem scheinbaren Chaos, dem vermeintlichen Wandel, allerdings eine eigene Logik zugrunde liegen muß, läßt sich daran erkennen, daß sich die Gesellschaft alles andere als am Rande der „Anarchie“ befindet. Die Ordnung funktioniert und ihr „Rezept“ heißt also soziale Kontrolle.


Auch wenn wir es bei den Individualisierungsprozessen also mit einer fortlaufenden Heraus- oder Loslösung der Individuen aus traditionellen sozialen Strukturen zu tun haben, so kann Vergesellschaftung nie losgelöst von sozialen Strukturen, von der Gesellschaft stattfinden, es gibt keine Individuen ohne Gesellschaft. Die Gesellschaft konstituiert die Individuen und kontrolliert damit die Vergesellschaftung. So ist „der Einzelne […] das, was er ist, als bewußte und individuelle Persönlichkeit nur insoweit, als er ein Mitglied der Gesellschaft, in den gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozeß eingeschaltet und dadurch in seinem Verhalten gesellschaftlich kontrolliert ist.“ (Mead 1995, S. 302)
Vor diesem Hintergrund sind nun „gerade komplexe, komplizierte, differenzierte und sozialstrukturell weitverzweigte Systeme […] zur Bestandserhaltung auf ein hohes Maß an sozialer Kontrolle angewiesen.“ (Hahn 1995, S. 156f.) Soziale Kontrolle ist also ein wesentlicher Bestandteil, geradezu Bedingung, für das Bestehen komplexer Gesellschaften und diese sind wiederum Produkt fortschreitender Individualisierungsprozesse. Darin drückt sich bereits der Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Kontrolle, zumindest sehr abstrakt formuliert, aus.


Wenden wir unseren Blick nun von dieser abstrakten Ebene ab und konzentrieren uns in den nächsten Abschnitten auf jene konkreten sozialen Strukturen, in denen wir den Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Kontrolle verorten können. Dabei interessieren uns zuerst die kontrollierenden Aspekte der gegenwärtigen Sozialstrukturen, für deren Darstellung wir uns erneut an den Thesen von Beck orientieren. Daß wir es auch mit einer Internalisierung dieser kontrollierenden Strukturen, genauer: mit verinnerlichten Reproduktionsprozessen der sozialen Kontrolle, zu tun haben, soll in den darauffolgenden Abschnitten diskutiert werden.

2. 1. 1. Individualisierung als Institutionalisierung und Standardisierung

Nach Beck (1986) liegt die kontrollierende Struktur des sekundären Individualisierungsschubs, als Folge der Konstituierung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates, in der damit einhergehenden „Institutionalisierung und Standardisierung von Lebenslagen.“ (S. 119) So bilden die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme zwar die Voraussetzungen für die postulierte Freisetzung der Individuen, schaffen aber gleichzeitig neue, institutionell organisierte Formen sozialer Kontrolle. „Die Nichterwerbsarbeit wurde verlängert und materiell erheblich besser ausgestattet, allerdings unter Voraussetzung der Teilhabe an der Erwerbsarbeit.“ (ebd., S. 124) In diesem Sinne stellt die wohlfahrtsstaatlich vorangetriebene Durchsetzung der Erwerbs- bzw. Lohnarbeit, die Durchsetzung der „Markt- und Arbeitsmarktgesellschaft“ (ebd., S. 210), die zentrale Grundlage seiner Argumentation dar.


An die Stelle des älteren Institutionentypus als Ausdruck traditionaler Bindungen und Sozialformen (soziale Klasse, Kleinfamilie), wo Abhängigkeiten in Form von persönlicher Herrschaft bestimmt wurden (vgl. dazu auch Leisering 1998, S. 66), treten nun sekundäre Instanzen, wohlfahrtsstaatlich vorangetriebene Institutionen und Märkte, in denen die freigesetzten Individuen mit einer neuen, unpersönlichen, mittelbaren und damit abstrakten Form von Herrschaft und sozialer Kontrolle, mit abstrakteren Zwängen und Abhängigkeiten konfrontiert sind (ebd., S. 211).


Beck bleibt hier sehr allgemein und beschreibt weniger die spezifischen Kontrollaspekte der einzelnen Institutionen und Märkte an sich, als vielmehr die ihnen zugrundeliegenden Kontrollprinzipien. „Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und deshalb bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Betreuung. […]. Individualisierung wird zur fortgeschrittensten Form markt-, rechts-, bildungs- usw. -abhängiger Vergesellschaftung.“ (ebd., S. 210, vgl. auch Ebers 1995, S. 293)


Weiter seiner Argumentation folgend, erfaßt diese Institutionen- bzw. Marktabhängigkeit alle „Dimensionen der Lebensführung“ (ebd., S. 212), ja verlagert sich regelrecht „in alle Phasen der Existenz(sicherung) hinein“ (ebd., S. 210). So wird der Zugang zu und Erfolg in bzw. auf diesen Institutionen und Märkten, vor allem jenem des Arbeitsmarktes, zur Voraussetzung und zum Schlüssel der individuellen Existenzsicherung, zur Entscheidung über Sein und Nichtsein (ebd, S. 214, vgl. auch Beck 1997, S. 26). „Dies alles verweist auf die institutionenabhängige Kontrollsstruktur von Individuallagen.“ (Beck 1986, S. 210)


Die von Beck weiter oben postulierte Standardisierung von Individuallagen ist sozusagen die Folge der dargestellten Institutionalisierungsprozesse. So üben die etablierten Institutionen und Märkte auf der einen Seite soziale Kontrolle in Form von Abhängigkeiten und Zwängen aus und auf der anderen Seite in Form von Vereinheitlichung, eben Standardisierung der Individuallagen (als Beispiel führt er die standardisierende Wirkung des etabilierten Mediennetzwerkes, im besonderen des Massenmediums „Fernsehen“ an). Vor diesem Hintergrund werden „mit institutionellen Festlegungen und Eingriffen […] zugleich (implizit) Festlegungen und Eingriffe im menschlichen Lebenslauf vollzogen.“ (S. 212) Die Institutionen konstituieren also Abhängigkeiten und Zwänge und gleichzeitig soziale Normen, so sollen institutionell definierte Normalitätsstandards „abweichende“ Verhaltensweisen normalisieren und gleichzeitig disziplinieren (ebd., S. 215).


