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III. Individualisierung im Kontext kapitalistischer Herrschaftslogik

Anhand der Ausführungen im letzten Kapitel wurde die moderne Ordnung unter Bezugnahme des Begriffs der Individualisierung als eine Ordnung bestimmt, die durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse kontextualisiert ist, welche durch spezifische Kontrollformen (Institutionalisierung, Standardisierung, Internalisierung, soziale Ungleichheit) (re)produziert werden. In diesem Sinne verwendeten wir, den zitierten AutorInnen folgend, zur Beschreibung dieser Form sozialer Ordnung den abstrakten Begriff der „Moderne“, welcher von den AutorInnen selbst nicht näher bestimmt, sondern vielmehr vorausgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund stehen wir wiederum jener „Schwachstelle“ von Becks Thesen gegenüber, als er den Prozeß der Moderinisierung zwar beschreibt, aber nicht grundsätzlich erklärt, nicht versucht, dessen Ürsprünge historisch zu verorten.

Diese fehlende Begriffsbestimmung erklärt auch, warum sich unsere Analyse bis jetzt auf den Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Kontrolle beschränkte. So können wir jenen der Individualisierung und kapitalistischer Herrschaftslogik erst nach einer genaueren Erläuterung des Moderne-Begriffs darstellen. Kurz formuliert liegen diesem drei wesentliche Prozesse zugrunde, die da wären: die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die Begründung von Nationalstaaten und die Herausbildung politisch demokratischer Verhältnisse (vgl. Hirsch 1996). Der enge Zusammenhang zwischen diesen Prozessen scheint auf der Hand zu liegen, allerdings folgen sie einem ganz bestimmten Kausalitätsprinzip, schuf doch „erst die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse die Voraussetzungen dafür […], daß diese besonderen und historisch neuen politischen Formen – der zentralisierte und bürokratische Staat und die bürgerliche Demokratie – entstehen konnten.“ (ebd., S. 13).

Mit Elias wurde bereits im ersten Kapitel auf die Verbindung des Individualisierungsprozesses mit der Bildung von Staatsapparaten und den sich im Laufe der Zeit etablierenden Nationalstaaten, wie wir sie heute kennen, verwiesen. Die diesen Prozessen zurgrundeliegende Herausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse expliziert er jedoch nicht, womit er der Bedeutung des Individualisierungsprozesses für die kapitalistische Ökonomie ebenfalls nicht gerecht wird.

Selbst Beck (1986) verweist auf Marx und bezeichnet ihn als einen der entscheidendsten „Individualisierungstheoretiker“ (S. 131), da dieser den Freisetzungsprozeß der Individuen als Voraussetzung für die kapitalistische Produktionsweise beschrieben hat, stellt den Individualisierungsprozeß jedoch nur selten in diesen Zusammenhang.

Da für unser Forschungsinteresse die strukturellen gesellschaftlichen Bedingungen der Subjekte im Mittelpunkt stehen, scheint nun kein Weg daran vorbeizuführen, den Individualisierungsprozeß ins Licht der kapitalistischen Ökonomie zu stellen, auch wenn sich die in den Sozialwissenschaften etablierten „Individualisierungs-TheoretikerInnen“ nicht explizit um diese Sichtweise bemühen. Dabei soll zuerst das spezifische Ordnungsprinzip der kapitalistischen Ökonomie selbst in den Vordergrund gerückt und folglich ein aktueller Bezug im Hinblick auf die gegenwärtige Ausformung dieses Ordnungssystems, allgemein bezeichnet mit dem Schlagwort der „neoliberalen Globalisierung“, dargestellt werden.

Was hier allerdings nicht geleistet werden kann und den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wäre eine werttheoretische bzw. wertkritische Kapitalismusanalyse mit den begrifflichen Kategorien von Marx. Nichtsdeostotrotz können wir auch ohne genauere Bezüge auf Marx das Feld der Kapitalismuskritik betreten, insofern uns hier die Logik und Ideologie kapitalistischer Herrschaftsprinzipien in ihren Auswirkungen auf die sozialen, zwischenmenschlichen und psychischen Strukturen interessieren. Vor diesem Hintergrund werden wir auch in diesem Kapitel der Argumentation eines Autors, namentlich: Joachim Hirsch (1996), grundlegend und bis zum Schluß folgen.

 

1. Individualisierung als Regulationsfunktion der kapitalistischen Ökonomie

Nach Hirsch (1996) stellt also die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise die Grundlage für das herrschende gesellschaftliche Ordnungsprinzip dar, was wiederum die Grundlage für demokratisch organisierte Gesellschaften in Form von Nationalstaaten schuf. Demzufolge erfüllen die etablierten Formen der Demokratie und des Staates die Funktion, das kapitalistische Ordnungssystem, d.h. „die vom Zwang zur Profitmaximierung angetriebene Akkumulation des Kapitals“ (ebd., S. 17), zu organisieren und sein Fortbestehen weiterhin zu garantieren. Demokratie und Staat sind im Kapitalismus salopp formuliert: Mittel zum Zweck; dieser ist durch eine beständige quantitative, in Geld meßbare Selbstvermehrung und Aufhäufung eines immer größeren Mehrwerts charakterisiert (vgl. Ottomeyer 1977, S. 99).

Die kapitalistische Ökonomie ist ein Herrschaftsmodell, das durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft in Form von Lohnarbeit und dem scheinbar äquivalenten Warenaustausch funktioniert. Damit sich die auszubeutenden „Marktindividuen“ jedoch ohne direkte Gewaltanwendung diesen Zwängen unterordnen, müssen ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Staat und Demokratie erfüllen dabei die Rolle, Gegensätze bestehender Eigentumsverhältnisse, ökonomischer Herrschaft, Ausbeutung und „Klassenlage“, soweit zu kompensieren, zu regulieren und zu stabilisieren, indem sie den Individuen ein relatives Maß an Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung ermöglichen (vgl. Hirsch 1996, S. 23). „Die Menschen sind also zugleich Klassenangehörige und formell freie und gleiche StaatsbürgerInnen und VertragspartnerInnen.“ (ebd., S. 22)

An diesem Punkt kommt nun das Prinzip der Individualisierung mit ins Spiel. Individualisierung, als Herauslösung der Individuen aus traditionellen Milieus, stellt, wie bereits Marx (s.o.) erkannte, eine wesentliche Eigenheit der kapitalistischen Gesellschaft dar, ja sie ist zunächst eine der Voraussetzungen zur Konstituierung von Staaten. Indem die herausgelösten Individuen dem Staat als vereinzelte, formell freie StaatsbürgerInnen gegenübertreten, wird dieser „als ein neutraler Sachwalter des >Gemeinwohls< wahrgenommen“ (Hirsch 1996, S. 52). Daß diese großzügig erscheinende und formal rechtliche Freiheit und Gleichheit nicht eine Lebensführung nach eigenem Belieben gestattet, wird jedoch daran sichtbar, daß wesentliche Strukturen, d.h. Klassenverhältnisse und das Geschlechterverhältnis fortwährend (re)produziert werden, da sie eben die Grundlage des kapitalistischen Herrschaftsmodells darstellen. Aber gerade die durch die Herauslösungsprozesse konstituierte formelle Freiheit und Gleichheit, als Ausdruck anonymisierter und demokratisierter Herrschaft, schaffen die Voraussetzung dafür, daß die kapitalistische Produktionsweise, mit ihren verankerten strukturellen Ungleichheiten und den Zwängen, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, „unbewußt“, weil unter dem Schein der Freiheit und Gleichheit fortwährend (re)produziert wird. Durch dieses Regulationsprinzip gelingt es, „verallgemeinerte und übergreifende Vorstellungen von Ordnung und Entwicklung der Gesellschaft durchzusetzen.“ (ebd., S. 57) Der damit hergestellte Konsens, der sozusagen auf dem „freiwilligen“ Vollzug von Zwängen, auf der „freiwilligen“ Unterwerfungsbereitschaft der Einzelnen, beruht, ist eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung und den Erhalt kapitalistischer Gesellschaften.

