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IX. Interpretation

Nach dieser ausführlichen Darstellung der Ergebnisse gilt es nun, diese im Hinblick auf Zusammenhänge und Wirkungsschlüsse genauer unter die Lupe zu nehmen und zu interpretieren, wobei auch auf die Ausführungen des Theorieteils, auf die forschungsleitenden Grundüberlegungen und Fragestellungen, die der Untersuchung vorausgingen, bezug genommen werden soll.

Bevor wir jedoch in die Analyse einsteigen, bedarf es noch einiger Klärungen. So stellt uns die Fülle der dargestellten Ergebnisse vor das Problem, daß nicht alle der darin enthaltenen Aspekte im Theorieteil bereits erörtert und diskutiert wurden. Folglich wäre es notwendig, die hier vorgefundenen Erkenntnisse, die unsere bisherigen übersteigen, mit jenen von anderen WissenschafterInnen zu vergleichen. Dies kann angesichts der Menge des erhobenen Forschungsmaterials allerdings nur beschränkt geleistet werden. Um diesen „Mangel“ zu kompensieren, werde ich das im Theorieteil erarbeitete Wissen mit eigenen Schlüssen erweitern, was mir als Forscherin die Chance und Gelegenheit eröffnet, mich auch ein Stück weit zu „emanzipieren“.

Des weiteren soll darauf hingewiesen werden, daß in der anschließenden Analyse nicht das Ziel verfolgt wird, die soziale Herkunft bzw. das Geschlecht der Interviewten grundsätzlich zu fokussieren. Wohl aber sollen vorgefundene klassen- und geschlechtsspezifische Aspekte und Unterschiede benannt werden. Eine diesbezüglich genauere Analyse wäre zwar interessant, wurde aber, um den Rahmen der Untersuchung nicht ausufern zu lassen, bewußt „vernachlässigt“. Insofern können die hier erarbeiteten Erkenntnisse als Einladung verstanden werden, sich in weiterführenden Untersuchungen mit spezifischen Aspekten genauer zu befassen.

 

1. Jugend ist Leistung

Lassen wir nun als ersten Schritt eine der zentralen Grundüberlegungen und damit verbundene Fragestellungen, wie sie in Kapitel VI. (2. 1. und 2. 2.) formuliert wurden, noch einmal kurz Revue passieren, bevor wir uns einer Vertiefung der erhobenen Ergebnisse widmen. Die Grundüberlegung lautete: Jugendliche Lebenspraxis ist jugendliche Leistungspraxis, wobei der Leistungsbegriff auf außerschulische/-berufliche Anforderungen erweitert wurde. Um dieser Behauptung auf den Grund zu gehen und die Vielfalt der vorgefundenen Leistungsaspekte genauer aufzuschlüsseln und zu analysieren, halten wir uns folgende Fragestellung vor Augen:

Bereits der als erstes dargestellte Themenkomplex Streß/Leistung (siehe Kapitel VIII., 1.) beinhaltet Leistungsaspekte, die sich einerseits auf schulische/berufliche und andererseits auf außerschulische/-berufliche (Leistungs-)Anforderungen beziehen. Die hier vorgenommene Differenzierung Streß von Außen versus Streß von Innen bildet dabei das Spannungsfeld institutioneller Leistungsanforderungen versus internalisierter Leistungsanforderungen.

Weil Selbstdarstellungspraxen von Jugendlichen ein Teil ihrer Lebenspraxis und im Sinne meiner Grundüberlegungen außerschulische/-berufliche Anforderungen darstellen, soll auch der zweite Themenkomplex Selbstdarstellung (siehe Kapitel VIII., 2.) unter anderem nach Leistungsaspekten untersucht werden, auch wenn diese hier schwieriger zu verorten sind.

Da es mir, wie bereits erwähnt, in diesem Kontext nicht möglich ist, die Subjekte aktiv in Auswertung und Interpretation miteinzubeziehen, muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß das, was hier als Leistung bezeichnet wird, ausschließlich der Definitionsmacht der Forscherin und nicht jener der Beforschten obliegt und mitunter vielleicht nicht deren begrifflichen Vorstellungen entspricht.

 

1. 1. Leistung im Spannungsfeld institutioneller und internalisierter Anforderungen

Aufgrund der dargestellten Aussagen im Themenkomplex Streß/Leistung drängen sich bereits erste Schlüsse auf: Jugendliche stehen unter einem massiven Leistungsdruck, sowohl was objektive, strukturelle bzw. institutionalisierte Leistungen anbelangt, als auch subjektive, internalisierte bzw. individualisierte. Dies weist gleichzeitig darauf hin, daß Leistung für Jugendliche einen besonders hohen Stellenwert hat, weshalb ich zum zweiten Schluß komme: Die Jugendlichen sind überaus leistungsorientiert. Ein erster Blick in die Theorie bestätigt diese Behauptung, demnach sind beispielsweise die heutigen SchülerInnengenerationen im Vergleich zu früheren eher leistungsorientierter (vgl. Fölling-Albers 1999, S. 12, siehe auch Kapitel IV, 1. 1. 3.). Damit ist bereits eine erste Polarität eröffnet: Leistung ist einerseits Druck und Belastung, andererseits „Bedürfnis“ und Selbstverständnis.

Es gilt nun, diesen Behauptungen auf den Grund zu gehen und zu versuchen, die Bedeutungsstrukturen und Zusammenhänge der „objektiven“ und „subjektiven“ Leistungsanforderungen aufzuschlüsseln, auch um einen Konnex mit den (gegenwärtigen) gesellschaftlichen Verhältnissen herzustellen.

1. 1. 1. Leistungsdruck im Kontext „objektiver“ Leistungsanforderungen

Beginnen wir nun also mit den „objektiven“ Leistungsanforderungen der Institutionen Schule/Arbeit/Beruf (siehe Kapitel VIII., 1. 1. Streß von Außen). In diesem Kontext werden von den Befragten ganz konkrete schulische bzw. arbeitsbezogene Strukturen und Anforderungen, wie das geforderte Lernausmaß, lange Unterrichts- bzw. Arbeitszeiten, die damit zusammenhängende „Beschneidung“ der Freizeit, das Schulsystem allgemein, die Anforderungen der Ausbildungsplatzsuche, als belastend dargestellt. Zudem werden Ängste vor Fehlleistungen im Hinblick auf negative Konsequenzen und Folgen angesprochen und vier der Interviewten berichten sogar über psychosomatische Beschwerden im Zusammenhang mit dem hohen Leistungsdruck.

Ein Druck wird auch im Kontext mit der beruflichen Zukunftsplanung thematisiert. Den Befragten ist bewußt, daß die Leistungen von heute und der Erwerb von Bildungszertifikaten für die zukünftigen (beruflichen) Perspektiven und Chancen entscheidend sind und daß im Hinblick darauf berufliche Planung und Entscheidungen jetzt bereits angebracht wären. In diesem Zusammenhang wird auch die Angst vor Fehlentscheidungen thematisiert. Vor dem Hintergrund geringer Erfolgsaussichten wird schließlich der Traumberuf schon mal verworfen.

Unterziehen wir nun diese kurze Zusammenfassung der Forschungsergebnisse einer theoretischen Analyse und werfen dabei auch einen Blick in den Theorieteil. Der von den Befragten thematisierte Leistungsdruck hinsichtlich der Institutionen Schule/Arbeit/Beruf fügt sich „nahtlos“ in deren Funktionslogik ein, da diese grundsätzlich nach Wettbewerbsprinzipien funktionieren und in ihnen Leistungen gefordert werden, die nicht von den Subjekten selbst gewählt und bestimmt, sondern von „oben“ definiert, genormt und bewertet werden. Da wir hier jedoch nicht mehr auf die ideologische Funktion dieser Institutionen eingehen und erneut eine diesbezügliche Grundsatzdiskussion vom Zaun brechen wollen (siehe Kapitel IV., 1. 1. 1. 1.), sollen uns hier vielmehr jene von den Interviewten thematisierten Aspekte interessieren, die, in Anlehnung an die theoretischen Ausführungen in Kapitel IV., mit einem Anstieg der „objektiven“ Leistungsansprüche und damit des Leistungsdrucks in Verbindung stehen, auch weil andere wissenschaftliche Studien zeigen, „dass Kinder und Jugendliche heute weniger gern die Schule besuchen als noch vor 30 Jahren.“ (Mansel, 1999, S. 78)

Vor diesem Hintergrund sind die von den Befragten thematisierten Belastungen der Ausbildungsplatzsuche, die Angst vor Fehlleistungen, psychosomatische Beschwerden, der Leistungsdruck in bezug auf die zukünftige Berufsplanung, die Angst vor Fehlentscheidungen und der Verzicht der eigenen Träume direkt unter dem Gesichtspunkt gegenwärtiger gesellschaftlicher Veränderungen zu betrachten. Wenn wir, wie in der Theorie, davon ausgehen, daß einerseits das erfolgreiche Durchlaufen der (Aus-)Bildungsinstitutionen eine immer wesentlichere Vorrausetzung für die Einlösung zukünftiger Lebensperspektiven darstellt (siehe Kapitel IV., 1. 1. 1. 2.), was eine faktische und normative Höherqualifizierung und damit einen Anstieg des Leistungs- und Konkurrenzdrucks bewirkte (vgl. auch Ulich 1991, S. 378), gleichzeitig aber die Bildungszertifikate entwertete (ebd.), dann sprechen meine Forschungsergebnisse eine ähnliche Sprache. Damit kann beispielsweise erklärt werden, warum der Kampf um die knappen Ausbildungsplätze auf dem Lehrstellenmarkt mit Überforderungsgefühlen verbunden war (wie bei Jürgen), ja sogar (wie im Falle von Robert) aufgegeben wurde.

Auch die von den Befragten thematisierte Angst vor Fehlleistungen im Hinblick auf negative Konsequenzen stellt sich als Folge der erhöhten Leistungs- bzw. Konkurrenzbedingungen dar, da unter diesen Voraussetzungen die (beruflichen) Zugänge und Wünsche schnell verschlossen sein können (was sich wiederum bei Robert zeigte).

Diese Ängste vor Mißerfolgen in Kombination mit dem hohen Leistungsdruck dürften auch die Grundlage für die angesprochenen psychosomatischen Beschwerden sein. Auffallend ist dabei, daß bei drei weiblichen Interviewten, im Gegensatz zu nur einem männlichen, eine derartige Problemverarbeitung anzutreffen ist. Mansel (1999) stellt in diesem Zusammenhang fest: „Insbesondere Mädchen ‚fressen’ Probleme und Alltagsärger in sich hinein, was zu somatischen Reaktionen führt und das psychosoziale Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt.“ (S. 79) Dies verweist auf eine geschlechtsspezifische Struktur der Streßverarbeitung.

Damit haben die alltäglichen schulischen Erfahrungen, verstärkt durch Verunsicherungen hinsichtlich beruflicher Perspektiven, für die gesundheitlichen Probleme der (vorwiegend weiblichen und nicht ausschließlich „leistungsschwachen“) Jugendlichen eine maßgebliche Bedeutung (vgl. ebd.).

Daß die Befragten hinsichtlich der beruflichen Lebensplanung zudem unter einem großen Entscheidungsdruck stehen, weist auch darauf hin, daß unter diesen strukturellen Bedingungen der Berufsentscheidung immer früher ein immer größeres Gewicht zukommt (siehe Kapitel IV, 1. 1. 2.) und auch Heuser (1999) berichtet darüber, daß die „zwingende Vorstellung, einen ‚Beruf fürs Leben’ finden zu müssen“ (S. 114), bei vielen Jugendlichen Panikgefühle auslöst.

Diese Angst vor (beruflichen) Fehlentscheidungen ist meiner Ansicht nach auf Zweierlei zurückzuführen: Einerseits wird der zeitliche und strukturelle Rahmen zum Ausprobieren verschiedener Vorstellungen als ziemlich begrenzt wahrgenommen, andererseits liegt auch der Vielfältigkeit und Unüberschaubarkeit der beruflichen Optionen ein Überforderungsmoment zugrunde, denn diese „Optionen setzen die Fähigkeit der kompetenten Auswahl und Nutzung der Angebote voraus.“ (Fölling-Albers a.a.O., S. 14) Vor dem Hintergrund dieser Erfordernisse werden dann schon mal pragmatische berufliche Entscheidungen getroffen. Um die eigenen Energien nicht in wenig erfolgversprechende Berufe zu „verschwenden“, siegt die Vernunft über die eigenen Wünsche und Träume. Beruflicher Erfolg ist damit eindeutig mit einer Opferbereitschaft verbunden. In diesem Sinne ist auch dieser Aspekt auf die strukturellen Bedingungen zurückzuführen.

1. 1. 2. Leistungsdruck im Kontext „subjektiver“ Leistungsanforderungen

Anhand der obigen Analyse kann festgestellt werden, daß die Jugendlichen mit „objektiven“ Leistungsanforderungen, -erwartungen und -druck bereits ausreichend eingedeckt sind. Nichtsdestotrotz zeigt sich in den Forschungsergebnissen ein hohes Maß an „subjektiven“ Leistungsanforderungen (siehe Kapitel VIII., 1. 2. Streß von Innen), weshalb wir unseren Blick nun auf diesen Aspekt verlagern. Vor diesem Hintergrund muß jedoch eine Differenzierung und genauere Präzisierung des Leistungsbegriffes vorgenommen werden. In der folgenden Analyse bezieht sich dieser einerseits auf subjektive Anforderungen in den bereits thematisierten Institutionen Schule/Arbeit/Beruf. Mit dem Blick auch auf andere Aspekte jugendlicher Lebenswelten gerichtet, soll andererseits veranschaulicht werden, daß auch dort (internalisierte) Leistungen gefordert und erbracht werden, besonders im Freizeitbereich bzw. hinsichtlich der Lebens- und Problembewältigung.

Diskutieren wir als erstes die subjektiven Leistungsansprüche in bezug auf die erwähnten Institutionen (siehe Kapitel VIII, 1. 2. 1.). Die hier vorliegenden Ergebnisse sind zwar in drei Themenschwerpunkte unterteilt (Leistungsverständnis als Selbstverständnis, Leistung und Selbstwert/Anerkennung und Leistungsmoral/Arbeitsmoral), stehen jedoch in einer engen Wechselwirkung miteinander. Deren jeweilige Aspekte sollen zunächst getrennt zusammengefaßt und erst daran anschließend analysiert und in einen gemeinsamen Kontext gestellt werden.