Die Teilnahme an den etablierten Institutionen, als Vorausetzung der eigenen Existenzsicherung, erfordert damit abstrakte Anpassungleistungen der Individuen (vgl. auch Anselm 1993, S. 105), die zu einer Standardisierung des individuellen Verhaltens führen. Das charakteristische dieser anonymisierten und „demokratisierten“ Formen sozialer Kontrolle ist, daß der/dem Einzelnen dabei keine systematische bzw. direkte Handlungslogik aufgezwungen, sondern sie vielmehr indirekt nahelegt wird. Deshalb wird soziale Kontrolle nicht mehr unmittelbar, sondern mittelbar erlebt. Das Verhalten der Einzelnen wird in dem Maße standardisiert und kontrolliert, als sie „nur in einer bestimmten mediatisierten Form handeln können, wenn sie die Ordnungsleistungen, die das System erbringt, in Anspruch nehmen wollen.“ (Hahn 1995, S. 170) Vor diesem Hintergrund ist „individuelles Handeln nicht notwendig weniger, aber anderen und abstrakteren Einschränkungen unterworfen, […].“ (Leisering 1998, S. 66)


Wenn wir an dieser Stelle nun wieder einen Blick weiter zurück werfen, im Besonderen auf die dargestellten Thesen von Foucault im Hinblick auf die Disziplinargesellschaft (siehe Kapitel I., 1. 2. 2.), so erscheinen die von Beck beschriebenen Kontrolldimensionen des sekundären Individualisierungsschubs nun doch nicht so neu. Auch wenn Institutionalisierungs- und Standardisierungsprozesse unter sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen vorangetrieben wurden, so sind sie wohl nicht deren Produkt. Gerade Foucault (s.o.) siedelt die institutionenabhängige Bedingung der Subjektivierung in der Formierung der Disziplinargesellschaft an, die der Konstituierung von Institutionen (Gefängnisse, Fabriken, Schulen etc.) zugrundeliegt, als sich die Disziplinartechniken in diesen etablierten. In diesem Sinne verwendet auch Foucault den Begriff der Individualisierung und benennt damit ähnliche Aspekte wie Beck. Er bezeichnet mit dem Begriff die institutionelle Erfassung, Kodifizierung und Klassifizierung der einzelnen und vielfältigen Körper und meint: „In einem Disziplinarregime […] ist die Individualisierung >absteigend<: je anonymer und funktioneller die Macht wird, umso mehr werden die dieser Macht Unterworfenen individualisiert: und zwar […] durch Überwachungen; […] durch Beobachtungen; […] durch vergleichende Messungen, die sich auf die Norm beziehen […].“ (Foucault 1998, S. 248)
Daß wir es, ähnlich wie in der Disziplinargesellschaft, auch unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen mit einer anonymen und funktionellen, weil abstrakten Form von Macht bzw. sozialer Kontrolle zu tun haben, wurde bereits veranschaulicht. Allerdings konzentrierte sich unser Diskurs, zur Beschreibung der gegenwärtigen (modernen) Gesellschaften, auf den Begriff der Kontrolle und nicht auf jenen der Disziplinierung, mit deren Gegenüberstellung wir allerdings ähnliche Prinzipien erkennen können.


Was Beck hier also als Institutionalisierung und Standardisierung, als Ausdruck sozialer Kontrolle, beschreibt und eben nicht näher historisch analysiert, ist demnach das Fortschreiten eines Prinzips, dessen Ursprünge viel weiter zurückreichen.


Während sich Beck auf Beschreibungen und nicht auf Erklärungen konzentriert, postuliert Foucault als Ziel der Disziplinarmacht die Nutzbarmachung und gleichzeitige Unterwerfung der einzelnen Körper (siehe Kapitel I., 1. 2. 2.). In diesem Sinne wird der mit Beck (s.o.) dargestellten Kontrollmacht des Sozial- und Wohlfahrtsstaates ein ähnliches Ziel unterstellt, als sie nach ähnlichen Prinzipien funktioniert. So ist das Ziel der Kontrollmacht schließlich auch deshalb nicht nur die Unterwerfung der einzelnen Körper (im Sinne von Institutionalisierung und Standardisierung der Individuallagen), sondern auch deren Nutzbarmachung, als erst die Vereinigung beider Prinzipien die soziale Ordnung und damit das Fortbestehen und den „Erfolg“ ihrer Institutionen und Märkte, vor allem der Arbeits- und Konsummärkte, gewährleistet. Diesen spezifischen Aspekt werden wir allerdings erst in Kapitel III. genauer unter die Lupe nehmen. Vor diesem Hintergrund kommen Negri & Hardt (2002) schließlich zu einem ähnlichen Ergebnis: „Die Kontrollgesellschaft könnte man also durch die Intensivierung und Verallgemeinerung der normalisierenden Disziplinarmechanismen charakterisiert sehen, […].“ (S. 38)


Auch wenn Beck (1986) diese historischen Zusammenhänge nicht benennt, sind seine kritischen Erkenntnisse in Hinblick auf den Sozial- und Wohlfahrtsstaat nicht in Abrede zu stellen. Daß beide, Foucault und Beck, aus einem ähnlichen Blickwinkel bzw. Forschungsverständnis heraus argumentieren, zeigt sich zudem darin, daß auch Foucault den kontrollierenden Strukturen des Sozialstaates kritisch gegenübersteht, denn er „empfindet den Sozialstaat gleichermaßen als Institution, die Lebensstile normiert sowie der endlos expandierenden Kontrolle dient.“ (Bundschuh 2000, S. 94)
Beschränkten sich die Ausführungen dieses Abschnittes ausschließlich auf eine Analyse der Kontrollaspekte in Hiblick auf die strukturelle Ebene, so nähern wir uns nun den Kontrollaspekten von einem ganz anderen Blickwinkel aus, nämlich der individuellen Ebene.

 

2. 1. 2. Individualisierung als Internalisierung

Die bisher skizzierte Darstellung der mit den Individualisierungsprozessen einhergehenden strukturellen, d.h. institutionellen und standardisierenden, Kontrollformen, denen die Einzelnen gegenüberstehen, scheint an dieser Stelle eine wichtige Frage aufzuwerfen: Wie läßt sich der durch den Individualisierungsprozeß produzierte Zuwachs an individuellen Handlungsmustern und die daraus resultierende Heterogenität der Lebensstile erklären, denn „so gesehen erscheint die Freisetzung aus traditionellen Bindungen spiegelbildlich als Erweiterung des Lebensradius, als Gewinn an Handlungsspielräumen und Wahlmöglichkeiten“? (Beck-Gernsheim 1993, S. 127f.) Derartige Entwicklungen widersprechen wohl einer Standardisierung und Institutionalisierung von Individuallagen.