Neben der Zuschreibung eines neutralen Sachwalters erscheint der Staat den individualisierten Individuen jedoch auch als positiver Bezugspunkt im Sinne eines übergeordneten, schützenden und Sicherheit bietenden Rahmens einer kollektiven Nationalidentität (ebd., S. 38). „Dies bedeutet immer auch die Abgrenzung gegenüber einem Fremden, Äußerlichen, Exterritorialen.“ (ebd., vgl. dazu auch Sanin 2002) Damit wird nun wieder eine spezifische Grundstruktur der kapitalistischen Ökonomie postuliert, neben klassen- und geschlechtsspezifischen Ungleichheitsverhältnissen zählen auch Nationalismus und Rassismus zu den wesentlichen Bestandteilen kapitalistischer Gesellschaften (vgl. Balibar 1993, S. 132, Balibar & Wallerstein 1998).

 

1. 1. Individualisierung als Regulationsfunktion im Fordismus

Mit den bisher sehr abstrakt skizzierten Ausführungen sollte in erster Linie die grundsätzliche Einbettung des Individualisierungsprozesses in die kapitalistische Ökonomie veranschaulicht werden. Um diese Prozesse jedoch in praktischeren Dimensionen fassen zu können, ist eine Darstellung ihrer konkreten Funktionsweise notwendig. Um hier einen Anknüpfungspunkt zu finden, werden wir noch einmal kurz einige Ausführungen von Kapitel II. Revue passieren lassen.

Anhand der Theorien von Beck, der den „sekundären Individualisierungsschub“ mit der Gründung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats nach dem zweiten Weltkrieg ansiedelt, wissen wir, daß erst dadurch breite Teile der Bevölkerung, „niedrigere“ soziale Klassen sowie Frauen, in den Individualisierungsprozeß eingebunden wurden (siehe Kapitel II., 1. 2). In diesem Zusammenhang wurde die soziale Kontrollstruktur der Individualisierung in Verbindung mit dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat bereits genauer analysiert. Weil jedoch die zitierten TheoretikerInnen selbst den engen Zusammenhang zwischen Individualisierung und Kapitalismus zu ungenau explizieren, wurde bis jetzt noch nicht darauf hingewiesen, daß die Konzeption des sogenannten Sozial- und Wohlfahrtsstaats eine ganz konkrete Ausformung des kapitalistischen Herrschaftsmodells darstellt, ja geradezu ein „entscheidender Schritt zur Durchsetzung des Kapitalismus“ (Hirsch 1996, S. 42) war. Beck (1986) spricht in diesem Zusammenhang zwar die sozialstaatlich vorangetriebene Durchsetzung der Lohnarbeit an (siehe Kapital II., 2. 1. 1.), seine Beschreibung im Hinblick auf die damit einhergehende Institutionalisierung und Standardisierung von Indviduallagen bleibt allerdings sehr allgemein und auf deren Kontrollaspekte beschränkt, weshalb wir nun versuchen, diese Phänomene und deren dahinter stehende Funktionslogik, also den Zusammenhang der Kontrollogik mit der kapitalistischen Logik, etwas konkreter in den Blick zu bekommen.

Aufgrund der allgemeinen Ausbreitung der Lohnarbeit mittels Vollbeschäftigung und Massenproduktion war nun die ArbeiterInnenschaft auf noch umfassendere Weise in den Kapitalverwertungsprozeß eingebunden. Der Sozialstaat sollte dabei mit seinen sozialen Institutionen und Normen, den demokratischen Mitspracherechten, durch soziale Sicherungen und dem Zugang zum Massenkonsum die Funktion einer stabilisierenden Instanz erfüllen, „also beispielsweise für allgemeine Arbeitsdisziplin, stabile und stetig steigende Lohneinkommen und soziale Sicherungssysteme als Mittel der Konsumstablisierung sorgen.“ (Hirsch 1996, S. 49 f.)

Im „Fachjargon“ wird diese Ausformung des Kapitalismus als Fordismus bezeichnet, der die Akkumulations- und Regulationsweise nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bis Ende der siebziger Jahre darstellte und die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verhältnisse – nicht nur in den kapitalistischen Teilen der Welt – bestimmte (ebd., S. 75). Die historischen Ursprünge dieses wirtschaftlich-politischen Regulationsmodus gründen auf der Einführung der tayloristischen Massenproduktion in Henry Fords Automobilwerken, die aufgrund der Zerlegung der Produktionsprozesse auf einer Entmachtung der ArbeiterInnen beruhte. Durch relativ stabile Beschäftigungsverhältnisse, Vollbeschäftigung und Massenkonsum wurde die Akzeptanz dieser Arbeitsorganisation gesichert, die Sicherungssysteme des Sozialstaats sollten dabei individuelle Risiken und Unsicherheiten ausgleichen (vgl. Atzmüller 1997, S. 23). Dies wiederum bildete die Grundlage für die Erstarkung von Gewerkschaften und sozialpartnerschaftlichen Organisationen, denen aufgrund des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums gewisse Handlungsspielräume zur Verbesserung der Einkommens- und Arbeitsverhältnisse eingeräumt wurden. „Im politischen Kompromiß des Fordismus konnte dabei durch den relativen Ausgleich zwischen den Massenorganisationen des Kapitals und der Arbeiterschaft (Sozialpartnerschaft, Korporatismus) der grundlegende Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital reguliert werden.“ (Atzmüller 1997, S. 22 f.)

Gerade weil der fordistische Regulationsmodus die ökonomischen Lebensbedingungen fast aller gesellschaftlichen Schichten verbesserte (Stichwort: „Fahrstuhleffekt“) und dadurch legitimiert wurde, konnte dessen „monopolistische“ Organisationsweise im Stillen wirken. „Charakteristisch für sie ist ein hoher Grad an zentralisierter Normierung und Steuerung, einer fortschreitenden >Durchstaatlichung< vieler Lebensbereiche und ein erhebliches Maß an bürokratischer, partei- und verbandsmäßiger Kontrolle der Lebensweisen, des politischem [sic!] Verhaltens, der Interessensartikulation und der Interessensdurchsetzung.“ (Hirsch 1996, S. 79) Demnach ist der fordistische Staat ein „Sicherheitsstaat“ in doppeltem Maße: „als >Wohlfahrts<- und als >bürokratischer Kontroll- und Überwachungsstaat“. (ebd.)

Auch die sozialen Ungleichheiten konnten in der Realität des Fordismus nicht ausgeglichen werden, da diese, wie wir bereits weiter oben hörten, als struktureller Bestandteil in jedem kapitalistisch organisierten Ökonomiemodell verankert sind.