1. 1. 2. 1. Jugendliche wollen leisten

Die Aussagen der Befragten (zum Schwerpunkt Leistungsverständnis als Selbstverständnis) zeigen, daß Leistungsansprüche tief in ihrem Selbstverständnis verankert sind. Indem sie sich beispielsweise hohe Ziele stecken und manche mit ihren schulischen und beruflichen Leistungen sogar besonders hervorstechen und auffallen wollen, stellen sie sich selbst unter einen massiven Leistungsdruck. Ja von einer Interviewten (Kerstin) wird das Bedürfnis nach Leistung sogar als ihrer Persönlichkeit zugehörig erlebt. Dementsprechend unpopulär ist Unproduktiv-Sein bzw. Nichts-Tun und wird mit Gefühlen des Unwohl-Seins assoziiert, außer es wurde vorher genug geleistet.

Zudem thematisieren die Interviewten (im Schwerpunkt Leistung und Selbstwert/Anerkennung) die subjektiven Bedeutungen der eigenen Leistung im Hinblick auf soziale Anerkennung. Auch in diesem Zusammenhang scheinen besonders schwierige (Leistungs-)Herausforderungen hohe Attraktivität zu „genießen“. Der (Leistungs-)Vergleich mit anderen ist dabei die angewandte Praxis.

Die subjektiven Bedeutungen von Leistungen werden schließlich (im Schwerpunkt Leistungsmoral/Arbeitsmoral) noch in einem anderen Sinne angesprochen. Subjektive Leistungen haben einen hohen Stellenwert für die Befragten, sowohl für den eigenen (beruflichen und finanziellen) Erfolg als auch für die eigene Fähigkeit zur Disziplin, denn wenn man/frau nicht leistet, schadet man/frau sich selber.

Beginnen wir unsere theoretische Analyse nun damit, einen Bogen über diese drei Themenkomplexe zu spannen. Ein erster Schwenk in den Theorieteil (siehe Kapitel IV, 1. 1. 3.) zeigt, daß unsere Forschungsergebnisse punkto Leistungsorientierung in der Theorie bestätigt werden. Vergegenwärtigen wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal Schulz (1994): „Man will seine Leistungsfähigkeit erfahren und sich auch in der Leistungserbringung bestätigt sehen.“ (S. 223) Auch wurde der von manchen Interviewten formulierte Wunsch nach indvividuellen im Sinne von besonders außergewöhnlichen (beruflichen) Leistungen im Theorieteil mit einem Zitat von Friesl, Richter & Zulehner (1994) thematisiert (siehe ebenfalls Kapitel IV, 1. 1. 3.). Interessant ist hier allerdings, daß das Bedürfnis nach besonderer beruflicher Individualität und Selbstverwirklichung nur von weiblichen Befragten (Carina, Karin und Kerstin) expliziert wird. Berücksichtigen wir in diesem Zusammenhang, daß es für Frauen schwieriger ist, in der beruflichen Sphäre einen Platz zu „erobern“ (siehe Kapitel II., 2. 1. 3. 3. 1.), zumal sie ihre Kompetenzen verstärkt unter Beweis stellen müssen und beispielsweise gleiche Leistung nicht gleich entlohnt wird, so könnten diese hohen Leistungsansprüche dieser strukturellen Ungleichheit folgende Konsequenz sein und derart auch ein Versuch, diese zu überwinden. Für eine diesbezüglich weiterführende Analyse sei beispielsweise auf Haug (1993) verwiesen.

Des weiteren sprechen die Forschungsergebnisse dafür, daß wir es hier auch mit selbstauferlegten, internalisierten Zwängen zu tun haben, weshalb es verkürzt wäre, Leistungsorientierung ausschließlich als ein selbstgewähltes, freiwilliges bzw. subjektives Bedürfnis zu betrachten. Diesen Aspekt bringt beispielsweise Karin besonders deutlich auf den Punkt, denn sie „kann das einfach nicht abstellen“ (666), sich immer so hohe (Leistungs-)Ansprüche zu stellen, so als hätte sie das selbst nicht in der Hand. Diese Ambivalenz zwischen selbstgewählten und gleichzeitig zwanghaften (Leistungs-)Ansprüchen zeigt sich noch deutlicher darin, daß Unproduktiv-Sein im Sinne von Nichts-Tun, auf der „faulen“ Haut zu liegen und dabei die Zeit verstreichen zu lassen, vermieden wird bzw. werden muß, da es negativ erlebt wird und Gefühle des Unwohl-Seins hervorruft, außer wenn vorher genug geleistet wurde. Wenn wir das Ganze umgekehrt formulieren, kommen wir zu folgendem Schluß: Leistung vermittelt positive Gefühle.

Damit betreten wir nun die nächste Ebene: Leistung und Selbstwert/Anerkennung. Die diesbezüglich vorgefundenen Forschungsergebnisse weisen klar darauf hin, daß die subjektiven Leistungsansprüche mit Bedürfnissen nach sozialer Anerkennung verbunden sind. Auch dieser Aspekt wird in der Theorie bestätigt, wenn es heißt: „Für das Erleben, etwas geleistet zu haben, scheint die Wahrnehmung durch andere […] eine bedeutsame Bedingung zu sein.“ (Lenzen & Winter 1999, S. 39) Leistung ist damit eine wichtige Grundlage für soziale Anerkennung und in der Folge für den eigenen Selbstwert, oder umgekehrt formuliert: Wenig bzw. keine Leistung bringt wenig soziale Anerkennung und positive Gefühle.

Die jeweiligen „subjektiven“ Leistungsansprüche und -standards sind zwar selbst gewählt, durch den Bezug auf und die Bewertung von anderen obliegt das, was als Leistung anerkannt bzw. bewertet wird, aber immer auch der Definition(smacht) anderer.

Nach dem Motto: Ich leiste, also bin ich, sichert Leistung also die eigene Position im sozialen Gefüge. Im selben Moment ist sie, auch durch den Vergleich mit anderen, ein Beweis und eine Bestätigung der eigenen Fähigkeiten im Sinne einer Selbstvergewisserung, ist sozusagen gleichzeitig „Medium“ der Fremd- und Selbstbewertung bzw. der Fremdverortung wie der Selbstverortung. Rose (1999) veranschaulicht diesen Aspekt mit folgendem Zitat: „Mit jeder erfolgreichen Selbstbehauptung wächst die Gewissheit der eigenen Größe, liefern sich Jugendliche selbst die Beweise ihres Statusaufstiegs.“ (S. 126) Das vor allem von den drei weiblichen Interviewten geäußerte Bedürfnis nach besonderen (Leistungs-)Herausforderungen, fügt sich wiederum nahtlos in diese Überlegungen ein, da die Frauen beim Aufstieg innerhalb der beruflichen Strukturen ihre (Leistungs-)Fähigkeiten stärker unter Beweis stellen müssen.

Um diesen „subjektiven“ Ansprüchen nun gerecht zu werden, ist man/frau schließlich bereit, „Opfer“ im Sinne einer hohen Leistungsbereitschaft zu bringen, womit wir uns wiederum einen Schritt weiter bewegen und auf die nächste Ebene begeben, jene der Leistungsmoral/Arbeitsmoral. In den hier erhobenen Forschungsergebnissen geht es direkt um den subjektiven Stellenwert und um Verständnisse von Leistung; die Internalisierung „objektiver“ Leistungsstandards zeigt sich dabei besonders deutlich. Fordern die thematisierten Institutionen Schule/Arbeit/Beruf zwar ihrerseits ein hohes Maß an Leistungsbereitschaft und Disziplin, stellen die Befragten mit einer Selbstverständlichkeit fest, daß derartige Maßnahmen bzw. Strategien notwendig sind, um im Leben etwas zu erreichen. Fölling-Albers (1999) beschreibt das als „Einstellung zu einer funktionalen Nützlichkeit der Arbeitsleistung im Sinne marktwirtschaftlichen Denkens […].“ (S. 14) Damit ist marktwirtschaftliches Denken bereits im subjektiven Leistungsverständnis Jugendlicher integriert.

Zudem wird die Opferbereitschaft im Sinne eines Bedürfnisverzichts von den Befragten thematisiert. Mit der Haltung: „Augen zu und durch“ gilt es, die eigenen Bedürfnisse zugunsten künftiger und längerfristiger Erwartungen aufzuschieben; gleichzeitig wird die Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung propagiert. All dies weist darauf hin, daß „objektive“ Anforderungen als „subjektive“, von innen geleitete Bedürfnisse, Ansprüche und Fähigkeiten erlebt werden, wie es bereits im Theorieteil (siehe Kapitel IV, 1. 1. 3.) beschrieben wurde. Disziplinierung „scheint vielmehr verstärkt nach innen verlagert worden zu sein, zu einer ‚Selbstverpflichtung’ und zu ‚Selbstansprüchen’ zu individuellen Leistungen.“ (Fölling-Albers 1999, S. 12) In diesem Sinne spricht auch Ulich (1991) von einer „fortschreitenden Internalisierung von Leistungsnormen.“ (S. 389)

Um diesen Abschnitt nun abzuschließen, halten wir folgendes fest: Subjektive Leistungsansprüche sind im Kontext von (Selbst-)Zwängen, sozialen Anerkennungs- und Bewertungspraxen, der „freiwilligen“ Ausführung von Disziplinierungsmaßnahmen, der Internalisierung von außen gesetzter Standards und Normen, nicht als wertfreie und unideologische Bedürfnisse zu betrachten. Vielmehr stehen diese im Dienste der „freiwilligen“ Reproduktion der kapitalistischen Verwertungslogik (siehe dazu die Ausführungen in Kapitel III.). Osterkamp (1986) bringt das folgendermaßen auf den Punkt: „Die Verinnerlichung des äußeren Zwangs ist eine restriktive Reaktion auf die kapitalistische Klassenrealität, in der die Menschen […] gezwungen sind, sich gegen ihre eigenen Interessen zu verhalten, sich dem Willen derer, von denen sie abhängig sind, zu unterwerfen und damit durch die eigene Tat die Bedingungen ihrer Abhängigkeit zu festigen. […] [Das] bedeutet, daß ich, um den sozialen Ausschluß/Abstieg und die damit verbundene – ökonomische und psychische – Verunsicherung nicht zu riskieren, mich selbst diszipliniere […] und versuche, mich in einer für die herrschenden Interessen nützlichen Weise zu entwickeln.“ (S. 377) Damit kommen wir zum letzten Schluß dieser Analyse: Jugendliche wollen leisten, was sie leisten sollen.

1. 1. 2. 2. Auch Spaß muß sein

Daß sich die Internalisierung von Leistungsanforderungen bzw. -normen nicht nur auf die Institutionen Schule/Arbeit/Beruf beschränkt, sondern auch auf andere Lebensbereiche übergreift, zeigen die Forschungsergebnisse im Themenschwerpunkt Freizeit (siehe Kapitel VIII., 1. 2. 2.). Bedürfnisse nach „Weggehen“, Action, Spaß und Ausgelassenheit, wie sie von den Befragten formuliert wurden, „riechen“ auf den ersten Blick nach Selbstbestimmung und Freiheit, als hätten wir hier nun (endlich) einen jugendlichen Lebensraum aufgespürt, der von Lustprinzipien und Hedonismus durchdrungen ist, frei von Leistung und Zwängen. Wenn wir das Ganze allerdings etwas genauer betrachten, eröffnet sich vor uns wiederum ein Netz von (Leistungs-)Anforderungen in Form von (unausgesprochenen) Regeln, Normen und (internalisierten) Zwängen, das es nun aufzuschlüsseln und zu entspinnen gilt.

Strukturbildendes und verbindendes Moment der Aussagen, die hier in drei Kernsätzen zusammengefaßt sind, ist dabei der Spaßfaktor, allerdings sind in ihm mehrere Aspekte integriert.

Widmen wir uns zunächst Kernsatz a. (Langweilig und fad darf‘s nicht sein). Hier stehen sich Spaß und Langeweile diametral gegenüber, Spaß wird positiv, Langeweile negativ bewertet bzw. erlebt. Karin beispielsweise kann am Wochenende (sogar wenn sie krank ist!) nicht zu Hause bleiben, weil das „einfach so langweilig“ (494) ist, denn „da passiert überhaupt nichts“ (494). Und auch Philipp, für den Langeweile „nichts Gutes“ (458) ist, ist es wichtig, „daß es lustig is und immer irgendwas passiert“ (492). Aufbauend auf diesen exemplarischen Aussagen können wir hier zu folgendem Schluß kommen: In den jeweiligen Freizeitaktivitäten muß etwas passieren.

In dieser Formulierung verstecken sich allerdings zweierlei Bedeutungen: Zum einen macht sie deutlich, daß Langeweile direkt mit dem Aspekt des Unproduktiv-Seins und Freizeit/Spaß mit jenem des Produktiv-Seins verknüpft ist. Mit diesem Anspruch, produktiv zu sein, haben wir es wiederum mit einer internalisierten, weil nicht direkt von „außen“ vorgegebenen Form von Leistung zu tun. Zum anderen übt die auffordernde Struktur dieser internalisierten Allianz von Spaß und Produktiv-Sein einen Druck aus, was dem Ganzen auch einen gewissen Verpflichtungs- und damit einen Zwangscharakter verleiht. Halten wir also fest: Spaß ist Bedürfnis und gleichzeitig Leistung bzw. Zwang.

Das Bedürfnis nach Spaß bzw. die (Selbst-)Verpflichtung: Ich muß Spaß haben, zeigt sich auch in Kernsatz b. (Ich suche Spaß und Action als Ausgleich zum Schul/-Arbeitsstreß), jedoch in einem ganz anderen Kontext. Hier hat Spaß eine Entschädigungsfunktion in bezug auf den grauen Schul- bzw. Arbeitsalltag, wollen sich die Befragten in ihrer Freizeit für ihre Leistungen, Mühen, Anstrengungen und Entbehrungen belohnen, suchen sie vor allem durch den Konsum diversester Freizeitangebote ihren Ausgleich. Auf der einen Seite gehen diese etablierten Freizeitpraxen ein enges Bündnis mit der ideologischen Funktion von Freizeit in der kapitalistischen Ökonomie ein, die da wäre: Reproduktion der Arbeits- bzw. Leistungskraft und Konsum. Auf der anderen Seite sind die in diesen Verhältnissen lebenden Subjekte der strengen Dualität von wenig Freizeit und viel Arbeits-/Schulzeit fremdbestimmt ausgesetzt. Die wenigsten, geschweige denn Jugendliche, können diesen strukturellen Rahmen selbst bestimmen und definieren. Unter diesen Bedingungen „müssen“ beispielsweise Elisa und ihre Freundinnen das Wochendende oder „die Nacht ausnützen oder halt, daß“ sie „einfach .. eben am nächsten Tag keine Schule haben“ (136). Formulieren wir dieses Zitat, in dem wiederum das Verb müssen und damit der Verpflichtungscharakter in den Vordergrund rückt, etwas anders, so kommen wir dabei zu folgendem Schluß: Freizeit muß genutzt bzw. verwertet werden.