Mit dieser Frage rückt die charakteristische Widersprüchlichkeit des Individualisierungsprozesses wieder klar in den Vordergrund. Nach genauerer Betrachtung dieser Ambivalenzen werden wir jedoch erkennen, daß auch die „Pluralisierung der Lebensstile“, als Produkt der postulierten Freisetzungsprozesse, einer (verinnerlichten) Kontrollogik folgt und damit die Funktion der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung erfüllt.

Nach Hahn (1995) lassen nämlich die skizzierten, „sozialstrukturell verankerten abstrakten Handlungskontrollen (Raum/Zeit-Organisation, Institutionen, generalisierte Kommunikationsmedien etc.) […] genau das Maß an persönlicher Handlungsautonomie zu, das notwendig ist, um eine komplexe soziale Struktur durch individuelle Gestaltung zu reproduzieren.“ (Hahn, S. 166) In diesem Sinne ist die Herausbildung individueller Lebensstile zu einem gewissen Maß ein Produkt der erforderten Ordnungsleistungen, der selbst zu leistenden Reproduktion sozialer Kontrolle.

Damit steht den Einzelnen zwar ein verstärktes Maß an Selbstbestimmung im Sinne von Handlungsautonomie zur Verfügung, diese ist damit allerdings insofern an die gegebenen fremdbestimmten Rahmenbedingungen gebunden, als diese die Voraussetzungen der eigenen Existenz(sicherung) bilden. Vor diesem Hintergrund können wir den bereits mehrfach erwähnten Widerspruch des Individualisierungsprozesses nun noch genauer bestimmen: Es ist der Widerspruch von Selbstbestimmung in der Fremdbestimmung.

Soziale Kontrolle wird also von „außen“ produziert und von „innen“ (re)produziert, dem gehen allerdings Prozesse der Verinnerlichung voraus. „Produktion und Reproduktion sozialer Kontrolle sind dabei nicht als Phasen mit sukzessiver Abfolge zu verstehen, sondern als Elemente eines Prozesses […].“ (ebd., S. 167) Damit haben wir es nicht nur mit „äußeren“ Zwängen, sondern eben auch, durch die Internalisierung von Normen etc., mit „inneren“ Zwängen zu tun. In diesem Sinne können wir nun wiederum auf Elias verweisen, der diese verinnerlichte Form sozialer Kontrolle mit dem Begriff der „Selbstzwang-Apparatur“ bezeichnete (siehe Kapitel I., 1. 2. 2.). Wir wollen hier allerdings jenen Aspekt dieser Selbstzwänge genauer unter die Lupe nehmen, die die postulierte „Pluralisierung der Lebensstile“, als Ausdruck des kulturellen Anspruches nach Individualität, betreffen.

Unter den diskutierten Gesichtspunkten hinsichtlich der zu erfüllenden Ordnungsleistungen müssen die Individuen also ein gewisses Maß an individueller Lebensgestaltung leisten. Deshalb steht der mit den Freisetzungsprozessen einhergehende kulturelle Anspruch nach Individualität, das Verschiedensein eines Menschen von allen anderen, besonders hoch in der Werteskala moderner Gesellschaften (vgl. dazu auch Elias 1991, S. 191). Individualität und Selbstverwirklichung sind die beiden „Zauberwörter“, der „kulturelle Code“ (ABJ 1990, S. 28 f.) und schließlich die zum persönlichen Ich-Ideal emporgehobenen Imperative.

Dieser Anspruch, „sich als unverwechselbare, individuierte Person zu präsentieren“ (ebd., S. 18) wird von den Einzelnen also dermaßen internalisiert, als er als persönliches, individuelles, natürliches und selbstverständliches Bedürfnis erlebt wird. Die damit dargestellte Reproduktionsleistung sozialer Kontrolle beschränkt sich hier allerdings nicht nur auf den Aspekt der Verinnerlichung der kulturellen Gestaltungsansprüche bzw. -zwänge, vielmehr liegt diesen Ansprüchen noch eine weitere, ganz spezifische und wesentliche Kontrollogik zugrunde. Hier zeigt sie ihr Gesicht in Form von Konkurrenz. Individualität, als Ausdruck eines besonderen Lebensstils, folgt dem Prinzip der positiven Abgrenzung gegenüber anderen (vgl. ebd., S. 21) und damit demselben Prinzip wie Konkurrenz. Mit dem Motto: „Dies ist die Eigenschaft, das Eigentum, die Leistung, die Begabung, durch die ich mich von anderen Menschen meines Umgangs unterscheide und vor ihnen auszeichne“ (Elias 1991, S. 192), manövrieren sich die Einzelnen in Konkurrenz- und damit auch Leistungsverhältnisse.

Die vorangetriebene Pluralisierung der Lebensstile, als Produkt verinnerlichter Bedürfnisse nach Individualität, konstituiert gewissermaßen unbemerkt bzw. unscheinbar einen fortwährenden Konkurrenzkampf, der wiederum der Logik des Leistungsprinzips folgt. Daß diese Form reproduzierter sozialer Kontrolle, der kontinuierliche (Leistungs-)Vergleich mit den anderen, mit dem Ziel einer „positiven“ Abgrenzung, gerade im Kontext der kapitalistischen Verwertungslogik eine ganz entscheidende Rolle spielt, wird uns in Kapitel III. noch genauer beschäftigen.