Bringen wir hier anschließend noch einmal die angesprochene kapitalistische Logik mit jener des Individualisierungsprozesses in einen Zusammenhang; denn daß sich der Vergesellschaftungsmodus der Individualisierung im kapitalistischen „Projekt“ des Fordismus weitestgehend durchsetzen konnte, ist natürlich kein Zufall. Gerade dieses Wirtschaftsmodell, mit seiner starken Ausrichtung auf Massenproduktion und Massenkonsum, war grundlegendst auf individualisierte Individuen angewiesen, da sie als „Marktindividuen“, d.h. als konkurrierende Arbeitskräfte und KonsumentInnen, ganz entscheidend an seinem Erfolg mitwirkten. Der Sozialsstaat, der als sicherheits- und freiheitsstiftende Institution wahrgenommen wurde, ermöglichte hierbei, daß sich die Individuen als scheinbar freie, unabhängige, von ihren traditionellen Milieus losgelöste, in diese Konkurrenzverhältnisse begeben konnten, sowohl auf der Sphäre der Produktion als auch auf jener der Konsumtion. Die damit verbundenen Abhängigkeiten und Zwänge wurden durch das vermittelte und in Folge selbst zugeschriebene Freiheits- und Unabhängigkeitsgefühl bis zur Perfektion verschleiert, was wiederum den ökonomischen Erfolg beider Sphären sicherte, ja geradezu massiv vorantrieb. Doch bevor wir unseren Blick auf diese vertiefen, d.h. zur aktuellen Ausprägung des Individualisierungsprozesses auf den Arbeits- und Konsummärkten übergehen, ist es notwendig, die gegenwärtige Ausformung der kapitalistischen Ökonomie, die das fordistische Akkumulationsregime ablöste, darzustellen.

 

1. 2. Individualisierung als Regulationsfunktion im neoliberalen und globalisierten Kapitalismus

Das im letzten Abschnitt dargestellte fordististische Wirtschaftssystem kam Anfang der siebziger Jahre in eine Krise. Dies führte aber keineswegs zu einem Umsturz der kapitalistischen Ökonomie, deren Wirksamkeit und strukturelle Formbestimmungen, auch wenn das bestehende institutionelle System brüchig wird, erhalten bleiben, sofern sie nicht revolutionär überwunden werden oder in einem generellen Zusammenbruch enden (vgl. Hirsch 1996, S. 64).

Das gegenwärtige „Gesicht“ des Kapitalismus, das sich aus der Krise des Fordismus allmählich etablierte, wird als „neoliberale Globalisierung“ bezeichnet. Auch die Durchsetzung dieser speziellen Ausformung der kapitalistischen Ökonomie und deren weitverbreitete Akzeptanz gründet wesentlich auf einer weiter fortschreitenden Individualisierung. „Dabei wurde durch diese Strömungen ein Bruch mit dem überkommenen System formuliert, damit große Teile der Bevölkerung aus den traditionellen ideologischen Praxisformen gelöst und mit einer neuen, als revolutionär charakterisierten gesellschaftlichen und politischen Praxis verbunden werden“ (Atzmüller 1997, S. 22). In diesem Sinne könnte man/frau vielleicht von einem „tertiären Individualisierungsschub“ sprechen, eine dementsprechende These wurde jedoch meines Wissens nach von keiner/m TheoretikerIn explizit formuliert.

Uns nun auf die Spuren der fortschreitenden Individualisierung begebend, werden wir versuchen, wichtige Aspekte der jüngsten ökonomischen Entwicklungen herauszuarbeiten. Eine allumfassende Analyse würde wohl den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen und erscheint für unser Forschungsinteresse nicht zielführend. Deshalb werden wir uns weniger auf die Ursachen der fordistischen Krise als vielmehr auf deren gesellschaftliche, ökonomische und politische Wirkungen und Folgen konzentrieren, da diese aus subjektorientierter Perspektive von besonderem Interesse sind.

1. 2. 1. Entstehungsbedingungen der neoliberalen Globalisierung

1. 2. 1. 1. Was heißt Globalisierung?

Der Begriff der Globalisierungin aller Munde zu sein scheint, bedarf aufgrund , der seit den achtziger Jahren als Modewort seiner vielfAnfang ein weitverbreitetes ältigen Auffassungen und Verwendungen einiger Präzisierung. Um gleich zu MiEntwicklung des ßverständnis aus dem Weg zu räumen, sei vorangestellt, daß Globalisierung keine neue Erscheinung und „Tendenz Weltsystems“ bedeutet. Der Prozeß der Globalisierung nahm vor mindestens 500 Jahren seinen Anfang und deren war von Beginn an geprägt durch das Bestreben, einen Weltmarkt zu schaffen und in diesem Sinne eine „Verwestlichung“ der Welt voranzutreiben (vgl. Novy, Parnreiter & Fischer 1999, S. 12). „Globalisierung, gedacht als unaufhörliche räumliche und soziale Expansion, stellt somit eine historische Konstante kapitalistischer Entwicklung dar.“ (ebd., S. 11) Dieser These folgendGlobalisierung und Durchsetzung des Kapitalismus einander bzw. sind sie in ihrer realen Ausprägung , bedingen vielmehr ineins zu setzen.

Was ist nun aber das spezifisch Neue, das den Prozeß der Globalisierung als Phänomen des zu Ende gehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts erscheinen läßt? Um diese Frage genau beantworten zu können, bedarf es zuerst einer genaueren Darstellung der jüngsten globalen Entwicklungsprozesse.

1. 2. 1. 2. Die Folgen der Wirtschaftskrise: neoliberale Globalisierung als „neue Weltordnung“

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre geriet das fordistische „Akkumulationsregime“ (Hirsch 1996, S. 49) zunehmend unter Druck. Die Profitraten begannen zu fallen, „die Verbindung von Massenproduktion und Massenkonsum, welche die Wachstumsdynamik getragen hatte, verlor an Schwungkraft.“ (Becker 1997, S. 11) Das Wirtschaftswachstum war geschwächt, die Produktivitätssteigerungen verlangsamten sich und die Arbeitslosigkeit stieg in Millionenhöhe (vgl. Novy, Parnreiter & Fischer a.a.O., S. 13). Die bisherige politische Ordnung konnte die ökonomische Entwicklung nicht mehr länger garantieren (vgl. Hardt & Negri 1997, S. 95).

Auf verschiedenen politischen Ebenen wurde versucht, die entstandenen Herausforderungen der Krise anhand ganz bestimmter politischer Strategien zu „bewältigen“, mit dem Ziel, die Weltwirtschaft neu zu ordnen (vgl. Viel 2000, S. 9). Die damit einhergehende „Umwälzung der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den kapitalistischen Zentren wurde unterstützt und begleitet von einem neuen Schub der Internationalisierung, dem der Charakter einer neuen historischen Phase der Globalisierung des Kapitalverhältnisses zukommt.“ (Hirsch 1996, S. 89)

Hier sind wir an dem Punkt angelangt, die oben aufgeworfene Frage, was denn jetzt nun das Neue der Globalisierung sei, zu beantworten. Der in diesem Zusammenhang viel verwendete Begriff des Neoliberalismus drückt sozusagen die ökonomischen Veränderungen aus, die sich in einer radikalen Flexibilisierung, Liberalisierung und Internationalisierung der Geld-, Finanz- und Kapitalmärkte manifestieren. Diese wurden, als Antwort auf die fordistische Krise, als politische Strategie verfolgt und wiederum durch die neuen Voraussetzungen und „Fortschritte“ des voranschreitenden Globalisierungsprozesses ermöglicht. Vor diesem Hintergrund weist Bieling (1997) auf drei grundlegende Transformationsprozesse hin: erstens „auf die Deregulierung und Aufblähung der globalen Finanzmärkte; zweitens auf die informationstechnologisch basierte Revolutionierung der Produktions-, Distributions- und Kommunikationsstrukturen; drittens schließlich auf die Modernisierung des globalen Infrastruktur- und des Transportsektors“ (S. 5), wodurch das Waren-, Produktions- und Geldkapital die großen Distanzen rascher überwinden konnte.