Schließlich haben wir es in Kernsatz c. (Ich möchte den anderen mit meiner Stimmung den Abend nicht vermiesen, weil’s zu langweilig ist) mit einer weiteren Bedeutung des Spaßfaktors zu tun. Der Verpflichtungscharakter kommt in den hier zugeordneten Aussagen der Interviewten insofern zum Ausdruck, als sie sich bei sozialen Interaktionen in der Freizeit den anderen gegenüber verpflichtet fühlen, (immer) guter Stimmung zu sein. Philipp beispielsweise will vor seinen Freunden die eigene schlechte Stimmung oder Probleme nicht thematisieren, um sie damit nicht zu „beeinträchtigen“ bzw. „weil das eh nur langweilig is“ (407; 455). Entweder man/frau zwingt sich zu guter Laune oder verabschiedet sich und geht nach Hause. In diesem Sinne kommen wir nun zum letzten Schluß in diesem Abschnitt: Spaß ist auch stillschweigende Norm innerhalb des (jeweiligen) sozialen Gefüges.

Nun ist es möglich, unsere Erkenntnisse auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Spaß/Freizeit ist einerseits subjektives Bedürfnis und andererseits ideologisches Programm, ist ein „Medium“ der Reproduktion der eigenen Leistungskraft, der (Selbst-)Normierung als auch – mag das noch so paradox klingen – der (Selbst-)Disziplinierung im Sinne von Produktiv-Sein bzw. Leistung.

1. 1. 2. 3. Jugend will Eigenständigkeit und Selbstverantwortung

Die nun folgende Analyse widmet sich den Forschungsergebnissen, die im Themenfeld Bewältigungsansprüche (siehe Kapitel VIII, 1. 2. 3.) dargestellt wurden. Die von den Befragten thematisierten Aspekte gliedern sich dabei in drei Schwerpunkte.

Im Anspruch, die eigenen Probleme „mit sich selber ausmachen“ (Karin 746), sie ohne „fremde“ Hilfe bewältigen zu wollen (siehe Kapitel VIII., 1. 2. 3. 1. Anspruch/Anforderung, allein damit fertig zu werden), läßt sich auf den ersten Blick ein Bedürfnis nach Eigenständigkeit bzw. Selbstbestimmung erkennen. Es wäre allerdings verkürzt, bloß auf das emanzipatorische Potential dieses Anspruches zu verweisen; unser Anliegen ist vielmehr, dessen (Leistungs-)Anforderungsaspekt zu erfassen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie die Interviewten diese selbstgestellte Anforderung begründen. Michael beispielsweise will „selber durchkommen“ (802), um sich damit zu „beweisen“ (996), daß er niemanden braucht. Mit dieser Formulierung treten wir wieder direkt ins Spannungsfeld Anerkennung und Leistung ein. In diesem Sinne ist sein Anspruch nach Eigenständigkeit mit der Selbstvergewisserung bzw. -bestätigung der eigenen (Leistungs-)Fähigkeiten verbunden.

Die Angst, anderen zu vertrauen bzw. Schwächen zu zeigen, wie sie von ihm und beispielsweise auch von Kerstin artikuliert wurde, fügt sich ebenfalls in dieses Spannungsfeld (von Anerkennung und Leistung) ein, wenn wir davon ausgehen, daß Schwächen in bezug auf „mangelnde“ (Leistungs-)Fähigkeiten die Position im sozialen Gefüge bedrohen. Um sich davor zu schützen, ist man/frau schließlich lieber auf sich alleine gestellt.

Dieses Bedürfnis nach Eigenständigkeit muß allerdings noch unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. Carina beispielsweise möchte sich jetzt bereits „schön langsam dran gewöhnen“ (972), eigenständig Entscheidungen zu treffen, da das Leben „so is“ und „jeder lernen“ muß, damit „zurechtzukommen“ (989). Aufschlußreicher wird diese „pragmatische“ Haltung von Carina mit einem Blick in den Theorieteil (siehe Kapitel IV., 1.), wo bereits dargelegt wurde, daß die heutigen Jugendgenerationen im Vergleich zu vergangenen viel früher dazu ermächtigt und damit aufgefordert sind, jenseits von erwachsenen Autoritäten selbständig Entscheidungen zu treffen.

Diese Ermächtigung und Aufforderung nach Eigenständigkeit erfordert allerdings auch mehr Eigenverantwortung, womit wir uns nun auf der Brücke zum nächsten Schwerpunkt (Kapitel VIII., 1. 2. 3. 2. Schuldzuweisung an sich selbst) befinden.

Angekommen am anderen Ufer zeigen uns die hier vorgefundenen Forschungsergebnisse, daß sich die Befragten für Fehlleistungen im Sinne nicht erfüllter Leistungsanforderungen selbst verantwortlich fühlen. Auch hierbei handelt es sich nicht um einen emanzipatorischen Moment der Selbstbestimmung, denn emanzipatorisch wäre es vielmehr, auch die fremdbestimmten strukturellen Bedingungen und Verhältnisse, die ein „Scheitern“ mitverursachen, zu hinterfragen. Aussagen wie „bin ich halt eh selber schuld .. weil wenn ich es nicht schaff, mir das so einzuteilen“ (Petra 512-513), oder „ich hätt’s locker schaffen können“ (Michael 871), oder „da bin ich selber schuld, weil ich nicht früher angefangen hab zu lernen“ (Elisa 268) etc. bringen diesen Aspekt deutlich zum Ausdruck. Gerade Robert, für den aufgrund seines „Versagens“ in den Institutionen Schule und Berufsausbildung jetzt (mit siebzehn Jahren!) bereits viele Zugänge versperrt sind, erlebt das ausschließlich als individuelles, selbstverschuldetes und nicht als strukturelles Problem. Damit schreibt er, wie wir es bereits im Theorieteil (siehe Kapitel IV. 1. 1. 2.) diskutierten, seine „fehlgeschlagene“ berufliche Karriere ausschließlich den unzureichenden Bemühungen und Leistungen zu. Auch bleibt bei diesem selbstgestellten „Schuldspruch“ unberücksichtigt, daß seine Startposition im sozialen Gefüge sehr weit „unten“ angesiedelt war bzw. ist. Dies stützt wiederum die These, daß Mißerfolg „immer weniger mit einer kollektiv geteilten unterprivilegierten Lage bzw. sozialen Herkunft in Zusammenhang gebracht“ (Olk & Strikker 1990, S. 173) wird (siehe dazu auch Kapitel II., 2. 1. 3. 2. 1. Individualisierung sozialer Klassen).

Des weiteren können wir in diesem Zusammenhang auf die klassenspezifisch geprägte Berufswahl bzw. -laufbahn verweisen. Wie im Theorieteil festgestellt (siehe Kapitel IV., 1. 1. 1. 2.) hängt es trotz der formalen (Chancen-)Gleichheit (Stichwort: Bildungsoffensive) nach wie vor in einem nicht zu vernachlässigendem Ausmaß von der sozialen Position der Eltern ab, wer eine weiterführende Schule oder Lehre absolviert bzw. den Arbeitsmarkt als Ungelernte/r betritt. Daß gerade Robert als auch Jürgen und Niki, die im Vergleich zu den übrigen Interviewten aus einem „unterprivilegierten“ Elternhaus kommen, derartige berufliche Wege einschlugen (Arbeitslosigkeit, Lehre, ungelernter Verkäufer) bestätigt damit die theoretischen Überlegungen.

Unter den genannten Gesichtspunkten kommen wir nun zu folgenden Schlüssen: Erstens wird Mißerfolg als persönliches, individuelles Scheitern bzw. umgekehrt formuliert: Erfolg als Eigenleistung erlebt und zweitens werden strukturelle Bedingungen und Verhältnisse in diesem Zusammenhang nicht hinterfragt. Beide Schlüsse zusammen implizieren, als Ausdruck der Individualisierung von „Scheiternsrisiken“, die Reproduktion der gegebenen (ungleichen) sozialen Verhältnisse und Strukturen.

Daß dieser individualisierte Umgang mit Versagen und Scheitern dementsprechend individuelle Strategien zur Vermeidung bzw. Bewältigung von Fehlleistungen erfordert, zeigen die Forschungsergebnisse, die schließlich im letzten Schwerpunkt (Kapitel VIII., 1. 2. 3. 3. Streßbewältigung durch noch mehr Leistung) veranschaulicht wurden. Die Erhöhung der eigenen Leistungsbereitschaft hilft beispielsweise, „die Frustration zu bekämpfen“ (Kerstin 620) oder, „daß diese Angst aufhört“ (Niki 607). Kommen wir damit nun zum letzten Schluß in diesem Abschnitt: Die Angst vor dem individuell erlebtem Scheitern hinsichtlich der Institutionen Schule/Arbeit/Beruf ist eine sichere Quelle der Arbeits- und Leistungsmotivation bzw. der Optimierung der eigenen Leistungen (vgl. auch Kapitel III., 1. 3. 1.). Damit steht diese, die individuelle Leistungsbereitschaft optimierende, Strategie der Streßbewältigung wiederum im Dienste der Reproduktion der kapitalistischen Verwertungslogik.

 

1. 2. Leistung im Spannungsfeld sozialer und subjektiver Selbstdarstellungspraxen

In diesem Abschnitt widmen wir uns nun der Analyse des Themenkomplexes Selbstdarstellung (siehe Kapitel VIII, 2.). Auch in diesem Bereich jugendlicher Lebenswelt gilt zu erforschen, inwieweit wir es hier mit Leistungsanforderungen zu tun haben. Die vorgefundenen Forschungsergebnisse wurden dabei in drei Schwerpunkte unterteilt (Selbstdarstellungsansprüche im sozialen Kontext, Selbstdarstellungsansprüche im subjektiven Kontext und Widersprüche), die wir zunächst getrennt diskutieren.

1. 2. 1. Anforderungen im Kontext sozialer Selbstdarstellungsansprüche

Ein erster Blick auf die Aussagenwir uns in diesem Abschnitt vertiefen wollen (siehe Kapitel VIII., 2. 1.), zeigt sofort, , in die davom sozialen Gefüge unabhängige Kategorie ist. Die Repräsentation des eigenen Selbst ist damit ß Selbstdarstellung keine eng mit Praxen der Selbstrepräsentation verbunden. Dieser Bezug auf die anderen wird damit zu einem sozialen konstituierenden Moment der eigenen Selbstdarstellung, ist also ein Moment der Verortung, aber auch der Normierung. In diesem Sinne wurden die zu diesem Schwerpunkt vorliegenden Forschungsergebnisse in zwei Themenfelder unterteilt: Soziale Bewertungsprozesserichten. und Soziale Stil- und Ästhetiknormen, wobei wir unsere Analyse zuerst auf ersteres

1. 2. 1. 1. Selbstdarstellung ist Medium der Selbst- und Fremdverortung

Wie bereits bei der Darstellung der Ergebnisse dieses Themenfeldes veranschaulicht, ist Selbstdarstellung erstens ein Medium zur Bewertung von anderen, zweitens eines für die Anerkennung von anderen und drittens eines der Sozialen Zugehörigkeit vs. Differenz/Ausschluß (siehe Kapitel VIII., 2. 1.). Beginnen wir nun, diese veschiedenen Facetten und Bedeutungsstrukturen des Selbstdarstellungsprozesses genauer aufzuschlüsseln.

Nach dem Motto: „Der erste Eindruck ist der Wichtigste“ (Philipp 193) beurteilen die Befragten andere in sozialen Erstbegegnungen „schon eigentlich zuerst einmal nach dem Aussehen“ (Elisa 39) und machen „sich dann halt irgendwie ein Bild“ (Petra 37). Auf den ersten Blick erscheinen diese Aussagen trivial, in dieser Trivialität steckt jedoch die ganz „normale“ und alltägliche Kategorisierung von anderen. Dieses ständige Zuordnen ist dermaßen gelebte Normalität und internalisierte Praxis, daß es gewissermaßen als natürliche Funktion der menschlichen Psyche, ja geradezu als notwendige Bedingung von Erkenntnis und sozialer Orientierung erlebt wird. Zudem folgt diesem Mechanismus der ständige Versuch, das Gegenüber in der Kategorisierung zu fixieren und festzuschreiben. Dieser Aspekt der Selbstdarstellung ist somit die Oberfläche eines ständigen Prozesses der Fremdverortung. Würden wir die Notwendigkeit von Kategorien bestreiten und davon ausgehen, daß soziale Kategorien und damit Kategorisierungspraxen, als Ausdruck von (Definitions-)Macht, eine ideologische (Ordnungs-)Funktion im Sinne sozialer Kontrolle und Herrschaft darstellen, hätte auch diese Form internalisierter Kategorisierungspraxen ideologischen Charakter, möge sie auch noch so zufällig, unbewußt, trivial, normal und alltäglich erscheinen.

Auf der anderen Seite kommt im Zusammenhang mit Selbstdarstellung dem Aspekt des Bewertet-Werdens eine ebenso wichtige Bedeutung zu. Niki beispielsweise erlebt diesbezügliche „Bestätigungen“ ähnlich wie die Leistungsanerkennung in der Arbeit, denn „wenn man gut arbeitet und man wird gelobt .. is das genauso eine Motivation“ (119; 120). Mit dieser Formulierung manövriert er uns wieder direkt ins Spannungsfeld von Leistung und Anerkennung. Damit kann auch der Anspruch, „schon anderen auch“ (Elisa 43) zu gefallen, wiederum mit dem Bedürfnis der eigenen Selbstaufwertung verbunden und folglich als Leistung betrachtet werden. In diesem Sinne beschreibt es beipielsweise auch Michael als „ein tolles Gefühl“ (282) im „Mittelpunkt“ (181) zu stehen, was ihn schon mal dazu veranlaßt, „irgenda Aktion“ (263) zu schieben, „um eben akzeptiert oder bewundert zu werden“ (264). Werfen wir an dieser Stelle kurz einen Blick in den Theorieteil (Kapitel IV., 1. 2. 2. 1.) und kommen, auch unter Bezugnahme auf Ferchhoff (1999, S. 206) zu folgendem Schluß: Selbstdarstellung wird als Medium sozialer Positionierung bzw. der Selbst- und Statusaufwertung und damit der Selbstverortung genutzt.