Der sogenannten Pluralisierung der Lebensstile sind, wie schon angeklungen, allerdings insofern klare Grenzen gesetzt, als sich zwar die Spektren an Handlungsoptionen zur individuellen Biographiekonstruktion erweitern, „aber aus gesellschaftlicher Perspektive gilt dennoch, daß die Mehrzahl dieser biographischen Entscheidungen und Entwürfe in den einen, breiten Hauptstrom institutionell gesteuerter Normalbiographien einmündet.“ (ABJ 1990, S. 29)

Gerade die sich durch die Institutionalisierungsprozesse immer weiter etablierenden Massenmärkte (v. a. die Konsummärkte) bieten den Individuen ein vielfältiges Angebot an identitätsstiftenden Standardschablonen an. In diesem Sinne läuft der Versuch „sich unmittelbar und intentional als unverwechselbar und einzigartig zu inszenieren, sei es etwa durch ein bestimmtes ‚outfit’ oder durch bestimmte (subkulturelle) Selbststilisierungen, […] regelmäßig Gefahr, erst recht in dem Vollzug einer ‚Standardexistenz’ bzw. einer ‚Standardidentität’ […] zu münden. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Routinisierung und die Standardisierung von ‚Identitätszuschreibungen’ durch massenhaft produzierte Konsumartikel […].“ (ebd., S. 21) Die vielfältigen Wahlmöglichkeiten an vordefinierten Lebensstilen täuschen jedoch über eine Standardisierung hinweg und scheinen damit den „Individualitätshunger“ der Individuen zu stillen, ohne daß sie sich dabei aber dem Vollzug einer „Standardexistenz“ bzw. „Standardidentität“ bewußt wären. Individualität wird (von „außen“) definiert, normiert, instrumentalisiert und damit kontrolliert.

Unter all diesen Gesichtspunkten verleiten uns die hier besprochenen Aspekte zu folgendem Schluß: Diese Form von Individualität ist ein ideologisches Konstrukt. In diesem Sinne wollen wir die Ausführungen der letzten beiden Abschnitte nun mit einem Zitat von Foucault (1982) beenden, in dem er die von uns diskutierten Facetten der Individualisierung im Hinblick auf die Institutionalisierung, Standardisierung und die etablierte Konzeption von Individualität, treffend formuliert: „Abschließend könnte man sagen, daß das politische, ethische, soziale und philosophische Problem, das sich uns heute stellt, nicht darin liegt, das Individuum vom Staat und dessen Institutionen zu befreien, sondern uns sowohl vom Staat als auch vom Typ der Individualisierung, der mit ihm verbunden ist zu befreien. Wir müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.“ (ebd., S. 250; zit.n. Bundschuh 2000, S. 47)

2. 1. 3. Individualisierung sozialer Ungleichheit

Legten wir bereits in den letzten Abschnitten unser Augenmerk auf die Kontrollogik des Individualisierungsprozesses, so rückt nun eine weitere – ebenso charakteristische – Form sozialer Kontrolle in den Mittelpunkt unseres Forschungsinteresses: die „Individualisierung sozialer Ungleichheit“ (Beck 1986, S. 130).

Wie wir bereits an mehreren Stellen ausführten, ist laut Beck (1986) die Freisetzung der Individuen aus sozialen Klassenbindungen und aus Geschlechterlagen eines der zentralen Elemente der sekundären Individualisierungsschübe, die unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen vorangetrieben wurden. Daß diese Freisetzung aber nicht mit einer Entschärfung sozialer Ungleichheiten einherging, wird uns von einschlägigen Forschungsergebnissen präsentiert, die darauf verweisen, „daß durch alle technischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, durch alle Reformbemühungen der letzen drei Jahrzehnte hindurch die Ungleichheitsrelationen zwischen den großen Gruppen unserer Gesellschaft sich nicht wesentlich verändert haben“. (ebd., S. 121)

Diese Stabilität der sozialen Ungleichheit läßt auf deren bedeutsame Rolle fürs gesellschaftliche Gefüge schließen. Soziale Ungleichheit hat System: Sie ist für das Fortbestehen der etablierten sozialen Ordnung deshalb notwendig, da sie der Aufrechterhaltung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen dient.

In den nächsten Abschnitten soll nun der Zusammenhang zwischen Individualisierung und sozialer Ungleichheit genauer analysiert werden. Dabei sollen die strukturellen Ungleichheiten hinsichtlich der Klassenlagen und jene der Geschlechterlagen gesondert diskutiert werden, auch wenn die dahinter agierende (Herrschafts-)Logik nach ähnlichen Prinzipien funktioniert.

Vor diesem Hintergrund soll der in den nächsten Abschnitten verwendete Begriff der „sozialen Klasse“ aus Platzgründen ohne nähere Definition, Erläuterung oder Kritik, sondern ausschließlich zur Benennung der Verhältnisse zwischen den „niedriger“ und den „höher“ rangierenden gesellschaftlichen Gruppen im Sinne von Bourdieu (1987) verwendet werden.

2. 1. 3. 1. Auflösung der sozialen Klassen: Der Wandel der Ungleichheit

Beck (1986) postuliert mit seiner Freisetzungs-These einen Wandel sozialer Ungleichheit, dem er die Auflösung sozialer Klassen zugrundelegt und kommt dabei zur Erkenntnis, daß „wir […] – marxistisch gedacht – mehr und mehr dem (noch unbegriffenen) Phänomen eines Kapitalismus ohne Klassen gegenüber [stehen] mit allen damit verbundenen Strukturen und Problemen sozialer Ungleichheit.“ (ebd., S. 117) Den Fortbestand bzw. Wandel sozialer Ungleichheit benennt er dabei mit dem Begriff des „Fahrstuhl-Effekts“ (ebd., S. 122). Damit meint er, daß durch den Individualisierungsprozeß die „Klassengesellschaft“ aufgrund gesamtökonomischer Verbesserungen insgesamt eine Etage höher gefahren wurde. „Es gibt bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“ (ebd.)


Mit dieser Erklärung beschreibt er zwar die Kontinuität des Phänomens sozialer Ungleichheit, geht aber deren Struktur- und Funktionsprinzipien nicht näher auf den Grund, ein prinzipieller Mangel, der bereits des öfteren thematisiert wurde. Um unser diesbezügliches Verständnis zu erweitern, müssen wir wiederum auf andere theoretische Konzepte ausweichen.