Liberalisierung, Flexibilisierung und Internationalisierung durch Globalisierung war und ist die neue politische und ökonomische Ordnung, die Logik der neuen Akkumulationsstrategie. Dabei wurden multinationale Unternehmen zu immer bestimmenderen Akteuren. Innerhalb der nationalen Ökonomien gewann der Exportsektor wieder an Bedeutung, durch das global immer flexibler werdende Kapital konzentrierten sich die einzelnen Staaten darauf, günstige Verwertungsbedingungen für den internationalen Wettbewerb zu schaffen. „Genau dies kollidiert aber zunehmend mit den Bedingungen einer sozialökonomisch ausgewogenen und demokratischen innergesellschaftlichen Entwicklung.“ (Hirsch 1996, S. 103) Hirsch spricht in diesem Sinne von der „Herausbildung eines neuen Typs des kapitalistischen Staates: dem >nationalen Wettbewerbsstaat<“. (ebd.)

Durch die intensivierte internationale Konkurrenz und den Kampf um Marktanteile befinden sich die staatlichen Regierungen in einem Wettlauf um günstige Bedingungen für die multinational operierenden Unternehmen – staatliche Wirtschaftspolitik heißt also, optimale Voraussetzungen „für technologische Innovations- und systemische Rationalisierungsprozesse“ (ebd., S. 107) zu schaffen, was im Begriff der „Standortkonkurrenz“ seinen Niederschlag findet.

Bevor wir nun zu den Folgen und Auswirkungen dieser neuen kapitalistischen „Weltordnung“ übergehen, wollen wir an dieser Stelle noch einmal kurz den hierzu öffentlich kursierenden Diskurs aufgreifen, der wohl ein völlig falsches Bild der ökonomischen Entwicklungen vermittelt. Die vielverbreitete „Sachzwangthese“ (vgl. Bieling 1997), der sich der politische und öffentliche Diskurs verschrieben zu haben scheint, läßt die Entwicklungen der neoliberalen Globalisierung im Licht eines von „äußeren“ Mächten vorgegebenem Schicksals, als unumgänglichen Zwang erscheinen, in den niemand eingreifen kann und dem „wir“ uns ganz einfach zu unterwerfen haben. „Es ist wichtig zu verstehen, daß die Globalisierung kein Prozeß ist, zu dem die Kapital- und Weltmarktentwicklung gleichsam naturwüchsig hindrängen würde, sondern daß sie das Ergebnis einer Politik ist, die von den großen Wirtschaftsmächten und den von ihnen majorisierten internationalen Organisationen betrieben wird, und die von der Mehrheit der Bevölkerung der metropolitanen Länder widerspruchslos mitgetragen wird.“ (Bennholdt-Thomsen 1997, S. 51) Die neoliberale Globalisierung ist ein politisches Projekt, das „unter dem Druck eines bestimmten politischen Kräfteverhältnisses zustande gekommen ist.“ (Huffschmid 1997, S. 25)

Die „Sachzwangthese“ erfüllt dabei zweierlei Funktionen: Zum einen soll sie die politischen AkteurInnen ihrer Verantwortung entheben, um sie in der Rolle erscheinen zu lassen, den äußeren Mächten selbst ausgeliefert zu sein, so als ob sie auf die ökonomischen „Vorgaben“ bestenfalls nur mehr reagieren können. Zum anderen erzeugt sie in der Bevölkerung selbst Gefühle von Ohnmacht und Ausgeliefertheit, was den weiteren Fortbestand dieser Ordnung im Sinne einer Unterordnung garantieren soll, indem „allen Ambitionen auf Veränderung von vornherein der Wind aus den Segeln genommen wird.“ (ebd., S. 27)

1. 2. 2. Gesellschaftliche und politische Folgen der neoliberalen Globalisierung

Wir wissen bereits, daß ungleiche Herrschaftsverhältnisse, Ausbeutung und Unterdrückung die Grundstruktur der kapitalistischen Ökonomie darstellen. Vor diesem Hintergrund bleiben in jeder Ausformung dieses Systems die grundlegenden sozialen Strukturen und Dynamiken wirksam. Doch mit der Durchsetzung des neoliberalen Projekts eröffneten sich neue Ausbeutungsspielräume und verschärften sich die räumlichen und sozial ungleichen Verhältnisse national und international. „Die Versprechungen des befreiten Marktes – die Wachstums-, Wohlfahrts- und Beschäftigungseffekte – lassen noch immer auf sich warten, und die sozialen Problemlagen türmen sich weiter auf.“ (Bieling 1997, S. 8)

Gerade weil wir es bei der neoliberalen Globalisierung mit einem globalen Prozeß zu tun haben, wird es hier allerdings nicht möglich sein, eine umfassende Darstellung seiner Auswirkungen zu geben. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns ausschließlich auf die veränderten Lebensverhältnisse der Individuen innerhalb der kapitalistischen Zentren konzentrieren.

1. 2. 2. 1. Gesellschaftliche Spaltungsprozesse

Mit dem Ziel der globalen Wettbewerbsfähigkeit unter der Bedingung des immer flexibler werdenden Kapitals wird eine Politik betrieben, die soziale Spaltungsprozesse weniger vermeidet als sie vielmehr voraussetzt. Es „ist also in erster Linie ein politisches Projekt zur monetären Deregulierung und Marktöffnung, das den Geldvermögenbesitzern nützt und – wegen der deflationären und wachstumshemmenden Wirkungen – denen schadet, deren Existenz von sicheren Arbeitsplätzen und vernünftigen Löhnen abhängt.“ (Huffschmid 1997, S. 25) Zur Erreichung dieses Ziels reagieren die nationalen Politiken dementsprechend: Durch die von den Unternehmen geforderten Herabsetzungen der Gewinnbesteuerungen und der Sozialausgaben (vgl. Bennholdt-Thomsen 1997, S. 51) werden die sozialen Verschlechterungen und die Massenarbeitslosigkeit ganz bewußt und strategisch einkalkuliert (vgl. Hirsch 1996, S. 123). Mit dem Abbau sozialstaatlicher Zuwendungen an benachteiligte Bevölkerungsgruppen und jenem der rechtsstaatlichen Schutz- und Sicherungsverordnungen für Lohnabhängige sollen die Lohnarbeitskräfte verbilligt werden, um die nationalen Wirtschaftsstandorte attraktiver zu machen (ebd.) „Praktische Beispiele für die Demontage sozialstaatlicher Sicherungssysteme sind: Kürzung von Arbeitslosengeld und –hilfe; Beschränkung der Bezugszeiten dieser Unterstützungen; Aussetzung der Rentenbeitragszahlung für Arbeitslosengeldbezieher; Senkung der Mindestlöhne und in diesem Zusammenhang eine verschärfte Debatte um das Lohnabstandsgebot bezüglich der Sozialhilfeleistungen.“ (Viel 2000, S. 18)

Daß unter solchen ökonomischen und politischen Voraussetzungen immer mehr Menschen von Arbeitsplatzverlust und sinkenden Reallöhnen betroffen sind und in Relation dazu nur wenige an den ansteigenden Gewinnen partizipieren können, liegt nunmehr klar auf der Hand. „Die beschriebene Änderung der Politik von einer integrativen zu einer gesellschaftsspaltenden, marginalisierenden Sozialpolitik ist also durchaus als eine qualitativ veränderte Sozialpolitik zugunsten der Interessen kapitalistisch-hegemonialer Kräfte zu verstehen.“ (ebd., S. 26)