Die Selbstbewertung bzw. der Selbstwert bleibt damit jedoch an die Fremdbewertung, an das Bewertet-Werden gebunden. Unter diesen Gesichtspunkten ist es auch nicht verwunderlich, daß sich manche der Befragten punkto Selbstdarstellung der Anerkennung willen schon mal dem Urteil der anderen anpassen bzw. sich danach richten. Weil beispielsweise Karin hinsichtlich ihres Kleidungsstils „so viel Bestätigung“ (435) zuteil wurde, wollte sie ihn nicht „mehr aufgeben“ (436), auch wenn sie sich damit selbst nicht ganz wohl fühlte. Diese Anpassungsleistung spiegelt einerseits das Abhängigkeitsverhältnis des Selbstwertes von der Fremdbewertung wider, andererseits macht sie deutlich, wieviel Definitionsmacht den anderen in bezug auf sich selbst eingeräumt wird. Halten wir also fest: Soziale Anerkennung punkto Selbstdarstellung setzt auch ein gewisses Maß an Anpassungsleistungen bzw.
-bereitschaft voraus.

Mit dieser Erkenntnis eröffnet sich schließlich ein weiteres Spektrum sozialer Selbstdarstellungspraxen, jenes sozialer Zugehörigkeit vs. Differenz/Ausschluß. Hier manifestieren sich die praktischen Konsequenzen des Bewertens bzw. Bewertet-Werdens noch deutlicher. Wie wir bereits feststellten, ist der Bewertungsprozeß auch ein Zuschreibungsprozeß. In diesem Sinne werden den verschiedenen Formen der Selbstdarstellung jeweils konkrete Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben. Damit kann erklärt werden, warum die Befragten Ähnlichkeiten punkto Aussehen, Kleidungsstil, Musikstil etc. als etwas Verbindendes und umgekehrt, Differenzen als etwas Trennendes erleben. „Allein schon wie sie sich anzieht .. vielleicht versteht sie mich allein schon deswegen nicht“ heißt es, ihre Schwester betreffend, diesbezüglich exemplarisch bei Carina (109-110). Aufgrund dieser Annahme geht sie davon aus, daß sich ihre Schwester nicht in sie „hineinversetzen könnt“ (117). Vor diesem Hintergrund bildet Selbstdarstellung ein Moment, an dem Gleichheit bzw. Differenz festgemacht und festgeschrieben wird. Andererseits versteckt sich in dieser verinnerlichten Allianz von Aussehen und Persönlichkeit noch ein weiterer Aspekt. Sie fordert sozusagen dazu auf, die eigene Persönlichkeit, das eigene Selbst mittels Aussehen bzw. Stil nach außen zu repräsentieren.

Kommen wir nun aber noch einmal auf das Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz zurück, diesbezüglich erschließen sich uns nämlich noch weitere Facetten. In dem Moment, wo Selbstdarstellung als Ausdruck von Gleichheit und Differenz erlebt wird, befinden wir uns schnell auf einem Terrain wieder, wo Selbstdarstellung direkt als ein sozialer Ausschluß- bzw. Einschlußfaktor funktioniert. Mehrere der Interviewten beschreiben in diesem Zusammenhang negative Erfahrungen. Wenn man/frau beispielsweise bei Musik nicht „alles kennt .. is man bei vielen […] schon mal eher auf der schlechteren Seite“ (206-209), „is es immer schwieriger, sich da einzuarbeiten“ (250), so schilderte es Karin. Differenz wird mit subtilen und weniger subtilen Ausschlußmechanismen „bestraft“, Gleichheit mit Anerkennung im Sinne von sozialer Zugehörigkeit belohnt. Folglich ist soziale Zugehörigkeit mit der (Leistungs-)Anforderung verbunden, sich regelrecht in die Gruppe „einzuarbeiten“, von den anderen vordefinierte Leistungen zu erbringen bzw. sich der Definitionsmacht der anderen zu unterwerfen. Diesbezüglich schreibt Mecheril (2000): „Das auf Zugehörigkeit bezogene Handeln Einzelner wird durch Verhältnisse der Macht kontextualisiert und konstituiert.“ (S. 71) Folglich entspricht „Zugehörigkeitshandeln“ nicht freien, im Sinne von selbstgewählten, Handlungsweisen, da diese in „Zugehörigkeitsräumen“ nahegelegt, angeboten und geformt werden (ebd. S. 81). Halten wir also fest: Soziale Zugehörigkeit erfordert spezifische Anpassungsleistungen, nämlich die Reproduktion der etablierten und vordefinierten Selbstdarstellungspraxen.

1. 2. 1. 2. Selbstdarstellung ist Medium sozialer Normierung

Die in diesem Abschnitt folgende Analyse bezieht sich auf die Forschungsergebnisse, die dem Themenfeld Soziale Stil- und Ästhetiknormen (Kapitel VIII., 2. 1. 2.) zugeordnet wurden. Die hier von den Interviewten thematisierten Aspekte bildeten zwei Schwerpunkte: Orientierung an Gruppennormen und Orientierung an Stilnormen.

Haben wir im letzten Abschnitt die grundlegenden Facetten sozialer Zugehörigkeitsprozesse thematisiert, so veranschaulichen die hier dargestellten Aussagen die praktischen, weil bereits vollzogenen, Konsequenzen eben dieser Prozesse. Scheinbar zufällig haben „die Freunde halt irgendwie einen ähnlichen Stil […] wie man selber“ (Petra 71-72), „den gleichen Stil“ (Kerstin 84) oder „einen ähnlichen Geschmack“ (Elisa 62). Man/frau weiß also um die Ähnlichkeiten bzw. Gleichheit Bescheid, derart formuliert scheint der Aspekt der (re)produzierten Konformität jedoch als Zufall erlebt zu werden. Mitgliedschaft setzt allerdings Konformitätsverhalten voraus, denn sie ist dann gegeben, „wenn der und die Einzelne unter der interessierenden Mitgliedschaftsperspektive wie alle anderen Mitglieder des Kontextes ist.“ (Mecheril a. a. O., S. 73) In diesem Sinne kommen wir zu folgendem Schluß: (Gruppen-)Zugehörigkeit erfordert ein gewisses Ausmaß an Konformität, die derart internalisiert ist, als sie (scheinbar) unbewußt (re)produziert wird. Auch wenn sich beispielsweise Petra von den anderen schon mal „unter Druck gesetzt fühlt“ (199), scheint sie sich über die diesen (Konformitäts-)Druck verursachende Struktur nicht im klaren zu sein. Daß man/frau sich „den anderen möglicherweise ein bißl“ anpaßt, „um vielleicht ein bißl in die Gruppe hineinzugehören“ (94-95), ist ausschließlich Kerstin richtig bewußt.

Um die Bedeutungsstruktur des dargestellten Konformitätsverhaltens noch etwas besser nachvollziehen zu können, sei an unsere Erkenntnisse des letzten Abschnittes erinnert, als dort die Dynamik von Gleichheit als etwas Verbindendem und Differenz als etwas Trennendem erarbeitet wurde.

Neben der Gruppe orientieren sich die Befragten bei ihrer Wahl der Selbstdarstellung auch an Stilnormen. Die hier dargestellten Aussagen veranschaulichen die Bedeutung stillschweigender normativer Vorstellungen im Sinne verschiedener Codes. Interessant ist hier beispielsweise, daß ein bestimmter Musikstil auch den dazupassenden Kleidungsstil erfordert, weil „wenn man jetzt der ur Techno-Fan ist“, wird man/frau „nicht mit irgendwelchen Hippi-Sachen“ (Petra 94; 95) herumlaufen. Zudem sind die jeweiligen Stile selbst mit Codes ausgestattet, dadurch erscheint es beispielsweise Carina als unmöglich, eine Krawatte zu tragen, weil das nicht zu ihren „Sachen“ und ihrer „Persönlichkeit“ (404) passen würde. Ja sie braucht sogar für sich selbst eine Begründung, ihren Stil einmal zu verlassen.

Auch bestimmte Situationen verlangen punkto Kleidung nach „Regeln“. Breite Hosen „zieht man nicht an auf eim Hardcore-Fest“ (203) heißt es diesbezüglich beispielsweise bei Robert. Schließlich orientieren sich einige der Befragten an modischen Trends.

In all diesen Aussagen tritt der Aspekt der Internalisierung von Normen zutage. Die Interviewten vollziehen hier wiederum eine Anpassungsleistung, indem sie Anforderungen genügen, die in gewissem Maße fremddefiniert sind und unter Umständen sogar einen inneren Widerstand auslösen, der meist gar nicht erst zu Bewußtsein gelangt und dem in der Regel auch nicht nachgegeben wird.

1. 2. 2. Anforderungen im Kontext subjektiver Selbstdarstellungsansprüche

Konzentrierte sich die Analyse der vorigen Abschnitte auf soziale Anforderungen punkto Selbstdarstellung, so haben wir es nun mit direkten subjektiven Ansprüchen und Bedürfnissen zu tun, einerseits den Körper und andererseits die Individualität betreffend (siehe Kapitel VIII., 2. 2. 1. Körperästhetik als subjektives Bedürfnis und 2. 2. 2. Individualität als subjektives Bedürfnis). Daß auch diese Bedürfnisse sozial geprägt und geformt sind und deshalb nur auf den ersten Blick als „private“ erscheinen, soll wiederum in den Mittelpunkt unseres Forschungsinteresses rücken.

1. 2. 2. 1. Selbstdarstellung ist Medium der Selbstdisziplinierung

Werfen wir unseren Blick zunächst auf diejenigen Forschungsergebnisse, die den Aspekt der Körperästhetik betreffen (siehe Kapitel VIII., 2. 2. 1.). Vertiefen wir uns dabei in die hier vorgefundenen Kernsätze (a. Ich achte bewußt auf meine Figur, b. Ich hätte schon gern eine „bessere“ Figur und c. Da hab ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich zuviel eß) und machen uns auf die Suche nach dem Schlüssel, der uns den Zugang zu den hier zugeteilten Aussagen eröffnet.

Abnehmen […] ohne Sport zu treiben“ (Karin 600), „Ernährung und ein bißchen Bewegung“ (Niki 305), durch Sport „irgendwie in Form“ (Jürgen 211) zu bleiben, „beim Essen drauf schauen, daß man dann aufhört, wenn man satt is“ (Michael 575) charakterisieren die Strategien, um den eigenen Körper in Form zu halten bzw. bringen (siehe Kernsatz a.). Interessanterweise sind in diesem Zusammenhang keine geschlechtsspezifischen Unterschiede erkennbar, da diesbezügliche Aussagen von weiblichen wie männlichen Interviewten gleichermaßen getätigt wurden. Deshalb wollen wir hier unsere Aufmerksamkeit nicht auf die verschiedenen Bedutungsstrukturen von weiblicher und männlicher Körperlichkeit richten. Ein feministischer Blick auf den weiblichen Körper findet sich beispielsweise ausführlich bei Haug (1991).

Vertiefen wir uns nun in die dargestellten Aussagen. Das Achten auf die eigene Figur ist bewußt, alltäglich und selbstverständlich und wird als eigenes Bedürfnis erlebt. Würden wir unsere Analyse darauf beschränken, ausschließlich den Aspekt der Verinnerlichung sozial gesetzter Figurideale zu beleuchten, könnte unserer Aufmerksamkeit ein wichtiger Faktor entgehen. Vielmehr gilt es, unseren Fokus zu erweitern und uns noch eindringlicher in die subjektiven Bedeutungsstrukturen dieses sich als naturwüchsig erscheinenden Bedürfnisses zu vertiefen.

Davon ausgehend, die Befriedigung von Bedürfnissen verursacht positive Gefühle, müssen wir uns in der Folge mit der Frage auseinandersetzen, welche konkreten Bedürfnisse in diesem Kontext denn nun befriedigt werden. Stellen wir uns den Körper als ein Objekt vor, das ein relatives Maß an Gestaltbarkeit bietet, so eröffnet diese Eigenschaft der Gestaltbarkeit einen Spielraum von Macht im Sinne von Kontrolle. „Körper sind […] Orte, an denen und durch die sich Macht entfaltet.“ (Borbonus 2001, S. 37) Aus dieser Perspektive wird die gelungene Gestaltung des eigenen Körpers, nach Maßstäben vorhandener Idealbilder, zur Quelle von Befriedigung. Das Bedürfnis, den eigenen Körper zu gestalten wird also durch das Bedürfnis nach Macht und Kontrolle kontextualisiert. „D.h., daß einer äußeren körperlichen Disziplinierungstendenz, eine innerliche Tendenz der Kontrolle und Überwachung nebenbei gestellt wird, die zusammen das wirksame Geflecht der Machtinszenierung durchsetzen.“ (Sieber 1999, S. 55).

Vor diesem Hintergrund wird die gelungene Gestaltung, die ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, -beherrschung und -überwachung erfordert, positiv, weil als Ausdruck eigener und erfolgreicher Anstrengungen, erlebt. Wenn wir uns die Ausführungen des Theorieteils vergegenwärtigen (Kapitel IV., 1. 2. 2. 2. 1. 1.) können wir mit Ferchhoff (1999) zu folgendem Schluß kommen: Der Körper stellt sich in dieser Konsequenz als „Resultat technisch umgesetzter Willensanstrengung“ (S. 160) dar und ist damit ein Ort der eigenen Macht im Sinne der Selbstvergewisserung der eigenen psychischen Fähigkeiten von (Selbst-)Disziplin, Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen etc., deren Realisierung Befriedigung verschafft. In diesem Sinne ist der eigene (positive) Selbstwert wiederum an die Erfüllung internalisierter (Leistungs-)Anforderungen gebunden. Wenn wir das Ganze umgekehrt formulieren, würden wir zum nächsten Schluß kommen: Die Nicht-Erfüllung dieser (Leistungs-)Anforderungen verursacht negative Gefühle. Damit befinden wir uns nun an der Schwelle zu Kernsatz b. (Ich hätte schon gerne eine „bessere“ Figur).