Im Gegensatz zu Beck analysiert beispielsweise Bourdieu (1987) die grundlegenden Prinzipien der fortwährenden Reproduktion sozialer Hierarchien. Er bezeichnet diesen Prozeß als einen „Wettlauf“ (S. 266) der auf verschiedenen „Rängen“ agierenden sozialen Gruppen. Die benachteiligten Gruppen versuchen die „direkt über ihnen angesiedelten oder beim Wettlauf direkt vor ihnen laufenden Gruppen“ (ebd.) einzuholen, die ihrerseits wiederum ihre Position und ihren Rang „verteidigen“, indem sie selbst weiterrennen, „um auf diese Weise zum einen den Abstand gegenüber denjenigen aufrechtzuerhalten, die ihnen dicht auf den Fersen sind, zum anderen aber auch den direkt vor ihnen Laufenden und damit deren Differenz gefährlich werden zu können; oder, unter einem anderen Blickwinkel, nur unter der Bedingung, daß sie nach dem streben, was die vor ihnen liegenden Gruppen im betreffenden Moment besitzen und was sie selbst einmal ihr Eigen nennen werden – nur eben zu einem späteren Zeitpunkt.“ (ebd., S. 267). Auch hier stehen wir wieder der von den Individuen reproduzierten Kontrollogik in Form von Konkurrenz gegenüber, als dieser auf eine positive Abgrenzung gerichtete „Wettlauf“ Konkurrenz- und damit Leistungsverhältnisse konstituiert und fortlaufend (re)produziert. In Anlehnung an Becks These des „Fahrstuhleffekts“ könnte nun der Schluß gezogen werden, daß dieser, auf Konkurrenzverhältnissen beruhende, „Wettlauf“ durch Individualisierungsprozesse in Gang getrieben bzw. beschleunigt wird.


Bourdieus These impliziert aber auch, daß alle am „Wettlauf“ beteiligten Gruppen in dieselbe Richtung rennen, mit denselben Zielen vor Augen, nämlich jenen, die ihnen von der an der Spitze stehenden Gruppe vorgegeben werden.

Ziele, die einen entsprechenden Seltenheits- und Besonderheitswert aufweisen und damit für die auf niedrigeren Rängen agierenden Gruppen schwer erreichbar sein sollen. Sobald sie aber im „Wettlauf“ von diesen erreicht werden, werden sie einer dementsprechenden Abwertung unterzogen und sind plötzlich nicht mehr das, „was sie unter Voraussetzung ihrer Seltenheit sind.“ (ebd. S. 271) Auf diese Weise bleiben die Anfangsentfernungen zwischen den sozialen Gruppen und damit die bestehenden sozialen Hierarchien weiterhin gewahrt.


Was sich verändert und als Wandel bezeichnet wird, sind damit lediglich die relativen und nicht die absoluten Positionen, von denen aus die Gruppen agieren. Darin zeigt sich wiederum die Kontinuität eines ähnlichen Funktionsprinzips, welches wir dem Individualisierungsprozeß bereits zugrundelegten. Die sozialstrukturell verankerten Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse befinden sich also keineswegs im Wandel, im Sinne von Veränderungsprozessen, sondern der scheinbare Wandel, der durch kontinuierliche Bewegungen und Verschiebungen gekennzeichnet ist und einer bestimmten zeitlichen Ordnung folgt, ist die diesen Prozessen zugrunde liegende Funktionslogik. Bourdieu (1987) bezeichnet dieses Kontinuitätsprinzip als „eine Erb- und Nachfolgeordnung“ (S. 271), in der jede Gruppe ihre Vergangenheit in der direkt unter ihr liegenden und ihre Zukunft in der über ihr liegenden hat.


Diese Struktur eines scheinbaren Wandels verleitet die darin Agierenden allerdings zu der Annahme, daß sich alles verändert, was sie bestimmt nicht dazu auffordert, die gleichbleibenden Ungleichheitsrelationen bzw. Herrschaftsverhältnisse und damit die soziale Ordnung grundsätzlich in Frage zu stellen. Eine schlußfolgernde Beschreibung dieser Struktur würde also lauten: Alles verändert sich, indem sich nichts verändert.


Die Sichtbarkeit des Phänomens kontinuierlich reproduzierter sozialer Ungleichheit wird allerdings nicht nur durch den scheinbaren sozialen Wandel verschleiert, sondern auch in Hinblick auf internalisierte, gruppenspezifisch etablierte Handlungs- und Denkpraxen, was Bourdieu (1987) mit dem Begriff des Habitus bezeichnet. „Der Habitus bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils.“ (S. 278). Die für die jeweiligen sozialen Gruppen strukturell bestimmten Merkmale und Eigenschaften und genauso eine spezifische Sicht auf die Welt, die Erkenntnis strukturiert, werden von den in diesen Gruppen Agierenden in dem Maße internalisiert, daß sie sozusagen bestimmte, ihrer sozialen Lage entsprechende, Verhaltensmuster ausbilden. In der Folge bringen unterschiedliche Existenzbedingungen verschiedene Formen des Habitus hervor, der wiederum verschiedene, den Existenzbedingungen entsprechende, Verhaltensmuster erzeugt. „Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.“ (ebd., S. 279) Durch diese Verinnerlichung der von außen vorgegebenen, klassifizierenden Merkmale und Eigenschaften legen sich die Individuen (unbewußt) auf eine soziale Lage, auf eine Position, fest und begründen damit auch gleichzeitig die Abstände und damit die Differenz zu anderen sozialen Positionen. „Die Lebensstile bilden also systematische Produkte des Habitus, die in ihren Wechselbeziehungen entsprechend den Schemata des Habitus wahrgenommen, Systeme gesellschaftlich qualifizierter Merkmale (wie >distinguiert<, >vulgär<, etc.) konstituieren.“ (ebd., S. 281)


Haben wir mit diesen Ausführungen die grundlegenden Prinzipien und Zusammenhänge von Individualisierung und (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit, als Ausdruck der (Re-)Produktion sozialer Herrschaftsverhältnisse, veranschaulicht, so kommen wir nun wieder auf eine Diskussion gegenwärtiger „Symptome“, in Hinblick auf die Verbindung von Individualisierung und sozialer Ungleichheit, zurück.

 

2. 1. 3. 2. Die Verschärfung sozialer Ungleichheit

Während auf der einen Seite also die unmittelbare Sichtbarkeit des Phänomens sozialer Ungleichheit verschwinden konnte, ohne daß an deren Grundfesten gerüttelt wurde, kommt es unter den gegenwärtigen Bedingungen fortschreitender Individualisierungsprozesse zu einer regelrechten Verschärfung sozialer Ungleichheit. Laut Beck (1986) greifen „Verschärfung und Individualisierung sozialer […] Ungleichheit ineinander.“ (S. 117) Diesen spezifischen Zusammenhang wollen wir nun genauer unter die Lupe nehmen.