1. 2. 2. 2. Kompensations- und Regulationsmaßnahmen der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse

Aufgrund dieser real zu erkennenden Umverteilung von unten nach oben und dem damit einhergehenden Abbau sozialer Sicherungssysteme verwandelte sich die staatliche Politik in eine „Legitimationspolitik“. Ihre Aufgabe ist es nun, der ÖErfordernisse plausibel zu machen, um einerseits „den politisch-sozialen Zusammenhalt ffentlichkeit diese „notwendigen“ einer auseinanderdriftenden Gesellschaft halbwegs zu gewährleisten“ (Hirsch 1996, S. 119) ökonomisch sich spaltenden und und andererseits umfassende Restrukturierung des Produktionsprozesses zu brechen.“ (ebd., S. 123) „Widerstände gegen die Die bereits weiter oben beschriebene „Sachzwangthese“ erfüllt hier eine Form der Regulation, mit der es gelingt, den Sparkurs (Privatisierungen staatlicher Unternehmen und den Abbau gewerkschaftlicher und Stichwort: Nulldefizit), den Sozialabbau, die sozialpartnerschaftlicher Mitspracherechte als unumgängliche und „natürliche“ Notwendigkeit zu verkaufen. Was dabei oftmals als eine Verschlankung des Staatesweg von den alten, verstaubten und überholten Strukturen hin , nach dem Motto: zu mehr Freiheit und Wohlstandund Schärfe staatlicher Interventionsformen und , erscheint, soll von einer „neuen“ Qualität -Wirtschaft oder von einer generellen möglichkeiten hinwegtäuschen. Von einem allgemeinen Rückzug des Staats aus der staatlichen Dezentralisierung kann allerdings keine Rede sein gerade die Stärkung (vgl. Huffschmid 1997, S. 26), ja bestimmter staatlicher Institutionen wie beispielsweise der Ministerien f(vgl. Bieling ür Wirtschaft, Finanzen und Verteidigung 1997, S. 6) oder des staatlichen Sicherheitssystems gehen mit den ökonomischen Entwicklungen Hand in Hand.

Gerade durch die Verstärkung der Autorität des Staates hinsichtlich des Ausbaus des Polizeiapparats (Stichwort: Lauschangriff, Rasterfahndung etc.) gelingt es, die Gefahr sozialer Unruhen zu kompensieren und die erweiterte staatliche Überwachung und Kontrolle dadurch zu legitimieren, indem ein ablenkendes Feindbild, im aktuellen Fall die „organisierte Kriminalität“ (vgl. Hirsch 1996, S. 159, Hardt & Negri 1997, S. 99 f.) bzw. der „internationale Terrorismus“ zum Kernproblem der aktuellen Entwicklungen erhoben wird. Dieses vermeintliche „Ablenkungsmanöver“ mobilisiert und fördert individuelle Ängste und Bedrohungen, nicht nur, um den neoliberalen Konsens, sowie jenen der (intensiveren) Notwendigkeit zur Überwachung von Individuen zu stärken, sondern auch um bestimmte gesellschaftliche Gruppen ganz gezielt zu marginalisieren, aber auch zu kriminalisieren.

„Die Alternative zu einem erweiterten Sozialstaat, der unter den Bedingungen eines sich globalisierenden Kapitalismus mit der Durchsetzung des nationalen Wettbewerbsstaats immer unwahrscheinlicher scheint“, ist sozusagen „ein interventionistisch erweiteter, vor allem in seinen Eingriffs-, Überwachungs- und Kontollmöglichkeiten entscheidend erweiterter Sicherheitsstaat.“ (Hirsch ebd., S. 160; vgl. dazu auch Hardt & Negri 2002)

1. 2. 2. 2. 1. Die Rolle der Individualisierung

Vor dem Hintergrund der letzten Abschnitte sind wir nun an dem Punkt angelangt, die besondere Rolle, die dem Individualisierungsprozeß in diesem komplexen Gefüge zukommt, in ihrem vollen Umfang erkennen zu können. Auch wenn die staatlichen Institutionen ganz gewiß ihre Funktion der Regulation anhand der verschiedensten Interventionsformen erfüllen, sind es nicht zuletzt die einzelnen individualisierten Individuen, welche die Grundpfeiler für die Hegemonie des neoliberalen Systems, durch dessen Verankerung in ihrem Alltagsbewusstsein, sichern. „Neoliberalismus/Neokonservatismus beruht daher nicht einfach auf einem ‚falschen Bewußtsein’ das sich die Menschen von ihrer Existenz machen, sondern auf der selbsttätigen Einbindung in die spezielle Anrufung der Subjekte als Marktindividuen durch diese Ideologie (vgl. Althusser, 1976).“ (Atzmüller 1991, S. 29)

In diesem Sinne erfüllt der Vergesellschaftungsmodus der Individualisierung eine wesentliche Regulationsfunktion, ja er verkörpert sozusagen die zweckoptimierte Subjektivierungsform in kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen – vor allem in ihrer neoliberalen und globalisierten Ausformung –, weil durch die mit diesem Vergesellschaftungsmodus einhergehende Verlagerung gesellschaftlicher Bedingungen, Risiken und Krisen in die Individuen hinein die politische Apparatur fortlaufend entlastet wird und damit soziale Ungleichheiten, sowie die vorangetriebenen gesellschaftlichen Spaltungsprozesse, als Produkt des individuellen Versagens erscheinen. Aber nicht nur diese Privatisierung von individuellen Chancen, Emanzipation, Freiheit und Erfolg spielen dem neoliberalen Kapitalismus in die Hände, auch das durch den Individualisierungsprozeß vorangetriebene individuelle Konkurrenzverhalten kurbelt das persönliche Durchsetzungsvermögen der Marktsubjekte an und wird dabei zur allgemeinen Leitvorstellung (vgl. Hirsch 1996, S. 158). „Entfesselte Marktkonkurrenz tritt mehr und mehr neben oder an die Stelle bürokratisch-repressiver Kontrolle.“ (ebd., S. 157)

In diesem Zusammenhang treten vor allem der gegenwärtige Konsum- und Arbeitsmarkt als diejenigen kapitalistischen Märkte hervor, welche auf konstitutive Weise von den konkurrierenden Individuen profitieren. Wie die individualisierten Individuen auf diesen beiden Märkten in die neoliberalen Verwertungsprinzipien eingebunden sind, wollen wir uns nun etwas genauer anschauen.

 

1. 3. Individualisierung als strategisches Verwertungsprinzip auf den gegenwärtigen Arbeitsmärkten

Bevor wir hier allerdings die strukturellen Bedingungen der gegenwärtigen Arbeitsmärkte diskutieren, sollte zuerst darauf hingewiesen werden, in welchen konkreten Kontext von Macht und Herrschaft die kapitalistischen Produktionsverhältnisse eingebettet sind.

Grundsätzlich gilt, daß in kapitalistischen Produktionsverhältnissen, die sich durch Ausbeutung und Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft immer auf soziale Hierarchien und Ungleichheiten der Lohnabhängigen stützen, die Menschen „zum >freiwilligen< Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind“ (Hirsch 1996, S. 19). Lohnarbeit ist die allgemeingültige Berechtigung der eigenen Existenz. „Arbeit, obwohl ursprünglich als produktives Bedürfnis Teil des Lebens, wird auf diese Weise zur fremdbestimmten Pflicht, die Menschen gehören während ihrer Ausübung nicht sich selbst.“ (Gerlach 2000, Hyperlink, o.S.) Dieser fremdbestimmte Charakter wird allerdings insofern verschleiert, als die Menschen auf dem Arbeitsmarkt Vertragsverhältnisse eingehen, „als handele es sich beim Verkauf der Arbeitskraft um einen Warentausch zwischen gleichberechtigten Partnern, während das Zwangsmoment der Abhängigkeit gedanklich eliminiert ist.“ (ebd.) Gleichzeitig reproduziert jede/r mit dem Einsatz der eigenen Arbeitskraft, ob bewußt oder unbewußt, gezwungenermaßen diese fremdbestimmten (Herrschafts-)Verhältnisse.