In den hier dargestellten Aussagen werden Unzufriedenheiten, die eigene Figur betreffend, direkt thematisiert. Greifen wir nun wiederum ein paar exemplarische Interviewpassagen heraus: Elisa „ärgert“ (206) sich manchmal, weil sie „halt nicht so eine perfekte Figur hat“ (207), Carina berichtet von „gewissen“ (613) Punkten, wo sie sich „jeden Tag ärgern könnt“ (614), Niki gelingt es „nie“ seine „Traumfigur“, die er „gerne hätte“ (306; 307) zu erreichen und auch Robert fühlt sich mit seiner jetzigen Figur beispielsweise „nicht so wohl“ (397). Es hat den Anschein, als hätten die Interviewten ihr eigenes, individuelles (Figur-)Ideal. Daß sie stets die „bessere“ Figur vor Augen haben, ist Resultat eigener Vergleichsprozesse, die allerdings nicht bewußt stattzufinden scheinen. Hier manifestiert sich wiederum die Internalisierung sozialer Maßstäbe, die damit als subjektive erscheinen. Dazu meinen Haug & Thomas (1991): „Indem wir uns an ihnen messen, unsere Körper und die einzelnen Teile mit ihnen vergleichen, akzeptieren wir sie als Maßstäbe.“ (S. 71) Und weiter: „Wir wachsen in sie hinein, verinnerlichen sie, passen uns an, zumindest versuchen wir es.“ (S. 73)

Veranschaulichte die obige Analyse körperlicher Alltagspraxis den Aspekt der Kontrolle und Selbstüberwachung, so fügen sich die hier thematisierten Aussagen der Interviewten insofern in diesen Diskussionsrahmen ein, als die Selbstüberwachung auch eines Bezugspunktes bedarf, der in diesem Fall dem aus den sozialen Vergleichspraxen resultierenden subjektiven Ideal entspricht. Aufgrund dieser Orientierung nach der „besseren“ Figur treten die Interviewten einerseits in ein direktes Konkurrenzverhältnis mit denen, die ihrer Ansicht nach eben eine „bessere“ Figur haben. Andererseits stellen sie sich, bildlich gesprochen, selbst vor den Spiegel und überwachen sorgfältig ihre „Punkte“, „Stellen“ oder Kilos. Genügen diese nicht ihren subjektiven Vorstellungen und Ansprüchen als Ausdruck objektiver Normen und Ideale, sind Gefühle des Unwohl-Seins und der Unzufriedenheit dieser Logik folgende Konsequenz.

Diese negativen Gefühle sind aber auch Ausdruck des eigenen Versagens im Sinne fehlgeschlagener Selbstüberwachung bzw. mangelnder Disziplin, womit wir uns bereits in der Analyse von Kernsatz c. (Da hab ich schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich zuviel eß) befinden. Auffallend ist hier, daß in diesem Zusammenhang ausschließlich zwei der weiblichen Interviewten von negativen Gefühlen als Ergebnis undisziplinierten Eßverhaltens berichten. Wir können davon ausgehen, daß ein „Magnum“ (Carina 619) oder einmal „zuviel“ (Elisa 186) zu essen keine besonders merkliche Relevanz für die Figur haben dürfte. Dennoch stellt sich beispielsweise bei Carina ein schlechtes Gewissen ein bzw. würde Elisa „das jetzt gern alles rauskotzen“ (187). Demnach ist hier vor allem das Erleben des Kontroll- bzw. Machtverlustes, der eigenen Unfähigkeit punkto Selbstbeherrschung und -disziplin der Auslöser des Unwohl-Seins und der Frustration. In Elisa erwächst sogar das Bedürfnis, die Kontrolle wieder herzustellen, indem sie das Geschehene am liebsten ungeschehen machen würde. Hier würde sich eine weiterführende Vertiefung hinsichtlich eines geschlechtsspezifischen Umgangs mit dem eigenen Körper anbieten, der wir jedoch an dieser Stelle nicht nachgehen (vgl. hierzu Haugg 1991).

Im rückwärts gewandten Blick auf den Themenschwerpunkt Körper kann also festgehalten werden, daß der Körper ein Ort ist, an dem Macht und Kontrolle ausgelebt und (Leistungs-)Stärke demonstriert werden kann, ein Bezugspunkt, an dem internalisierte (Leistungs-)Anforderungen und normative Vorstellungen erprobt, verglichen und gemessen werden können, deren erfolgreiche Erfüllung als Produkt eigener Leistungen bzw. als Vollzug von Macht und Kontrolle positiv und Nicht-Erfüllung als Produkt mangelnder Leistungen bzw. von Kontrollverlust negativ erlebt wird. Damit wird der Körper zu einem ideologischen Feld sozialer Kontrolle.

1. 2. 2. 2. Selbstdarstellung ist Medium der Selbstzentrierung

In diesem Abschnitt haben wir es nun mit einem weiteren subjektiven Bedürfnis punkto Selbstdarstellung zu tun, nämlich mit jenem nach IndividualitBesonderheit oder Unverwechselbarkeit (siehe Kapitel ät im Sinne sozialer Differenz, Einzigartigkeit, VIIIAusführungen von Abschnitt 1. 2. 1. in ., 2. 2. 2. Individualität als subjektives Bedürfnis). Rufen wir uns die Erinnerungpositiv, weil als etwas , so gelangten wir dort zu den vorläufigen Ergebnissen, daß die Interviewten Gleichheit Verbindendesfeststellen, , und umgekehrt Differenz negativ, weil als etwas Trennendes, erleben. Des weiteren konnten wir daß eine je subjektive Orientierung an Gruppen- und Stilnormen, somit an relativer Konformität, vorherrscht, was die letztliche Definitionsmacht als fremdbestimmt erkenntlich machte.

Die nun zu durchleuchtenden Kernsätze befinden sich gewissermaßen im direkten Widerspruch mit eben diesen Erkenntnissen. Gleichheit wird hier negativ (a. Die Masse ist fad und uninteressant) und Differenz positiv bewertet (b. Ich möchte schon zeigen, daß ich was Besonderes bin). Gleichermaßen wird Fremdorientierung und Konformität (c. Es ist mir wichtig, meinen eigenen Stil zu haben), sowie die Ausrichtung an Normen (d. Die Kleidung sollte zu meiner Persönlichkeit passen) abgelehnt. Etwas prägnanter formuliert, haben wir es also mit dem fundamentalen Widerspruch von Fremdbestimmung (im Sinne von Konformität) und Selbstbestimmung (im Sinne von Individualität) zu tun. Damit stellt sich nun die zu analysierende Frage, ob dieser Anspruch nach Individualität tatsächlich in einen selbstbestimmten Kontext eingebettet ist.

Laut den Aussagen der Interviewten in Kernsatz a. (Die Masse ist fad und uninteressant) nimmt „die Masse“ die Gegenposition zu „Individualität“ ein und wird mittels der Attribute „einheitlich“, „fad“ und „uninteressant“ negativ bewertet, ja sogar „verachtet“ (Karin 475). Demgegenüber findet es Philipp beispielsweise „viel interessanter“ (161), wenn die Leute „ihren eigenen Style haben“ (163). Somit stehen wir wiederum im Fadenkreuz von Zuschreibungs- und Bewertungsprozessen, deren Bedeutungsstrukturen wir nun zu entwirren haben.

In diesen Formulierungen bildet die Masse eine aus negativen Bewertungen konstruierte Folie, von der es sich, um die Postulate von Einzigartigkeit bzw. Individualität zu erfüllen, positiv abzuheben gilt. Diese positive Abhebung definiert sich gegen die zugeschriebenen negativen Attribute, was zur Konsequenz hat, daß Individualität „interessant“, „nicht fad“ und „vielfältig sein“ bedeutet. Indem sich nun Individualität ausschließlich unter negativer Bezugnahme auf die Masse konstituiert, unterstellt sie sich einer verkehrten Definitionsmacht und somit einem fremdbestimmten Kontext. Individuell zu sein heißt also nicht wie die Masse zu sein. Halten wir nun fest: Über die Identifizierung von Masse mit Uniformität dient diese als (negativer) Bezugspunkt der eigenen Individualität, die sozusagen als Kontrapunkt dazu konstruiert und dadurch (fremd-)bestimmt wird. In diesem Sinne wird – so paradox das klingen mag – Selbstbestimmung in der Fremdbestimmung reproduziert, womit wir uns direkt in dem oben andiskutierten Widerspruch befinden.

Daß dieses Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis von Masse und Individualität auch ein spezifisches Konkurrenzverhältnis darstellt, wird uns von Elias (1991) an der bereits in Kapitel II. (Abschnitt 2. 1. 2.) zitierten Textstelle anschaulich gemacht: „Dies ist die Eigenschaft, das Eigentum, die Leistung, die Begabung, durch die ich mich von anderen Menschen meines Umgangs unterscheide und vor ihnen auszeichne.“ (S. 192; Hervorh. K.H.) Durch dieses Konkurrenzverhältnis liegt der in diesem Rahmen „notwendigen“ positiven Abhebung auch ein Leistungsaspekt zugrunde. So ist es Karin zufolge anscheinend „leichter“, „mit der Masse mitzulaufen“ (31). Würden wir das umgekehrt formulieren, kämen wir zu dem Schluß, daß es schwerer ist, nicht mit der Masse mitzulaufen, sprich: individuell zu sein, da dies (nach den vorgegebenen Prämissen) erarbeitet bzw. geleistet werden muß.

Welch grundlegende Rolle eben diese spezifische Konkurrenzstruktur der etablierten Vorstellungen und Praxen von Individualität im kapitalistischen Verwertungsprozeß spielt, wurde bereits im Theorieteil fokussiert (siehe Kapitel III., 1. 4.).

Gelang es uns, mit dieser Analyse die Grundkonstellation, in der Individualität zu verorten ist, zu bestimmen, so eröffnet uns die Aussage von Kerstin einen Blick auf einen weiterführenden Aspekt. Für sie ist Masse „was Negatives .. weil du einfach kein Individuum mehr bist“ (756-757). Einzigartigkeit wird zum Bedürfnis, weil sie das Versprechen enthält, eine Auflösung in der Masse zu verhindern. In diesem Sinne können wir nun auf Kernsatz b. (Ich möchte schon zeigen, daß ich was Besonderes bin) überleiten.

Mit der Wahl des Aussehens und der Kleidung wollen die Interviewten zeigen, „daß es einfach was Besonderes oder Einzigartiges is, das nicht alle haben, sondern .. daß es was Eigenes is“ (Karin 44-45) oder „daß du irgendwie was Außergewöhnliches bist“ (Philipp 307-308) und auch wenn beispielsweise Niki „weiß“ (89), daß er „einzigartig“ (88) ist, scheint ihm das nicht zu genügen, denn es ist ihm wichtig, „daß man das auch merkt“ (90). Die eigene Einzigartigkeit muß also unter Beweis gestellt werden, um sich ihrer/seiner selbst zu vergewissern, um als Individuum wahrgenommen zu werden. Um dieses Bedürfnis, „sich als unverwechselbare individuierte Person zu präsentieren“ (ABJ 1990, S. 29 f.), einzulösen, befinden sich die Individuen allerdings in einem ständigen Prozeß der Selbst- und Fremdbeobachtung. Klar erkenntlich, haben wir es hier also mit dem praktischen Vollzug der übergeordneten Logik des Leistungs-, weil Konkurrenzprinzips zu tun (siehe dazu wiederum Kapitel II., 2. 1. 2.).

Daß sich die Interviewten dabei spezifischer Strategien bedienen, zeigt sich in Kernsatz c. (Es ist mir wichtig, meinen eigenen Stil zu haben). Niki beispielsweise kreierte sich seineganz eigene Haarfrisur“ (110), die „sonst niemand“ (111) hat. Derartige Strategien, sich „seinen Stil“ (Kerstin 115) bzw. den „eigenen Stil“ (Elisa 21) zu entwickeln, „nicht so wie die anderen“ (Elisa 21), sind sozusagen der eben dargestellten Logik folgende Konsequenz.

Nach dem Motto: Ich bin wie ich aussehe, wird in Kernsatz d. (Die Kleidung sollte zu meiner Persönlichkeit passen) der eigene (Kleidungs-)Stil schließlich mit der eigenen Persönlichkeit gleichgesetzt. In diesem Sinne werden der Kleidung, dem jeweiligen Stil, Persönlichkeitseigenschaften zugeschrieben, was auch bereits weiter oben (siehe 1. 2. 1. 1.) diskutiert wurde. Hier haben wir es allerdings mit der Kongruenz zwischen (Kleidungs-)Stil und Ich-Gefühl zu tun. Niki beispielsweise geht davon aus, daß es für jeden Menschen „ein paar Sachen“ (22) gibt, „die halt persönlich zu ihm passen“ (23) und er schlägt vor, das „Unterbewußtsein“ (195) – als scheinbar natürliche Instanz des „wahren Ich“ – die Kleidungswahl bestimmen zu lassen. Karin wiederum sah sich zu einem (Kleidungs-)Stilwechsel veranlaßt, „weil das einfach nicht“ (402) sie selbst war. Der Allianz von (Kleidungs-)Stil und „Persönlichkeit“ bzw. „Ich“ wird gewissermaßen eine Naturwüchsigkeit zugrunde gelegt, so, als verlangte das „Ich“ geradezu nach dem ihm zugehörigen Stil. Diese Setzung der Naturwüchsigkeit als Instanz des „reinen Ichs“ verunmöglicht folglich eine Reflexion auf gesellschaftliche Einflüsse, (Stil-)Vorgaben und Bestimmtheiten. Aufgrund der vielfältigen Waren und Angebote, derer man/frau sich bedienen kann, um die eigene Persönlichkeit auszudrücken, vollziehen die Interviewten sozusagen eine (fremd-)kontrollierte Individualität; Fremdbestimmung erscheint somit als persönlichste Selbstbestimmung (siehe dazu Kapitel II., 2. 1. 2.).

Vergegenwärtigen wir uns die wichtigsten Aspekte dieses Analyseabschnittes, so gelangen wir schließlich zu folgenden Schlüssen: Indem die subjektiven Ansprüche nach Individualität nur durch die beständige Beobachtung der anderen, mit dem Ziel einer positiven Abgrenzung, eingelöst werden können, kann sich Individualität nur als Kontrapunkt zu diesen konstituieren und unterliegt damit einem fremdbestimmten Kontext. Gleichzeitig implizieren diese Vergleichs- und Abgrenzungspraxen eine spezifische Konkurrenz- und Leistungsstruktur. Der Vollzug dieses gesamten Prozesses wird allerdings als „Verwirklichung“ des eigenen Selbst wahrgenommen. Der Widerspruch von Selbstbestimmung in der Fremdbestimmung bleibt bestehen.