2. 1. 3. 2. 1. Individualisierung sozialer Klassen

Erneut kommen wir nun auf den postulierten Freisetzungsprozeß zurück, der die Herauslösung der Individuen aus traditionellen Milieus bzw. Klassenbindungen bezeichnet, diskutieren ihn aber unter einem ganz anderen Gesichtspunkt. In dem Maße, in dem die Individuen mit einer größeren Handlungsautonomie und persönlichen Gestaltungsmöglichkeiten konfrontiert sind, verlieren die „alten“ Strukturen ihre handlungsleitende und identitätsstiftende Rolle, schmelzen subkulturelle Klassenidentitäten weg (vgl. Ebers 1995, S. 289 f., Balibar 1998, S. 193, Beck & Beck-Gernsheim 1993, S. 179). „Das zeitgenössische Subjekt erlebt einen Verlust von Kontexten, in denen die Koordinaten für einen Lebensentwurf und für eine Bewältigung von Alltagssituationen relativ stabil vorgegeben waren.“ (Keupp 1989, S. 14) Die freigesetzten Individuen können ihre „individuelle Identität immer weniger aus selbstverständlichen gemeinschaftlichen Gruppenbezügen ableiten“ (Huinink & Wagner 1998, S. 87) und müssen sich nun „selbst - um des eigenen Überlebens willen - zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung und Lebensführung machen“. (ABJ 1990, S. 15)

Auf den ersten Moment erscheint es paradox, diese Prozesse, den Verlust von festschreibenden Identitäten und damit verbundenen Normen und Wertmaßstäben, zu beklagen, als derartigen Entwicklungen prinzipiell ein Potential der Emanzipation zugrundeliegt. Warum diese Freisetzungsprozesse dennoch nicht emanzipatorisch sind und was das mit der Verschärfung sozialer Ungleichheiten zu tun hat, soll nun diskutiert werden.

So verleiht die, unter sozialstaatlichen Rahmenbedingungen vorangetriebene, Herauslösung aus ehemals festschreibenden Strukturen den Anschein einer, die Klassen übergreifenden, Chancengleichheit. Frei nach dem Motto: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ werden dabei allen dieselben Möglichkeiten vorgegaukelt, „durch individuelle Entscheidungen und Handlungen die Zukunft zu gestalten und die Überzeugung, für […] [ihr] Schicksal in mehr oder minder großem Ausmaß verantwortlich zu sein.“ (Jagodzinski & Klein 1998, S. 14) Aufgrund der ökonomischen Verbesserungen mögen wohl alle – zumindest theoretisch – dieselben objektiven Möglichkeiten haben, praktisch hängen diese aber immer noch davon ab, wo man/frau „inmitten dieses Menschengeflechts geboren ist und aufwächst, von der Funktion und Lage seiner Eltern, von der Schulung, die er ihr gemäß empfängt.“ (Elias 1991, S. 31) Diese formelle soziale Gleichheit verschleiert allerdings die informelle, strukturell bedingte, klassen- und milieuspezifische Ungleichheit. Folglich erscheint der „soziale Aufstieg“ (verstanden als Aufstieg im etablierten Ordnungssystem) als Eigenleistung und Produkt eigener Anstrengungen und umgekehrt, der „soziale Abstieg“ als selbstverschuldetes Versagen, als Folge mangelnder Anstrengungen und Leistungen (vgl. ABJ 1990, S. 15).

In diesem Sinne hat diese Entschärfung kollektiver Identitäten zur Folge, daß soziale Ungerechtigkeiten als individuelles Schicksal erlebt werden, sie in die Individuen regelrecht hineinverlagert, sprich: individualisiert werden. Gesellschaftliche Krisen (z.B. Massenarbeitslosigkeit) erscheinen dann als individuelle und können „in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen werden“ (Beck 1986, S. 118).

Von einer Auflösung sozialer Klassen als Folge von Individualisierungsprozessen kann also nur in dem Sinne die Rede sein, als sie ihre identitätsstiftenden Funktionen verlieren. Die Individuen, die weiterhin von der benachteiligten Position aus agieren, führen in der Folge gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten nicht mehr auf ihr „Klassenschicksal“ bzw. ihren klassenspezifischen Habitus, zurück, sondern nehmen sie als ihr individuelles Schicksal wahr. In dieser „Individualisierung sozialer Klassen“ (Beck 1986, S. 131), die die gesellschaftlichen Verantwortungen und Ungerechtigkeiten auf die einzelnen herausgelösten Individuen überträgt, lassen sich nun wieder jene entschärfenden, weil kontrollierenden, Momente erkennen, als die noch immer Benachteiligten diese viel subtileren, ja beinahe unsichtbar scheinenden Ausprägungen des sozialen Hierarchiesystems nicht mehr in ihrer Gesellschaftlichkeit wahrnehmen und damit nicht in Frage stellen, geschweige denn bekämpfen. Es folgt „die Auflösung und schwindende Legitimation der institutionellen Formen der Arbeiterbewegung, des organisierten Klassenkampfes.“ (Balibar 1998, S. 195) Die Reproduktion dieses sozialen Ordnungssystems wird auf diese Weise weiterhin gesichert.

2. 1. 3. 2. 2. Die Ausdifferenzierung des Konkurrenzsystems

Ebenso wie mit Verbesserungen der ökonomischen Lebensbedingungen auf der einen Seite, haben wir es nach Beck (1986), in Zeiten fortschreitender Individualisierungsprozesse, auf der anderen Seite mit gesellschaftlichen Krisen wie Massenarbeitslosigkeit, Zuwachs an Armut etc. zu tun. „Dieser >Fahrstuhl-Effekt< nach unten gewinnt seit den achtziger Jahren an Bedeutung.“ (ebd., S. 143)

Der insgesamt schrumpfende Arbeitsmarkt und vor allem der Ausbau des Bildungssystems mit der Bildungsoffensive in den siebziger Jahren spielen hier eine zentrale Rolle. Weil nun das Recht auf Bildung auch auf die benachteiligten sozialen Gruppen erweitert wurde, fühlten sich die sozial höher Rangierenden dazu aufgefordert, zur Sicherung ihrer Positionen das Bildungssystem stärker denn je zu beanspruchen (vgl. Bourdieu 1987, S. 221). In diesem Sinne etablierte sich auch im Bildungswesen ein „Wettlauf“ zwischen den sozialen Gruppen, ein Wettlauf um Titel und Schulabschlüsse. Diese verloren damit aber an Seltenheits- und Besonderheitswert und erfuhren in der Folge eine regelrechte Ent- bzw. Abwertung.