Vor diesem Hintergrund treten sich die Lohnabhängigen auf dem Arbeitsmarkt in erster Linie als vereinzelte KonkurrentInnen gegenüber. „Dabei ist Konkurrenz zunächst gar keine subjektiv-persönliche ‚Einstellung’ oder ein unschöner ‚Verhaltensstil’, den man durch guten Willen abbauen könnte, sondern das allerobjektivste und zwingendste gesellschaftliche Faktum, das es im Kapitalismus gibt.“ (Ottomeyer 1977, S. 80) Die Konkurrenzhaftigkeit der Arbeitsbeziehungen wird schließlich als Natusverhältnis mystifiziert (vgl. Gerlach 2002, Hyperlink, o.S.)

War der Fordismus, wie wir weiter oben hörten, durch die tayloristische Arbeitsorganisation mit ihren zerstückelten, monotonen Arbeitsabläufen, in denen den Arbeitenden keine eigene Kontrolle ihrer Arbeitstätigkeiten gewährt wurde, gekennzeichnet, so kam auch diese durch die Wirtschaftskrise immer stärker unter Druck (vgl. Maas & Schüller 1991). Sie sollte so von ihrem Monopol als einzig gültiger Produktionsmaßstab verdrängt werden.

Die Bestrebungen, ein neues Akkumulationsmodell durchzusetzen und die Einführung neuer Produkte, Produktions- und Kommunikationstechnologien, neuer Techniken im Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich (vgl. Kolb 1992, S. 38), machten es „notwendig“, entsprechende Arbeitskonzepte zu finden, um die neuen „Herausforderungen“ der Produktionsverhältnisse optimal verwerten zu können. Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse sind nun die neuen Strategien (vgl. Hirsch 1996; Kolb 1992, Michailow 1995), welche die bisherigen Formen der Betriebs- und Arbeitsorganisation grundlegend verändern sollten. „Während bei der Individualisierungs-Idee die Mitarbeiter im Vordergrund stehen, rückt bei der Flexibilisierung die betriebliche Perspektive in’s [sic!] Zentrum.“ (Kolb 1992, S. 41) Damit verbundene Assoziationen wie Freiheit, Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Flexibilität usw., wie sie von den Wirtschaftstreibenden verkauft werden, decken sich keineswegs mit der Realität des Arbeitsmarktes. Unter dem Deckmantel dieser Begriffe werden ökonomische Strategien verwirklicht, um die Profitabilität des Kapitals (wieder)herzustellen und neue Rationalisierungs- und Ausbeutungsspielräume zu schaffen (vgl. Hirsch 1996, S. 89 und 104). Vor diesem Hintergrund wird die/der „Unternehmer/in eigener Arbeitskraft als Leitbild und als Anforderung propagiert“. (Baatz 2002, o.S.) Der jüngste Schritt in diese Richtung ist beipielsweise die in der BRD eigens eingesetzte Hartz-Kommission, die mit neuen, als „innovativ“ geltenden Begriffen wie der „Ich-AG“, neue Produktionsstrategien konstituiert, um die Arbeitslosenstatistik zu frisieren (vgl. Brütt 2002, S. 7). Deregulierung, Leistungskürzungen und schärfere Zumutbarkeitsregeln für die Betroffenen sind Teil derartiger Projekte. So waren die Lohnabhängigen im fordistischen Sozialstaat zwar ebenfalls zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen, allerdings schuf er zumindest die Voraussetzung dafür, daß sie sich nicht unter jeden Umständen auf den Arbeitsmarkt begeben mußten. Die gegenwärtigen Arbeitsmarktstrategien zielen allerdings auf einen bedingungslosen Zwang zur Arbeit ab. Dazu meint auch Gerlach (2000): „Obwohl immer weniger Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit sichern können, wird diese weiterhin als Bedingung für die individuelle Existenzberechtigung aufrechterhalten. Der Bezug noch existierender Lohnersatzleistungen wird mit erpresserischen Schikanen, teils mit Zwangsarbeit verknüpft, Qualifikationsschutzbestimmungen sind abgeschafft, um noch mehr Druck auf die Betroffenen auszuüben, auch schlechteste Arbeitsverhältnisse und Löhne zu ‚akzeptieren’.“ (Hyperlink, o.S.)

Anders als in den beiden vorhergehenden Kapiteln werden wir in diesem nicht auf geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Anforderungsstrukturen der gegenwärtigen Arbeitsmärkte eingehen, da eine derartige tiefergehende Analyse unseren Forschungsschwerpunkt überschreiten würde. Diesbezüglich sei beispielsweise auf die Arbeiten von Scholz (2000) oder Baatz (2002) verwiesen.

1. 3. 1. Individualisierung, Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse als neue Profitabilitätsstrategien

Ziel der neuen Profitabilitässtrategien ist die Flexibilisierung der Arbeitskräfte und deren gleichzeitige Motivierung zu ArbeitskraftunternehmerInnen (vgl. Baatz 2002, o.S.).

In diesem Zusammenhang wird die Individualisierung der Arbeitsverhältnisse als Strategie verkauft, in der das Einzelne und Besondere der jeweiligen MitarbeiterInnen, die Bedürfnisse der Einzelnen im Vordergrund stehen, die durch gezielte Maßnahmen – wie „individuelle“ Arbeitszeiten, erweiterte Handlungsspielräume, mehr individuelle Verantwortung und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten (vgl. Maas & Schüller 1991) usw. – befriedigt werden sollen. Selbstverwirklichung im Beruf, „Verwirklichung von mehr Flexibilität und Individualität in der Arbeitswelt“ (Kolb 1992, S. 37) wird von unternehmerischer Seite her propagiert. Die Entstandardisierung der Arbeitszeiten, die vor allem durch das verstärkte Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen vollzogen wird, die Dezentralisierung von Machtverhältnissen, wie sie im Teamkonzept propagiert wird, die Flexibilisierung der Arbeitsstrukturen etc., scheinen aber nur auf den ersten Blick im Interesse der einzelnen ArbeitnehmerInnen zu stehen. In Zeiten von neoliberalen Kapitalverwertungsprinzipien, gepaart mit Massenarbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit, verfolgen diese neuen personal- und betriebswirtschaftlichen Gestaltungsprinzipien jedoch keineswegs eine „uneigennützige“ Aufwertung der individuellen Leistungen. „Der besondere Anlagebereich und die besondere Arbeit der Menschen, ihre besonderen Fähigkeiten und Qualifikationen sind nur Mittel zum Zweck.“ (Ottomeyer 1977, S. 99) Die Strategien der Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, im Sinne der propagierten Freiheit, Flexibilität, Unabhängigkeit und individuellen Selbstverwirklichung, werden dafür benutzt, einerseits die individuelle Anpassungsfähigkeit und -bereitschaft an veränderte Umweltkonstellationen und „hinsichtlich verschiedenartiger interner und externer Situationen“ (Kolb 1992, S. 41) voranzutreiben und andererseits die gesellschaftlichen Deregulierungsmaßnahmen, wie sie von einschlägigen WirtschaftsexpertInnen propagiert werden (vgl. Hirsch 1996, S. 124), sowie die damit einhergehenden beruflichen und sozialen Unsicherheiten zu rechtfertigen bzw. legitimieren (vgl. Sennett 2000). Je „individueller“, unerreichbarer und „erfolgs- bzw. gewinnversprechender“ der eigene Arbeitsplatz erscheint, desto „leichter“ werden befristete Arbeitsverhältnisse, Arbeit nach Abruf, ständige Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft (vgl. Michailow 1995, S. 90), „die Lockerung und Auflösung tarifvertraglicher und gesetzlicher Sicherungen und Beschränkungen, die Abschaffung des standardisierten Normalarbeitsverhältnisses“ usw. (Hirsch 1996, S. 124) in Kauf genommen.