1. 2. 3. Gegenpositionen

Daß Selbstdarstellung ein ambivalenter Prozeß ist, wurde im letzten Abschnitt bereits veranschaulicht und andiskutiert. Nicht weniger ambivalent sind auch die nun zu analysierenden Aussagen, die im Themenschwerpunkt Widersprüche (siehe Kapitel VIII., 2. 3.) dargestellt wurden. So zeigen sich hier bei einigen Interviewten „innere“ Widerstände als Ausdruck eines „Gefühls von Unwohl-Sein“, woraus sich insofern ein Raum für Selbstbestimmung eröffnet, als sie gewisse fremdbestimmende Aspekte und Grenzen punkto Selbstdarstellung benennen, kritisieren und reflektieren. Vor diesem Hintergrund schauen wir uns nun die Textpassagen, die hier in vier Themenbündel (Kritik an der Ästhetik, Individualität als Vereinzelung, widerstehen und Soziale Vielfalt statt Einfalt) eingeteilt wurden, genauer an.

Haben wir in Abschnitt 1. 2. 1. 1. (Selbstdarstellung ist Medium der Selbst- und Fremdverortung) diverse Bewertungspraxen in Bezug auf Aussehen veranschaulicht und diskutiert, so können wir nun an das dort Ausgeführte anknüpfen, da die hier zugeordneten Aussagen diesen Praxen dergestalt widersprechen, als sie kritisiert werden. In diesem Sinne ist es Petra zufolge „wichtiger […], was die Leute zu sagen haben und nicht wie sie ausschaun“ (44) bzw. legt Michael darauf Wert, nicht „den ersten Eindruck entscheiden“ (121) zu lassen. Auch Carina zufolge soll Aussehen „nicht überbewertet werden“ (240). Des weiteren kritisiert sie in diesem Zusammenhang den Markenfetischismus bzw. in ihren Worten das „Marken-Gescheiße“ (247). Hier werden die gängigen Bewertungsprinzipien, die „den Menschen“ hinter seiner Oberfläche verschwinden lassen, nicht nur in Frage gestellt, sondern teilweise auch durch praktisches Handeln außer Kraft gesetzt.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Gruppenbildungsprozesse. Wenn es in den Abschnitten 1. 2. 1. 1. (Selbstdarstellung ist Medium der Selbst- und Fremdverortung) und 1. 2. 1. 2. (Selbstdarstellung ist Medium sozialer Normierung) um die Reproduktion von Gruppenstrukturen bzw. -normen ging, so rücken hier die negativen Aspekte und Konsequenzen dieser Segmentierungen in den Vordergrund. Mit Bedauern stellt Carina fest, daß sie aufgrund ihres Kleidungsstils bestimmte Leute mit anderen Stilpräferenzen „nicht kennenlernen kann, weil das Ganze eben so eingeschnürt und eng immer behandelt wird“ (214-215). Demgegenüber würde sie sich einen Ort wünschen, „wo einfach jeder zusammenkommt und jeder sein kann, wie er will“ (237). Und auch Karin stört es, daß „sich so Gruppen bilden, die miteinander überhaupt nichts mehr zu tun haben“ (12), „daß man denen gegenüber auf Distanz geht“ (14), „ohne daß man weiß, was die wirklich sind“ (13). Obwohl auf der einen Seite eine Gruppenzugehörigkeit, samt damit einhergehender Ausrichtung an spezifischen Normen, angestrebt wird (siehe dazu Abschnitt 1. 2. 1. 1. und 1. 2. 1. 2.), erleben die Interviewten auf der anderen Seite das dieser Konstellation implizite Moment der Aufspaltung bzw. Trennung als Einschränkung. Die kontextuelle Fremdbestimmung wird in eben dieser Einschränkung erfahren, was sich letztlich zwar als Unbehagen und Kritik äußert, jedoch nicht zu wesentlich verändernden Praxen zu führen scheint.

Ähnliche Kritikpunkte werden im Themenbündel Widerstehen dahingehend zum Ausdruck gebracht, als hier von den Interviewten ein Raum für Selbstbestimmung eröffnet wird, indem sie sich „äußeren“ Zuordnungen explizit entgegenstellen. Man/frau will beispielsweise nicht „irgendwelchen Gruppen untergeordnet“ (Petra 167) oder „irgendwie in ein Muster reingeordnet werden“ (Michael 209), sondern selber entscheiden, wo man/frau dazugehört. Anders als in Abschnitt 1. 2. 2. 2. (Selbstdarstellung ist Medium der Selbstzentrierung), wo wir das Bedürfnis nach Einzigartigkeit und Differenz unter dem Aspekt der Fremdbestimmung diskutierten, ist dieses Bedürfnis hier eine sich den „äußeren“ Zuordnungs- bzw. Festschreibungspraxen widersetzende Reaktion und in diesem Sinne ein Moment des Widerstandes gegen Fremdbestimmungen.

Des weiteren wird hier ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit von Gruppen- und Stilnormen artikuliert, was wiederum in direktem Gegensatz zur Analyse in Abschnitt 1. 2. 1. 2. (Selbstdarstellung ist Medium sozialer Normierung) steht, wo wir den (internalisierten) Reproduktionsprozessen eben dieser Normen nachspürten. Petra beispielsweise zieht an, was ihr gefällt, die Bewertung von anderen ist ihr scheinbar egal und sie braucht „keine Liste dazu, ob das jetzt gut oder schlecht“ (227), ob das „in“ oder „out“ ist. Und wenn sich Carina in ihren Sachen wohl fühlt, ist ihr „alles andere egal“ (478). In diesen exemplarischen Aussagen kommt damit wiederum das emanzipatorische Potential von Selbstbestimmung deutlich zum Vorschein. Wenn wir allerdings, wie in Abschnitt 1. 2. 1. 2., von der Verinnerlichung und damit dem „unbewußten“ Vollzug von Normen ausgehen, so ergibt sich daraus sogleich eine Abschwächung selbiger, als sich die Muster dieser normativen Prinzipien gewissermaßen durch die Hintertür in die scheinbar alternativen Praxen einschleichen (können).

Schließlich erweitert Philipp im Themenbündel Soziale Vielfalt statt Einfalt das emanzipatorische Potential von Selbstdarstellung in Hinblick auf eine Aufweichung konservativer Ästhetikvorstellungen und -praxen. Indem er seinen Kleidungsstil derart wählte, um „eben diese österreichische Gesellschaftsordnung oder halt Ränge“ (286) zu „sprengen“ (287), ist Selbstdarstellung für ihn ein Medium, die Gesellschaft zu verändern. In diesem Sinne verleiht er seinem Anspruch nach Individualität einen politischen bzw. revolutionären Charakter.

All diese Formen des Widersprechens sind also insofern in einen widersprüchlichen Kontext eingebettet, als die eigene Reproduktion bzw. der Vollzug von normativen Selbstdarstellungspraxen, als Folge von Internalisierungs- bzw. Anpassungsprozessen, nicht direkt bewußt wahrgenommen bzw. erkannt wird. Nichtsdestotrotz eröffnet gerade diese widersprüchliche Form des Widersprechens Räume und Möglichkeiten der Selbstbestimmung, was wiederum zeigt, daß „wir“ als Subjekte diesen fremdbestimmenden Prozessen und Strukturen nicht „hilflos“ ausgeliefert sind.

 

2. Jugend denkt Gesellschaft …

Widmete sich die Analyse der bisherigen Abschnitte den Forschungsergebnissen der Themenkomplexe Streß/Leistung und Selbstdarstellung, so tauchen wir nun in jene von Gesellschaft ein (siehe Kapitel VIII., 3.). Lassen wir auch hier jene forschungsleitenden Fragestellungen noch einmal Revue passieren, die uns in den folgenden Analyseschritten (beg)leiten sollen:

Vor dem Hintergrund der Interviewaussagen, mit denen wir es in diesem Themenkomplex zu tun haben, begeben wir uns nun auf die Spurensuche der (Be-)Deutungsstrukturen, Erklärungsmuster und Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse. In diesem Sinne kreisen die drei Schwerpunkte: Praxen der Verantwortungszuschreibungen, Bewußtsein sozialer Ungleichheit und Positionierungen (siehe Kapitel VIII., 3. 1., 3. 2. und 3. 3.), die wir allerdings getrennt diskutieren werden, direkt um die zu bearbeitenden Fragestellungen.

 

2. 1. „Verantwortung“ im Spannungsfeld individualistischer und struktureller Zuschreibungen

Das eigene „Versagen“ liegt in der jeweiligen persönlichen Verantwortung, war das Fazit, das wir bereits in Abschnitt 1. 1. 2. 3. (Jugend will Eigenständigkeit) ziehen konnten und das den spezifischen Aspekt dieses Phänomens beleuchtete. Mit den nun zu analysierenden Aussagen verlassen wir den Raum direkter Betroffenheit, als die Interviewten diese Form von Deutungsmodellen, im Hinblick auf sozialen Auf- bzw. Abstieg, auf eine abstraktere, weil allgemein gesellschaftliche, Ebene erweitern bzw. anwenden. In diesem Sinne wurden hier zwei polare Zuschreibungspraxen unterschieden, individualistische versus strukturelle (siehe Kapitel VIII., 3. 1. 1. und 3. 1. 2.), wobei ersteren ein überaus stärkeres Gewicht zukommt, mit deren Analyse wir nun beginnen.

2. 1. 1. Wo ein Wille, da auch ein Weg

Bereits der Titel dieses Abschnittes bestimmt den Diskussionsrahmen, in den die hier zugeordneten Aussagen eingebettet sind. Nach dem Leitsatz: Jeder ist seines Glückes Schmied (siehe Kapitel VIII., 3. 1. 1. 1.) wird der eigene Wille als Medium und Garant des „sozialen Aufstiegs“ und „Erfolgs“ wahrgenommen bzw. der „Nicht-Wille“ für den „sozialen Abstieg“ verantwortlich gemacht. Ausschließlich jene Faktoren wie Schicksal/Glück (siehe Kapitel VIII., 3. 1. 1. 2.) bzw. Unglück oder Pech, die sich der eigenen Einflußnahme entziehen, scheinen die Einzelnen aus ihrer Verantwortung zu entheben. Schauen wir uns das nun etwas genauer an.

Daß „man so viel machen“ könnte, „wenn man einfach nur den Willen hätt und Lust hätt, was zu machen“ (Michael 1163;1164) und es dabei „immer auf die Person selber drauf“ ankommt, „was sie erreichen will“ (Robert 907), sind Äußerungen, die die Bedeutung des eigenen Willens fürs erste unterstreichen. Es geht allerdings noch deutlicher weiter: Auch wenn Robert ungleiche „Berufschancen“ thematisiert, hält er schlußendlich trotzdem daran fest, daß „wenn’s [die Betroffenen] wirklich wolln hättn, dann hättn’s ses gschafft“ (1053; 1054). Zudem werden von einigen Interviewten ungleiche familiäre Verhältnisse miteinberechnet, doch selbst wenn „der Vater […] Säufer“ ist und „die Mutter […] Prostituierte“ (Carina 1069), steht das der Möglichkeit, „es zu schaffen“, genauso wenig im Wege, wie die Tatsache, „weniger Geld [zu] haben“ (Niki 982). Es wird für diese Fälle zwar zugestanden, daß es wohl schwieriger ist, „das Gleiche zu erreichen“ wie jene, „die mehr Geld haben“ (Niki 986; 979), aber die Tatsache des Erreichen-Könnens wird an diesem Punkt in keinster Weise angezweifelt, denn es gibt ja „immer wieder Beispiele, wo Leute aus einem Umfeld, wo du das nie denkst, irgendwas werden oder irgendwas machen, was dir auch nicht denkt hättest“ (Kerstin 1082-1083).

Der Wille als Ausdruck von Ehrgeiz und (Leistungs-)Stärke wird somit zur Versicherung „unbegrenzter Möglichkeiten“, mit dem die ungleichen Ausgangspositionen in ihrer Wirkungskraft zwar erkannt, gleichzeitig allerdings aufgehoben werden können. Die „Omnipotenzphantasie“, die sich in diesen Passagen an den Willen heftet, bedingt eine regelrechte Blindheit gegenüber der sozialen Realität. In dieser Gestalt wird der Wille zu einer ideologischen Kategorie, die sich direkt in die kapitalistische Verwertungslogik einfügt.

Demgegenüber offenbart sich der „soziale Abstieg“ als Ausdruck mangelnden Willens, mangelnder Leistungskraft und -stärke. Die Leute, die „einfach zu wenig Ehrgeiz haben“ sind demnach „selber schuld“ (Carina 1161). Auch (Jugend-)Obdachlosigkeit, als eine der extremsten Formen des „sozialen Abstiegs“, wird als persönlich verschuldetes Problem bzw. Versagen deklariert, denn die davon Betroffenen „sollten’s an und für sich schaffen, sich einen normalen Job zu verschaffen“ (Niki 1110) bzw. könnten sie „doch was machen“ (Kerstin 1036). Aus diesem, die gegebenen sozialen (Herrschafts-)Verhältnisse negierenden, Blick ergibt sich zwangsläufig auch die Haltung: „jeder Mensch ist für sein Leben selbst verantwortlich […] und […] Glück […] muß man sich einfach selber besorgen“ (Niki 1141-1142), die aus eben dieser Negierung nicht emanzipatorisch sein kann.

Schließlich wird auch Arbeitslosigkeit, als eine weitere Ausdrucksform des „sozialen Abstiegs“, von einigen Interviewten wiederum als selbstverschuldetes „Schicksal“ bestimmt, denn irgendeinen Job findet man/frau ja immer bzw. stellen die Betroffenen „zu hohe Ansprüche“ (Kerstin 1069) oder nehmen „nicht alles“ (Elisa 332) an.