Aufgrund der wachsenden Zahl von BildungsabsolventInnen wurden die Bildungsprädikate nun auf der einen Seite immer weniger hinreichend, um die beruflichen Chancen zu sichern, auf der anderen Seite jedoch „immer notwendiger, um überhaupt noch am Konkurrenzkampf um rar werdende Arbeitsplätze teilhaben zu können, und insofern aufgewertet.“ (Beck 1986, S. 139) Dieselben Prädikate, die einer/m in den siebziger Jahren einen sicheren Arbeitsplatz verschafften, reichten nun dazu nicht mehr aus. Alte Auswahlkriterien, die eine Selektion der BerufsanwärterInnen „erleichtern“ sollen, wurden und werden wieder herangezogen. „Der Abschluß alleine reicht nicht mehr hin; hinzukommen müssen >Auftreten<, >Beziehungen<, >Sprachfähigkeit<, >Loyalität< – also extrafunktionale Hintergrundkriterien einer Zugehörigkeit zu >sozialen Kreisen<, die durch die Bildungsexpansion gerade überwunden werden sollte.“ (ebd. S. 139)

Neben dieser Ausdifferenzierung des Leistungs- und Konkurrenzsystems, deren kontrollierende Aspekte wohl offensichtlich genug sind, bewirkte die Abwertung der Bildungspatente genau dort eine Verschärfung der sozialen Ungerechtigkeiten, wo diese ohnehin besonders ausgeprägt waren: bei denen, die den Arbeitsmarkt ohne entsprechende Ausbildungsmöglichkeiten betreten. „Tatsächlich geht ja mit der Entwertung der Bildungsprädikate eine sich verstärkende Monopolisierung durch die Inhaber von Bildungsprädikaten auch solcher Stellen einher, die bis dahin für Leute ohne entsprechende Prädikate offenstanden.“ (Bourdieu 1987, S. 225) Es sind wie immer die von Haus aus Benachteiligten, die von der Entwertung ihrer Abschlüsse am meisten betroffen sind (ebd., S. 227). Die anstrengenden „Aufholjagden“ sind sozusagen von vornherein zum Scheitern verurteilt, die Aufholenden rennen gleichzeitig dem Prozeß der Abwertung ihrer Anstrengungen entgegen. „Die Dialektik von Entwertung und Aufholjagd nährt sich so gleichsam aus sich selbst.“ (ebd.)

Schließen wir nun die Ausführungen im Hinblick auf strukturell verankerte klassenspezifische Reproduktionsprinzipien und sich verschärfende Ungleichheiten ab und wenden uns einer anderen, spezifischen Form sozialer Ungleichheit, dem bestehenden Geschlechterverhältnis zu, wobei wir auch hier die Zusammenhänge von Individualisierung und Reproduktion der Geschlechterhierarchien unter die Lupe nehmen wollen.

2. 1. 3. 3. Die ‘neuen Chancen’ der Frauen: Das Fortschreiben der patriarchalen Ordnung

Wie bereits mehrfach angesprochen stellt nach Beck (1986) neben der Freisetzung aus den Klassenlagen jene aus den Geschlechterlagen eines der zentralen Kennzeichen des sekundären Individualisierungsschubs dar. Auch wenn sich die Lage für Frauen zweifelsfrei veränderte und Frauen durch die vorangetriebenen Freisetzungsprozesse weitaus mehr Möglichkeiten einer (von Männern) unabhängigeren Lebensplanung und -führung jenseits der traditionellen Normen und Vorstellungen beanspruchen können, entpuppen sich diese Prozesse nach einem Blick hinter die Kulissen als äußerst ambivalent, was uns nach den bisherigen Vorkenntnissen nicht weiter verwundern dürfte (siehe dazu auch Kapitel I., 1. 3. 2.). „Die Diskussion, wie sie seit den achtziger Jahren zur Situation im Geschlechterverhältnis geführt wurde, war von einer allzu optimistischen Unterstellung einer zunehmenden Angleichung der Geschlechtsrollen und einem Abbau von Ungleichheit geprägt.“ (Koppetsch & Maier 1998, S. 143) Tatsächlich verwischten sich die sozialen Unterschiede und Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen nur oberflächlich, ja verstärkten sich geradezu (vgl. Pfadenauer 1995, S. 44). „Nie zuvor wurden die Mechanismen der geschlechtsspezifischen (Ohn-)Machtverteilung so konsequent, effizient und subtil eingesetzt wie im 20. Jahrhundert.“ (Weber 1999, S. 349)

Daß sich die dahinter stehende Logik dieser Prozesse wiederum als strukturelle und damit als systematische entpuppt, mit dem Ziel, das bestehende Geschlechterverhältnis, d.h. die patriarchale Ordnung, weiterhin aufrechtzuerhalten, liegt auf der Hand. Auch hier wird die Individualisierung bzw. die damit verbundenden Freisetzungsprozesse unter dem Etikett der Unabhängigkeit bzw. Freiheit feilgeboten und offenbaren sich erst in einem zweiten Moment als „Instrument“ der herrschaftlichen Kontrolle. Weil die Funktion und die Funktionsweise der Reproduktion des Geschlechterverhältnisses und jener der klassenspezifischen Ungleichheit ähnlichen Prinzipien folgen, wollen wir die geschlechtsspezifische Form und Fortschreibung sozialer Ungleichheit etwas kürzer behandeln.

2. 1. 3. 3. 1. Die Verschärfung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten

Beck (1986) meint mit der „Freisetzung aus Geschlechterlagen“ die Herauslösung der Frauen aus ihrer traditionalen Hausfrauenexistenz (ebd., S. 208). Die neuen Freiheiten, die in der Folge des sekundären Individualisierungsschubs heraufbeschworen werden, sind zu einem großen Teil an die „Öffnung“ des Arbeitsmarktes geknüpft. Diese Ausdehnung der Anforderungen marktabhängiger Normalbiographie auf den weiblichen Lebenszusammenhang ist vom Prinzip her nichts Neues, Beck sieht darin die „Anwendung der Prinzipien entwickelter Marktgesellschaften über die Geschlechtslinie hinweg.“ (ebd. S. 179) Die Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen war aber bestimmt kein uneigennütziges Unternehmen von Seiten des Marktes selbst, gelten ja Frauen – früher wie heute – als viel billigere Arbeitskräfte, wird ihnen doch für die gleiche Arbeit im Schnitt ein bis zwei Drittel weniger an Lohn ausgezahlt als den Männern.