Durch die Individualisierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, verbunden mit der „Individualisierung sozialer Ungleichheit“ (siehe Kapitel II., 2. 1. 3.), in einem ökonomischen System, in dem gesellschaftliche Spaltungsprozesse, Massenarbeitslosigkeit, verbunden mit einem Abbau des sozialen Sicherungssystems, strukturell verankert sind, treten sich die einzelnen AkteurInnen auf diesem Arbeitsmarkt nun noch verstärkter als KonkurrentInnen gegenüber. „Sich selbst stets zu optimieren (und dabei Spaß zu haben) in dieser sportlichen Konkurrenz gewinnen zu wollen, ist Voraussetzung um fit für den Arbeitsmarkt zu werden oder zu bleiben.“ (Baatz 2002, o.S.) Der mehr oder weniger erfolgreiche Kampf um den Arbeitsplatz erscheint unter diesen Voraussetzungen noch zwingender als Ergebnis der eigenen, ganz privaten Geschicklichkeit (vgl. Ottomeyer 1977, S. 79). Die Verteidigung des eigenen Arbeitsplatzes und die Angst vor Arbeitsplatzverlust werden dabei zur sicheren Quelle der Arbeits- und Leistungsmotivation (ebd., S. 119).

Durch die ökonomisch bedingte Verschärfung der individuellen Konkurrenzkämpfe führen die individuellen Anstrengungen schließlich zu einer „freiwilligen“ Optimierung der Leistungsbereitschaft, von der die Unternehmen ganz entscheidend profitieren. Sennett (2000) zitiert einen Manager, der diese betriebliche Logik ganz treffend auf den Punkt bringt: „Die Leute müssen lernen, daß wir alle auf die eine oder andere Art zu ersetzen sind.“ (S. 153) „Es ist die flexible Unterwerfungsbereitschaft pur, mag kommen was will. Entfremdung wird als Freiheit gefeiert.“ (Keupp 1998, S. 35)

Demzufolge sind die personal- und betriebswirtschaftlichen Strategien – Individualisierung und Flexibilisierung – verbunden mit gesellschaftlichen Deregulierungsmaßnahmen gezielt darauf ausgerichtet, die Konkurrenz der Arbeitskräfte untereinander, die Optimierung der individuellen Leistungsbereitschaft bzw. der zu erbringenden Arbeitsleistungen, zu mobilisieren und die „Bereitschaft zur Übernahme unangenehmer und schlecht entlohnter Arbeiten“ (Hirsch 1996, S. 156 f.) zu forcieren. Das Wissen, daß diese konkurrenzgeprägte Szenerie einer kapitalistischen Logik folgt, in der „die Erfolgreichen den Spieltisch ab[räumen], während die Masse der Verlierer das Wenige teilt, was übrigbleibt“ (Sennett 2000, S. 119), scheint dabei verloren zu gehen.

 

1. 4. Individualisierung als strategisches Verwertungsprinzip der gegenwärtigen Konsummärkte

Neben dem Zwang, die eigene Arbeitskraft „freiwillig“ zu verkaufen, ist auch der private Konsum und Verbrauch ein fundamentaler Motor für die kapitalistische Produktionsweise. „Der Konsument ist die Grundlage eines Unternehmens und sichert seine Existenz. Er allein schafft Beschäftigung.“ (Drucker 1954, S. 35 f.; zit.n. Rifkin 2000, S. 143)

Der gesamtwirtschaftliche Erfolg ist damit ganz entscheidend auf die Kaufkraft und Konsumbereitschaft der Individuen angewiesen. Vor diesem Hintergrund spielt der Individualisierungsprozeß eine ganz entscheidende Rolle. Er ist sozusagen eine treibende Kraft, die den fortschreitenden Konsumprozeß und damit den kapitalistischen Verwertungsprozeß vorantreibt, weil sich die Individuen unter den Voraussetzungen dieses Vergesellschaftungsmodus auch auf den Konsummärkten als vereinzelte KonkurrentInnen gegenüberstehen.

Der individuelle und der ökonomische „Wettbewerb“ stehen in einer engen wechselseitigen Beziehung miteinander, sie sind aufeinander abgestimmt, ihr gemeinsames Produkt ist das wirtschaftliche Wachstum. „So wie die Bedürfnisse die Produktion von immer mehr fertigen Lebensumständen herausfordern, so fordert der Konsumismus immer mehr Bedürfnisse heraus.“ (Gronemeyer 1988, S. 71) Das Konkurrenzprinzip, die Hervorhebung des eigenen Selbst, immer mit dem Blick auf den vorteilhaften oder nachteiligen Abstand zu anderen, lassen Bedürfnisse, welche Basis-Bedürfnisse wie Essen, Wohnen und Kleidung übersteigen, erst entstehen. In dieser Dynamik setzt sich „in den menschlichen Beziehungen die Konkurrenz als einzig mögliches […] Beziehungsmuster durch.“ (ebd., S. 73) Damit befinden wir uns nun wieder im ideologischen Kontext des etablierten Entwurfs von Individualität: „Die Bereitschaft zum zwischenmenschlichen Wettkampf, zur Hervorhebung des eigenen Selbst in Konkurrenzbeziehungen ist in dieser Form etwas für unsere westlich-kapitalistische Kultur Typisches.“ (Ottomeyer 1977, S. 80; Hervorh. K.H.)

Im ökonomischen Wettbewerb steht dabei die Hervorbringung von Produkten im Vordergrund, die auf der einen Seite den vorhandenen Bedarf durch Bedürfnisbefriedigung decken und auf der anderen Seite ganz gezielt und systematisch neue Bedarfslagen schaffen sollen, um eine Produktivitätssteigerung voranzutreiben (vgl. Gronemeyer 1988, S. 74). Diese Produktionslogik nutzt das Konkurrenzverhältnis der KonsumentInnen dadurch aus, als sie diese dazu verleitet, immer mehr Dinge zu erwerben, die sie eigentlich gar nicht benötigen (vgl. Schwarz 1993, S. 10). Nicht mehr der Gebrauchswert an sich steht dabei im Vordergrund, sondern dessen symbolischer Wert, der vor allem die ästhetischen und sozialen Bedürfnisse der KonsumentInnen befriedigen und vorantreiben soll.

1. 4. 1. Die Individualisierung des Konsums

Der wirtschaftliche Aufschwung, der das „goldene Zeitalter“ des fordistischen Sozial- und Wohlfahrtsstaats kennzeichnete, wurde ganz entscheidend durch Massenproduktion und Massenkonsum vorangetrieben. Die „Pluralisierung der Lebensstile“ (siehe Kapitel II., 2. 1. 2.), als eine Erscheinung des Individualisierungsprozesses, mündete in Produktion und Erwerb von standardisierten Massenwaren. Die Vielfältigkeit des Massenangebots und der neue Wohlstand trugen dazu bei, das wohl sehr offensichtliche Paradoxon einer standardisierten Individualität nicht weiter in Frage zu stellen, es eigentlich zum Verschwinden zu bringen.