Um den ideologischen Charakter dieser Deutungsmuster und Zuschreibungspraxen noch etwas deutlicher zu veranschaulichen, werfen wir nun einen Blick in den Theorieteil. Die dargestellten Aussagen der Interviewten fügen sich insofern in die theoretischen Ausführungen ein (siehe Kapitel II., v.a. 2. 1. 3. 2.), als darin die Überzeugung zum Ausdruck gebracht wird, „durch individuelle Entscheidungen und Handlungen die Zukunft“ (Jagodzinski & Klein a. a. O., S. 14) gestalten zu können bzw. sich für das eigene „Schicksal in mehr oder minder großem Ausmaß“ (ebd.) verantwortlich zu fühlen. Daß ungleiche Ausgangsbedingungen, die strukturell bedingt sind bzw. gesellschaftliche Krisen, wie beispielsweise Arbeitslosigkeit oder Armut, „in ihrer Gesellschaftlichkeit nur noch sehr bedingt und vermittelt wahrgenommen“ (Beck 1986, S. 118) werden, gerade weil allen – zumindest theoretisch – dieselben objektiven Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ist die dieser individualistischen Deutungspraxis folgende Konsequenz. Durch diese Verkehrung bzw. Verschiebung der Verantwortlichkeiten werden die strukturellen Herrschaftsverhältnisse nicht in Frage gestellt, sondern aktiv reproduziert, was das Fortbestehen eben dieser Verhältnisse weiterhin garantiert.

Auch die Verantwortungszuschreibungen an jene abstrakten Kategorien wie Schicksal, Glück oder Unglück, die sich der eigenen Kontrolle und Wirkungsmöglichkeiten entziehen, sind in einen ähnlichen, ordnungsreproduzierenden Kontext eingebettet. Mit der Haltung, daß man/frau „einfach Pech“ haben kann, auch wenn man/frau „noch so gescheit“ ist, „weil’s einfach nicht will“ (Carina 1160; 1163) oder „manche Menschen […] einfach aufgrund des Schicksals keine Chance […] zu überleben“ (Niki 1154-1155) haben und der soziale Aufstieg im Sinne von Erfolg „einfach auch .. eine Glückssache“ (Karin 1020) ist, bleiben die Einzelnen wiederum auf sich selbst verwiesen, was eine kritische Reflexion der strukturellen Herrschaftsverhältnisse ebenfalls verhindert.

2. 1. 2. Versperrte Wege – Grenzen des Willens

Galt unsere Aufmerksamkeit im letzten Abschnitt den individualistischen Verantwortungszuschreibungen, so gilt es nun, jene Zuschreibungspraxen, die sich eben auf konkrete Zustände realer sozialer Strukturen beziehen, kurz zu diskutieren (siehe Kapitel VIII., 3. 1. 2.).

Hier wird beispielsweise Arbeitslosigkeit als konkretes politisches bzw. wirtschaftliches Problem diskutiert, denn Carina zufolge ist dabei „teilweise unsere Politik schuld […] und unsere Wirtschaft“ (1170). Daß das „aber vielleicht auch ein bißl am Staat, oder wahrscheinlich am Staat“ (1052) liegt, stellt auch Kerstin fest. Demgegenüber zieht Karin die mangelnden (Aus-)Bildungsmöglichkeiten zur Verantwortung. Zudem kann man/frau auf (strukturelle) Grenzen stoßen, die sich der eigenen Einflußnahme entziehen, denn auch wenn man/frau „sich bemüht, das Beste zu geben“, kann man/frau „trotzdem irgendwann arbeitslos“ (Karin 801) sein, wovor sich niemand „schützen kann“ (Kerstin 682). Daß es schließlich jeder/m passieren kann, „daß man .. ähm .. aus allen Bahnen gerät“ und dabei nicht „selber schuld“ (867;869) ist, gibt auch Petra zu bedenken.

Die Sichtweise, die in dem hier Zusammengetragenen durchschlägt, stellt sich also insofern in eine Gegenposition zu jener, die wir im letzten Abschnitt erörterten, als hier die Grenzen des eigenen Willens nicht auf jene abstrakten Kategorien wie Schicksal/Glück oder Unglück, sondern vielmehr auf direkte strukturelle Bedingungen zurückgeführt werden. Damit werden die Grenzen des eigenen Willens in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit erkannt, was die Einzelnen aus der alleinigen Verantwortung entläßt und zumindest ein Potential für widerständiges Denken bzw. Handeln eröffnet.

Bereits am Ende dieses Analyseabschnittes angelangt, erscheint es angemessen, noch einmal in aller Deutlichkeit auf die Vormachtstellung des individualistischen Blickes im Gegensatz zum strukturellen hinzuweisen, welche als Ausdruck wirklichkeitsbestimmender Ideologie dem Zustand der realen gesellschaftlichen Verhältnisse entspricht.

 

2. 2. Soziale Ungleichheit im Spannungsfeld von Bewußtsein und Reproduktion

In diesem vorletzten thematischen Feld beschäftigt uns nochmals, allerdings unter einer spezifischen Facette, die Problemstellung des Nebeneinanderstehens von Widersprüchen, die nicht in einer Synthese aufgehoben werden. Aktuell stellen sich diese dar als die partielle Erkenntnis sozialer Ungleichheit als (negativer) Einflußgröße einerseits (siehe Kapitel VIII., 3. 2. 1. Bewußtsein) und als die nichtsdestotrotz vollzogene Reproduktion ebendieser andererseits (siehe Kapitel VIII., 3. 2. 2. Reproduktion). Die Klarheit bzw. Verschwommenheit dieser Widersprüche ist es, die uns im folgenden interessieren soll.

2. 2. 1. Der Einfluß sozialer Ungleichheit ist nicht bestimmend

Von wo man herkommt, wie man aufgewachsen ist, was die Familienverhältnisse waren“ (Karin 1130-1131), „irgendwelche besonderen Connections haben“, „keine richtige Ausbildung .. haben“ (Philipp 949; 1087), „wenn man nicht so viel Geld hat“ (Elisa 463), „wenn man den Background hat“ (Michael 1037), sind Aussagen, die von den Interviewten als den jeweiligen Lebenslauf beeinflussende Faktoren benannt werden, weshalb, wie Philipp das auf den Punkt bringt, die von solcherart Umständen Betroffenen „ihr Glück nicht so leicht schmieden können“ (1108).

Wiederum jedoch kommt es zu keiner Aussöhnung der Gegensätze, da, wie an diesem Punkt festgestellt werden konnte, die Interviewten die Einflußgröße sozialer Ungleichheit sehr wohl erkennen, aber, wie in Abschnitt 2. 1. 1. befunden wurde, diese in letzter Konsequenz für das „Gelingen“ von Biographien nicht in Rechnung stellen, somit, ungeachtet aller Umstände, den Subjekten die ganze Verantwortung für „Erfolg“ oder „Scheitern“ überlassen. Dies hat zur Folge, daß die gesellschaftliche Bedingtheit genannter Ungleichheiten nicht erkannt und in dieser Konsequenz auch nicht hinterfragt wird. Interpretatorisch ergibt sich somit an dieser Stelle nichts neues, da das Gesagte im schon erwähnten Analyseschritt 2. 1. 1. bereits genauer umrissen wurde. Zu vermerken bleibt jedoch die Deutlichkeit, mit der soziale Ungleichheit erkannt und nichtsdestotrotz verkannt wird.

Zusätzlich zu den gerade dargestellten Aussagen, wird soziale Ungleichheit noch in einem anderen Kontext thematisiert, nämlich in jenem des Geschlechterverhältnisses. Indem die meisten Feststellungen um die Ansicht kreisen, daß sich das „heutzutage […] voll gebessert“ (Philipp 1060) hat bzw. es zumindest schon „ausgeglichener als früher“ (Petra 848) ist oder daß früher „a Frau gor net in die Regierung geh hot diafn“ (Jürgen 745), hat es den Anschein, als hätten die ungleichen strukturellen Bedingungen bezüglich des Geschlechts keine Relevanz mehr und könnten der Geschichte überantwortet werden. Es dürfte „schon eine Rolle spielen, daß man sich“, z.B. angesichts der Überzahl von Künstlern gegenüber Künstlerinnen als eine von letzteren „mehr behaupten muß“ (993), ist die vorsichtige These, zu der Karin sich durchringt. Solche und ähnlich vage Formulierungen erwecken den Eindruck, als hätten die Interviewten mit einem Geschlechterverhältnis nichts am Hut, aber nicht etwa, weil es sie nicht interessierte, sondern eher weil es für die eigenen Chancen bzw. Privilegien als nicht relevant angesehen wird. Angesichts dessen, daß Frauen sich in bestimmte Positionen hinaufgearbeitet und im Schnitt auch das gleiche Bildungsniveau haben, wird ein Schein der Gleichberechtigung erweckt und nur bei genauerem Hinsehen entstehen leise Zweifel. Dadurch, daß der „Geschlechterkampf“ solcherart besiegelt ist und es nur mehr um aktuelle und punktuelle Verbesserungen geht, scheint es nur konsequent, das eigene Geschlecht als ein in einem gesellschaftlichen Machtkontext eingebettetes zu übersehen (siehe dazu auch Kapitel II., 2. 1. 3. 3.).

Eine Ähnlichkeit in der Nivellierungspraxis, wie wir sie gerade besprochen haben, also die Abschwächung von Verhältnissen der Gegenwart im Vergleich zur („schlimmeren“) Vergangenheit, begegnet uns auch im, die Thematik „soziale Ungleichheit“ beschließenden, Aspekt von „Armut“. Befand sich diese Praxis gerade auf einer zeitlichen Dimension, so wechselt sie nun in eine räumliche. „Ich mein im Vergleich zu Amerika oder USA oder sonst irgendwas is das doch eigentlich super, was wir haben“ (1160-1161), meint dazu beispielsweise Kerstin und bringt die hier bestimmende „Methode“ sogar auf den Punkt: „also man muß immer den Vergleich bringen“ (1161). Bei Robert und Jürgen treffen wir auf eine weitere Variante dieses „Negativvergleichs“, namentlich bezüglich der sogenannten „Dritte Welt-Länder“, wobei ersterer „froh [ist], daß [er] da [ist] und […] was zum Essen […] und a Dach über’m Kopf“ (1141) hat, während zweiterer es als „Glück“ bezeichnet, „in Österreich geburn“ (857) zu sein. Durch den Vergleich mit einem „Schlimmeren“, welches, wie eine Folie, dem Gegenwärtigen unterlegt wird, hebt sich letzteres vor diesem kontrastierenden Hintergrund positiv ab. Auch wenn hier soziale Ungleichheiten erkannt und benannt werden, haben wir es wiederum insofern mit einem Aspekt sozialer Kontrolle zu tun, als durch diesen Negativ-Vergleich die soziale Bedingtheit der im „eigenen“ (nationalen) Lebensumfeld vorherrschenden Ungleichheiten nicht hinterfragt wird, ja sogar noch positiv erscheint.

2. 2. 2. Gleich und Gleich gesellt sich gern

Was uns nun im Folgenden beschäftigen soll, ist letzlich eine praktische Veranschaulichung des Bourdieuschen Habitus-Konzeptes, wie es bereits in Kapitel II. (2. 1. 3. 1.) dargestellt wurde. So zeigen die Aussagen, die dem Abschnitt Reproduktion (Kapitel VIII., 3. 2. 2.) zugeordnet wurden, wie die sozialen Verhältnisse unbewußt und bewußt reproduziert werden.

Der Tatsache, daß man/frau sich nur in einem gewissen Umfeld bewegt, wird von den Interviewten eine automatische bzw. treffender: „zufällige“ Selektion zugrunde gelegt, die in dieser Eigenschaft nicht negativ bewertet wird. Greifen wir nun auch hier zur Veranschaulichung wieder ein paar exemplarische Interviewstellen heraus. So eröffnet Carina zufolge „allein die Schule […] nur Zugang zu begrenzten Leuten“ (1113), weshalb sie beispielsweise keine Leute kennt, „die eine Lehre machen“ (1114). „Zufällig“ geht sie auch nicht in „Lokale, wo einfach solche Leute sind“ (1119), ganz einfach aus dem Grund, weil sie „keine Freunde“ hat, „die dorthin gehen“ (1121). Auch Kerstin war „zufällig“ „einfach immer in so einer Gruppe drinnen […] wo jeder einfach maturiert hat oder studiert“ (990-991). Einzig Philipp beginnt im Interview nachdenklich zu werden und erkennt, „daß wir das unbewußt fördern“, obwohl er selbst „das eigentlich überhaupt nicht“ will und er schließt mit der Folgerung: „das passiert, das is interessant .. schade eigentlich“ (1051; 1054).

Vom interpretatorischen Anspruch gibt es in diesen Passagen im Grunde nichts Verborgenes, das zu Tage zu fördern sich anbietet, da die Textstellen ebendiesen sozialen Sachverhalt, den wir mit Bourdieu als Habitus bezeichnen können, in klarster Deutlichkeit veranschaulichen.

Der Habitus als strukturierende Struktur (vgl. Bourdieu 1987, S. 279) offenbart sich auf den verschiedensten Ebenen eines sozialen Systems. Ruhte unser Blick gerade auf den Bereichen Schule und Freizeit, so gelangen wir nun zum nächsten, namentlich der Familie. Dieser kommt als absolutes Bezugssystem des Kindes eine normalitätsbildende Funktion zu, die in ihrer Wirkung so weit internalisiert ist, daß der „Vollzug“ der spezifischen „Normalität“ nicht bewußt wahrgenommen bzw. automatisch übernommen wird. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Petra beispielsweise „unbewußt […] schon eher mehr geworden“ ist wie ihre „Mutter“ (747-755) oder Kerstin den Bildungsweg der Matura wählte, eben weil in ihrer „Familie alle maturiert haben“ (953), eine Entscheidung, die „eigentlich völlig automatisch abgelaufen“ (960) ist.

Die Konsequenz, welche aus diesem automatischen Vollzug erwächst, ist eine „Naturalisierung“ der sozialen Verhältnisse, die scheinbar aus einer „ursprünglichen“ Verschiedenheit der Menschen resultiert. Dies wird z.B. deutlich, wenn Michael es „irgendwie o.k.“ findet, „daß sich die Schichten trennen, weil sie nit miteinander auskommen“ (1146), oder Kerstin feststellt, daß „so eine wirkliche Ungleichheit […] da eh nicht“ (1003) herrsche, da „die Lehrlinge […] vielleicht gar nicht das Bedürfnis“ haben „mit einem Studenten zu reden“ (1004). Die solcherart naturalisierte Differenz bzw. Gleichheit entzieht sich somit umso mehr der Kritik, je stärker die konstitutive Konstruiertheit sozialer Verhältnisse aus der Wahrnehmung entschwindet. In diesem Sinne wird das Fortbestehen dieser sozialen Ordnung, die eben Differenz und Gleichheit begründet, durch eben diese internalisierten und naturalisierten Zugehörigkeitspraxen beständig gesichert.