Weil Beck in diesen Prozessen eine regelrechte Auflösung der „ständischen Lebensgrundlagen der Industriegesellschaft“ (ebd.) sieht, von der hier aber nicht die Rede sein kann, treffen diese Thesen den Sachverhalt viel zu ungenau und unkritisch.

Parallel zu den neuen Möglichkeiten und Chancen ist der weibliche Lebensalltag weiterhin von alten Bindungen und Abhängigkeiten geprägt. Trotz der Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt, der erst die Voraussetzung schafft, ein von Männern unabhängiges und selbständiges Leben realisieren zu können, ist der weibliche Lebensentwurf noch immer stark mit der Reproduktionsrolle, d. h. der häuslichen und mütterlichen Rolle verknüpft. Damit tragen die Frauen weiterhin die traditionelle Verantwortung für andere; die unentgeltliche Verrichtung der Reproduktionsarbeit, die ja Bedingung für das Bestehen der Produktionssphäre ist, wird weiterhin „in unseren Institutionen, im Berufssystem, Renten- und Sozialversicherung, Schulsystem usw.“ (Bilden 1989, S. 31) vorausgesetzt. „Ein Konzept weiblicher Individualisierung beinhaltet also sowohl weitgehende Unabhängigkeit als auch weiter bestehende Bindungen“ (Pfadenauer 1995, S. 44), wobei erstere über das Fortbestehen zweiterer hinwegzutäuschen sucht. Des weiteren ist diese Form der Unabhängigkeit an die Teilnahme an der Erwerbs- bzw. Lohnarbeit gebunden, so wird die Abhängigkeit in der privaten Sphäre mit der Abhängigkeit in der öffentlichen Sphäre getauscht. Selbstbestimmung bleibt an einen fremdbestimmten, fremdkontrollierten, Kontext gebunden.

Verschleiert wird hier auch die Funktionsweise des Fortbestehens der Ungleichheiten, wie sie bereits im Zusammenhang mit den sozialen Klassen erläutert wurde (siehe Abschnitt 2. 1. 3. 1.). Auch die Frauen befinden sich in diesem Sinne in einem Wettlauf, einem Wettlauf mit den Männern um die Positionen im öffentlichen Raum. Solange sich an den strukturellen Machtverhältnissen zwischen Männern und Frauen jedoch nichts grundlegendes ändert, wird sich dieser Lauf – diese reproduzierende Struktur – fortsetzen, indem die Frauen nie nach vorne, geschweige denn an die Spitze kommen können, weil ihnen die Männer immer um einen Schritt voraus sein werden. Diesbezügliche „Strategien“ der Männer können beispielsweise mit dem Stichwort der „gläsernen Decke“ veranschaulicht werden.

Durch die wohlfahrtsstaatlich vorangetriebene Bildungsexpansion wurde den Frauen zwar der Zugang zu Bildung eröffnet (vgl. Beck 1986, S. 128), gleichzeitig trug der rapide Anstieg weiblicher Schulabgängerinnen nicht unwesentlich zur Abwertung der gängigen Bildungszertifikate bei (vgl. Bourdieu 1987, S. 224), deren Auswirkungen in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit wiederum die Frauen am stärksten trifft. Eine ähnliche spezifische Problematik stellt sich in der veränderten subjektiven und gesamtgesellschaftlichen Bewertung bestimmter Berufsbilder dar. „Auch im wachsenden Anteil von Frauen läßt sich auf die Zukunft eines Berufszweiges schließen, zumal auf dessen absolute oder relative Abwertung“ (ebd. S. 186); so stand beispielsweise der Beruf des Lehrers, bevor er von den Frauen „unterwandert“ wurde, hoch in der beruflichen Werteskala (vgl. dazu auch Krondorfer & Mostböck 1997, S. 62).

Trotz der weiter bestehenden Zuständigkeit fürs Private ist der durch die Individualisierung eröffnete Zugang zum Bildungs- bzw. Arbeitsmarkt und damit zum öffentlichen Leben, auch wenn es Frauen hier mit „neuen“ Abhängigkeiten und Zwängen zu tun haben, zweifelsfrei eine Errungenschaft. Auch das damit einhergehende erweiterte Bildungsangebot, die gezielten Fördermaßnahmen für Frauen, haben emanzipatorisches Potential und dürfen deshalb nicht unterschätzt werden. Diese Errungenschaften verleiten aber gleichzeitig zu dem Schluß, einen tatsächlichen Rückzug von Geschlechternormen und Ungleichheiten im öffentlichen Leben annehmen zu können. „Die vielzitierten Tendenzen zur ‚Individualisierung im Geschlechterverhältnis’ oder zur ‚Befreiung aus geschlechtsständischen Zuschreibungen’ [sind] nicht in erster Linie als reale Prozesse gesellschaftlichen Wandels“ (Koppetsch & Maier 1998, S. 145) zu bezeichnen. Sie erfüllen hier wiederum die Funktion der „Tarnung“ bzw. Täuschung und lassen damit die strukturell verankerten Ungleichheiten und Normen in den Hintergrund treten, ja zunehmend unsichtbar erscheinen. Auf diese Weise sind es nicht mehr die bestehenden Ungleichheitsverhältnisse und traditionelle Verantwortungen und Normen, die die Frauen an ihrem sozialen Aufstieg „behindern“, sondern ihr individuelles Schicksal, ihr Nicht-Wollen oder persönliches Versagen.

„Was auf der Ebene der Leitvorstellungen (Individualisierung und Partnerschaft) wie eine Modernisierung der Geschlechtsrollen, vor allem aber wie eine Veränderung der korrekturbedürftigen gesellschaftlichen Abschottung der Frau in der Familie erscheint, erweist sich in der Praxis somit als höchst widersprüchliche Anforderungsstruktur an weibliche Verhaltensmuster und fungiert […] als Reproduktionsinstanz alter Rollenmuster mit neuen Mitteln.“ (Koppetsch & Maier 1998, S. 162)

Damit sind wir nun am Ende der prinzipiellen Analyse des Individualisierungsprozesses im Hinblick auf seine Kontrollogik angelangt und verlagern unser Forschungsinteresse im folgenden Kapitel auf einen ganz anderen Schwerpunkt, nämlich den Zusammenhang von Individualisierung und kapitalistischer Herrschaftslogik.

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