Auch auf die Konsummärkte wirkte sich die Fordismuskrise allmählich aus. Durch einen Rückgang des privaten Verbrauchs zu Beginn der achtziger Jahre stagnierte die Nachfrageautomatik, doch bereits Mitte der achtziger Jahre zeichnete sich ein erneuter Aufschwung der Konsumbereitschaft ab, der sich in einem „neuen“ KonsumentInnenverhalten im Sinne einer Bildung neuer KonsumentInnentypen darstellte (vgl. Blickhäuser & Gries 1989). Die Konsummärkte reagierten also auf die Krise, das Zeitalter der „Individualisierung des Massenangebots“ (Pine & Glimore 2000, vgl. auch Rifkin 2000, S. 145) war geboren. „Angesichts der fortschreitenden Kommerzialisierung des Lebens und der sozialen Beziehungen scheint soziales >Distinktionsverhalten<, d. h. der Versuch, gesellschaftliche Zugehörigkeiten und Unterschiede mittels demonstrativen Konsums deutlich zu machen, immer wichtiger zu werden.“ (Hirsch 1996, S. 128) Der wirtschaftliche Erfolg der Konsumindustrie wird dadurch aktiv vorangetrieben.

Durch verändertes Nachfrageverhalten sowie technologische bzw. informationstechnologische Errungenschaften der letzten Jahre (vgl. Hildebrand 1997) wurde die Individualisierung des Konsums die „neue“ Wettbewerbsstrategie der Marktbearbeitung. Durch intensivere Formen der Freizeitgestaltung und die allgemeine Zunahme der Freizeit auf der Seite der KonsumentInnen, durch flexiblere Produktionsmöglichkeiten auf der Seite der Konsumgüterindustrie, wurden alte Märkte umstrukturiert und neue geschaffen, was den Massenkonsum in einer neuen Gestalt erscheinen ließ. „Insgesamt verschiebt sich allerdings der Konsum noch stärker zu kapitalistisch profitablen Waren und Dienstleistungen […].“ (Hirsch 1996, S. 128 f.)

Verwirklichung des Lebensstils bzw. individuelle Selbstverwirklichung im Konsum (vgl. Blickhäuser & Gries 1989, S. 6 f.) hieß und heißt die neue Diktion. Mit einem entsprechend vielfältigen, weil besonders flexiblen und kurzlebigen Angebot an Gütern und Dienstleistungen erscheint die Massenware als individuelle, scheinen die einzelnen Bedürfnisse befriedigt werden zu können. Die Konsummärkte profitieren umso besser von dieser Strategie, je „geschickter“ die einzelnen Unternehmen Individualität verkaufen und desto größer sind folglich ihre ökonomischen Vorteile: Spitzenpreise, geringe Preisnachlässe, höherer Ertrag pro Kundin/Kunde, größere Zahl von KundInnen und größere KundInnentreue (vgl. Pine & Gilmore 2000, S. 130 f.).

Mit der „Individualisierung des Massenkonsums“ wurde es möglich, ein breites Spektrum individualitätshungriger KonsumentInnen anzulocken. Mit ihr wird das kulturell produzierte Bedürfnis der Individuen, sich von der Masse abzuheben, befriedigt und weiterhin vorangetrieben. Daß ein Massenangebot – mag seine Ausgestaltung noch so vielfältig, flexibel und individuell organisiert sein – immer in einer Standardisierung endet und damit der sozialen Kontrolle dient, liegt klar auf der Hand.

1. 4. 2. Die „neue“ Spaßideologie

Der neue „Streich“ der Konsumindustrie ist das Geschäft mit Erlebnissen. Die Verknüpfung von Konsum und Spaß soll jeder/m Einzelnen das individuelle Erlebnis bieten. Erlebnisse und Erfahrungen werden dabei zur Ware schlechthin (vgl. Rifkin 2000, S. 19). Es enstanden und entstehen Märkte (z.B. Freizeitparks, Shoppingmalls usw.), an denen möglichst viele Menschen möglichst viel Freizeit verbringen sollen, um sich vorgefertigte Erfahrungen jeglicher Art zu kaufen (ebd., S. 207). Technische Errungenschaften machen es dabei möglich, das individuelle Konsumverhalten zu erforschen, um daraus detaillierte Lebensstile zu entwickeln (ebd., S. 134).

Ein gutes, weil individuelles Lebensgefühl, Spaß und Vergnügen, werden dabei an die Teilnahme am Konsum gebunden. „>Erleben< ist, was auch die entsprechenden empirischen Untersuchungen hervorheben, zuallererst Konsum.“ (Hirsch 1996, S. 131) Erlebniskonsum wird damit zum kommerziell ausbeutbaren Zwang. Was Spaß ist und wer ihn sich wo leisten können soll, wird von den Wirtschafts- und Marktstrategen definiert.

Nicht zufällig entpuppt sich gerade in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und Verlust sozialer Sicherheiten im Beruf diese Strategie als besonders erfolgsversprechend, so bietet das Geschäft mit dem Erlebniskonsum den Individuen ein breites Spektrum an Möglichkeiten, den grauen Alltag zu vergessen (vgl. Opaschowsky 1991). „Je weniger die sozialen Verhältnisse als gestaltbar erscheinen, desto stärker prägt sich Individualität als Selbststilisierung aus, wird gesellschaftliche Praxis durch das konsumistische Erlebnis ersetzt.“ (Hirsch 1996, S. 158) Hier scheinen sich die Individuen persönlich entfalten zu können, sind „frei“, erleben ihr individuelles Erlebnis, sind umgeben von einer Welt, die ihrer eigenen Lebenswelt um nichts gleicht und deshalb bereit, sich das auch etwas kosten zu lassen. Daß sie gelegentlich zuviel Geld ausgeben und über ihre Verhältnisse leben (ebd., S. 114 f., vgl. auch Schwarz 1993, S. 76) nehmen sie dabei „gerne“ in Kauf.

Die ideologische Anforderungsstruktur dieser Art des Konsumverhaltens geht dabei verloren, ja der propagierte Marktindividualismus wird als Freiheit, Innovation und als Errungenschaft in jeder Hinsicht gefeiert. Hier erfüllt der Individualisierungsprozeß zweierlei Funktionen: angetrieben vom Bedürfnis nach Individualität, Freiheit, Spaß und sozialer Anerkennung, das die Individuen „nur“ durch Warenkonsum befriedigen können, befinden sie sich zum einen in einem fortwährenden Konkurrenz- und damit Leistungskampf und sind gleichzeitig aktiv am ökonomischen Wachstum, d.h. am kapitalistischen Verwertungsprozeß beteiligt. Zum anderen scheint das gekaufte Konsumerlebnis die individuellen Bedürfnisse so weit zu befriedigen, aufdaß das Konfliktpotential der sozialen Verhältnisse und Ungleichheiten, in denen sich die Einzelnen befinden, entschärft wird.

Es ist allerdings eine Tatsache, daß ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft durch wachsende Armut aufgrund von Arbeitslosigkeit und Unterbezahlung nur noch an den Rändern dieser Konsumwelt existieren kann (vgl. Hirsch 1996, S. 129) und somit gewissermaßen ein „Zaungast-Dasein“ fristet.

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