 

2. 3. Grenzen und Potentiale

Wenden wir uns nun noch den letzten zu diskutierenden Forschungsergebnissen zu, die im Themenbündel Positionierungen (siehe Kapitel VIII., 3. 3.) dargestellt wurden. Werden in der Unterkategorie Erklärungsmodelle (siehe Kapitel VIII., 3. 3. 1.) bestimmte Deutungsstrukturen in Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Funktionsweisen zum Ausdruck gebracht, die bereits Schlüsse für Grenzen und Potentiale widerständigen Denkens bzw. Handelns zulassen, so lassen sich diese in den Unterkategorien Kritik und Handlungspotentiale (siehe Kapitel VIII., 3. 3. 2. und 3. 3. 3.) noch deutlicher veranschaulichen und benennen. Gehen wir diesen Kategorien nun genauer auf den Grund.

2. 3. 1. Jugend erklärt Gesellschaft

Der zentrale Punkt, um den die Aussagen im Kernsatzbündel Erklärungsmodelle kreisen, kann als Versuch bezeichnet werden, ein bestimmtes „Menschenbild“ zu erfassen. Der Anfangs- und Endpunkt in den von den Interviewten angestrengten Überlegungen ist und bleibt letztlich der einzelne Mensch, das Individuum. Aus einem bestimmten „So-Sein“ dieses Individuums ergibt sich der dem entsprechende Zustand der Gesellschaft, was auf die Verkehrung von Ursache-Wirkungs Zusammenhängen hinausläuft.

So werden die Ursachen für gewisse Probleme „unserer“ Gesellschaft beispielsweise darin gesehen, daß die Menschen bestimmte Dinge „einfach zu wenig zu schätzen“ (Carina 1257) wissen, weil es „uns […] so extrem gut geht“ (Niki 1252). „Das Niveau der Gesellschaft ein bißl“ (1221) zu senken, „in materieller Hinsicht“ (1223) wäre für Kerstin eine Möglichkeit, die Menschen „irgendwie zufriedener“ (1224) zu machen. In diesen Aussagen sehen wir uns wiederum einem Widerspruch gegenüber, so geht es „uns“ einerseits „extrem gut“ während andererseits ein anscheinend augenscheinliches Maß an Unzufriedenheit vorherrscht. In diesem Sinne ist der Vorschlag, dem solcherart „allgemeinen“ Charakterzug der Unzufriedenheit, verursacht durch den ausgeprägten materiellen Wohlstand, durch eine „Erziehung“ zur Bescheidenheit entgegenzuwirken, ein Versuch, diesen Widerspruch aufzulösen. Würden wir allerdings davon ausgehen, daß nicht der materielle Wohlstand an sich die Ursache des gesellschaftlichen „Übels“, der Unzufriedenheit, darstellt, sondern vielmehr die herrschenden Bedingungen und Verhältnisse, unter denen er (re)produziert wird, so spiegeln diese Aussagen eine verkürzte, weil ausschließlich auf die Symptome und nicht die Ursachen gerichtete, Kapitalismus-Kritik wider. Weil Niki zufolge Kapitalismus „eigentlich nur wenigen was“ (1269) bringt und er sich deshalb als „Kapitalismusgegner“ (1268) bezeichnet, eröffnet er schließlich die Möglichkeit, die Verhältnisse auf eine doch ziemlich grundsätzliche Art zu diskutieren, indem von ihm die, das System konstituierenden, Ausbeutungsverhältnisse ins Spiel gebracht werden.

Mit der Feststellung, daß „Wohlstand und Reichtum […] für alle […] ein Irrglaube“ (Carina 1267) bzw. „unmöglich is“ (Michael 1275), weil „manche halt immer dann so gierig sind“ (Petra 1000) oder „nur an sich selbst denken“ (Michael 1275) wird das etablierte Menschenbild noch um einiges plastischer. Neben der obigen Unzufriedenheit kommt dem Individuum nun eine naturwüchsig erscheinende „Gier“ zu, die gleichzeitig einen implizit asozialen Charakter trägt. Die Äußerung, das Konkurrenzdenken liege „teilweise in unserer Natur“, um „uns weiterzuentwickeln“ (Carina 1245), fügt sich nahtlos in dieses Bild ein. Nichtsdestotrotz bleibt eine gewisse gesellschaftliche Dimension im Denken der Interviewten erhalten, so wird Konkurrenz auch von der Gesellschaft „zu extrem gefordert“ (Carina 1244) bzw. geht Kerstin sogar so weit, dieses „Besser-Sein Denken“ (1152) mit dem „kapitalistischem Denken“ (1152) in Zusammenhang zu bringen. Anhand dieser Aussagen können wir also die These formulieren, daß die Interviewten ein allgemeines Maß an „Gier“ als „dem Menschen“ innewohnend annehmen, das einerseits seinen Ursprung in einem „natürlichen“ oder evolutionären Konkurrenzdenken findet und andererseits aber auch sozial geformt ist und wird.

In den Gedankengängen, mit denen die Interviewten versuchen, sich Gesellschaft zu erklären, zeigt sich also eine Gleichzeitigkeit von Grenzen und Potentialen. Sie erkennen sehr wohl Probleme „unserer“ Gesellschaft, benennen jedoch, in Verkennung der konstitutiven Bedingungen, oftmals nicht die herrschenden Verhältnisse, sondern setzen die „Symptome“ an deren Stelle.

2. 3. 2. Jugend übt Kritik

Anders als im vorigen Abschnitt, wo wir die Grenzen und Potentiale der verschiedenen Deutungs- und Erklärungsmuster kenntlich zu machen versuchten, stehen wir nun vor Aussagen, in denen direkt Kritik geübt wird, namentlich Kritik an subjektiven, sozialen und politischen Praxen (siehe Kapitel VIII., 3. 3. 2.). Der sich hier zu erkennen gebende rote Faden, der sich durch alle drei der genannten Bereiche zu ziehen scheint, könnte als Klage über einen Mangel an sozialer Gewissenhaftigkeit bezeichnet werden.

Auch wenn „man schauen“ muß, „wo man bleibt“, sollte „eine gewisse Toleranz und Rücksichtnahme […] einfach da sein“, die „manche Leute nicht“ (Carina 1223; 1224; 1225) haben und diese sollten auch „nicht nur so auf den eigenen Vorteil schauen“ (Petra 348), nicht „nur auf das eigene Wohl bedacht“ (Karin 1072) sein. In Anlehnung an das im vorigen Abschnitt Ausgeführte zeigt sich uns hier die Kehrseite des, bis zu einem gewissen Grade als „natürlich“ wahrgenommenen, Konkurrenzdenkens. Anstelle der obigen Allgemeinheit der Äußerungen tritt nun die subjektive Betroffenheit, in der eine relative Einsamkeit in diesem EinzelkämpferInnentum als konkret negativ erlebt wird. Das, was sich somit zeigt, könnte als „Beigeschmack der Härte“ bezeichnet werden. Ein gewisses Quantum an Egoismus wird durchaus befürwortet, Ziel der Kritik ist lediglich dessen Auswuchs. Dies stellt uns wiederum vor das Ergebnis, daß nicht die Ursache, sondern das Symptom, das zur „Störung“ erwächst, als das „Übel“ angesehen wird.

Auch in den Aussagen, in denen konkrete soziale und politische Praxen auf einer abstrakteren Ebene kritisiert werden, ergibt sich, zumindest hinsichtlich unserer zentralen Forschungsinteressen, interpretatorisch genau genommen nichts neues. Das Soziale betreffend, werden Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen erkannt und benannt. So meint Carina, daß „Leute, die für eine Hotelnacht dreihunderttausend Schilling ausgeben“, diese „irgendwem geben“ sollten, „der sie wirklich braucht“ (1272-1273). Für Karin und Michael rückt hingegen die Diskriminierung in den Vordergrund, einmal bezüglich des Sexismus, wo „die Frau sich drunter stellen“ (Karin 1052) muß und zum anderen hinsichtlich der Beachteiligung oder Anfeindung „niederer“ Schichten bzw. Minderheiten.

Das Politische, sprich die Realpolitik, betreffend, scheint eine desillusionierte Haltung verbreitet zu sein, die sich durch Ohnmachtsgefühle auszeichnet. Es werden gewisse Mißstände angeprangert, so beispielsweise daß „nur solche“ aufsteigen, „die eh nichts verändern wollen“ (Philipp 1228), wo „jeder um den heißen Brei redet, aber keiner irgendwas macht“ (Carina 1177) oder daß Politik „so viel mit Lügnerei und Heuchelei zu tun hat“ (Michael 1182).

Auch hier sehen wir uns einem Potential für widerständiges Denken gegenüber, mit einem etwas strengeren Blick stellt sich allerdings die Frage, ob dieses nicht an der Oberfläche hängenbleibt. Bleibt die Kritik wiederum lediglich auf das Ausmaß der Ungerechtigkeiten beschränkt bzw. verharren die Interviewten in der erwähnten Ohnmacht, so sind diesem Potential klare Grenzen gesetzt. Wenn wir uns unsere bisherigen Erkenntnisse, besonders jene aus dem Abschnitt 2. 2. vergegenwärtigen, die das Nicht-Erkennen der sozialen Bestimmtheit eben dieser gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. „Mißstände“ aufzeigten, so müßten wir die Frage nach der Oberflächlichkeit positiv beantworten.

2. 3. 3. Das Private ist Wirkungsfeld

Wenn wir uns jetzt dem letzten Themenbündel Handlungspotentiale (siehe Kapitel VIII., 3. 3. 3.) widmen, so können wir insofern an die vorangegangenen Abschnitte anknüpfen, als wir es hier sozusagen mit den praktischen Konsequenzen der theoretischen Überlegungen der Interviewten, sei es selbst- wie kontextbezogene, zu tun haben. Den Succus der hier versammelten Textauszüge herausarbeitend, wird zwar eine wahrgenommene Mitverantwortung am allgemeinen „Lauf der Dinge“ erkennbar, die allerdings zwischen Alltagsanforderungen und gesellschaftlicher Komplexität aufgerieben wird. Dies bedingt wiederum eine relative Ohnmacht den Verhältnissen gegenüber, was dementsprechende Perspektiven nach sich zieht, nämlich einen Rückzug ins Private, verknüpft mit dem teilweisen Anspruch, wenigstens dort etwas zu verändern. Versuchen wir nun kurz, diese These zu veranschaulichen.

Die wahrgenommene Mitverantwortung läßt sich an einem von den Interviewten verwendeten Imperativ festmachen. Auch wenn Philipp das „Weltgeschehen“ „nicht so richtig betrifft“ (1131) so hat er gleichzeitig das Gefühl, daß er und seine Freunde sich „eigentlich Gedanken drüber machen sollten“ (1133). Daß einer/m „die große Welt auch nicht ganz egal sein sollte“ (Kerstin 1131), weil „jeder Mensch eine Verantwortung hat“ (Michael 1305), selbst wenn „für dich persönlich natürlich die kleine Welt“ (Kerstin 1130) wichtiger ist, heißt es exemplarisch an anderen Stellen. Die jugendweltlichen Alltagsanforderungen, bezeichnet mit dem Schlagwort: Jugend ist Leistung (vgl. Abschnitt 1.), scheinen die volle Aufmerksamkeit der Interviewten zu fordern, weshalb, trotz genereller Verantwortung, eine globale Sphäre, bis auf herausragende Ereignisse (vgl. Kernsatz b. Wenn irgendwas Aktuelles ist, reden wir schon darüber, ansonsten interessiert uns das nicht so), im großen und ganzen ausgespart bleibt. Die Überforderung und Ohnmacht, die mit der Komplexität dieser Sphäre einhergehen, werden in Kernsatz c. (Ein Mensch alleine kann eh nichts verändern) deutlich, exemplarisch in den Formulierungen, „man weiß halt auch nicht, was man dagegen tun soll“ (Petra 954) bzw. „ich kann ja auch nicht viel machen“ (Elisa 601). Daß etwas verändert werden könnte, wenn „eine Menge Leute […] da mitmacht“ (Philipp 1224) oder „wenn ma olle zomhöfn“ (Jürgen 893) bleibt eine ohnmächtige Erkenntnis, da „halt jeder Mensch für sich trotzdem noch einzeln“ (Kerstin 1125) lebt oder, wie Carina meint, es „mittlerweile […] für jeden schon so hart geworden“ (1227) ist.

Vor dem Hintergrund des verselbständigten und sich als unkontrollierbar präsentierenden Globalen stellt sich diesem das unmittelbar Lokale, das Private, gegenüber, das in dieser Konsequenz als scheinbar einziges Wirkungsfeld übrig bleibt (siehe Kapitel VIII., 3. 3. 3. 2. Perspektiven). So wird versucht, den Leuten „gut zuzureden“ (Petra 1050), die Dinge im eigenen „Umkreis irgendwie besser zu machen“ (Karin 1186), mit Freunden „über Dinge“ zu „reden“ (Niki 1315) und sie über bestimmte Sachverhalte aufzuklären. Einzig Carinas Aktionspotential erweitert sich auf einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang, indem sie sich parteipolitisch engagiert und damit versuchen will, „was zu tun“ (1327).

Unter all diesen Gesichtspunkten können wir festhalten, daß die Interviewten die Gesellschaft als Ansammlung einzelner Individuen erleben, die zwar in Beziehung zueinander stehen, nichtsdestotrotz aber vereinzelt sind. Dies stellt sich als konkretes Bild der theoretischen Ausführungen dar (vgl. besonders Kapitel III.), da in dieser Verfasstheit der Gesellschaft die kapitalistische Funktionslogik, welche die/den Einzelne/n (selbst)disziplinierend und (selbst)kontrollierend auf sich selbst zurückwirft, strahlend klar sichtbar wird. In einer derart gestalteten gesellschaftlichen Organisation tritt auch wieder das Element der sozialen Kontrolle (vgl. Kapitel II.) in den Vordergrund, da, durch die mittels Individualisierung stattfindende Vereinzelung, die Selbstorganisation der Individuen ausgehöhlt und somit deren widerständiger Handlungsspielraum eingeschränkt wird, zumindest aufs Private, wenn überhaupt, beschränkt bleibt. In diesem Sinne stehen die Interviewten an der öffentlichen wie der privaten „Front“ als EinzelkämpferInnen nebeneinander, was ein miteinander weitestgehend verhindert und die soziale Ordnung somit nicht nur nicht gefährdet, sondern auch kontinuierlich aufrechterhält.

 

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