Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 6 | Kapitel 7 | Kapitel 8 | Kapitel 9 | Resumé | Ausblick | Literatur


 

V. Vom gesellschaftlichen Standpunkt zum Subjektstandpunkt

Da wir nun am Ende des Theorieteils angelangt sind und uns am Übergang zum zweiten, dem empirischen Teil dieser Arbeit befinden, sollten wir die zentralen Aspekte der vorangegangenen Kapitel noch einmal kurz Revue passieren lassen.

Weil uns die Psychologie keine „brauchbaren“ Informationen zum Begriff des „Individuums“ lieferte, mußten wir gleich zu Beginn das psychologische Terrain verlassen und das Feld der Soziologie betreten. Mit den Analysen von Elias konnten wir die historischen Ursprünge der Konstituierung des „Individuums“ darstellen und darüber hinaus damit einhergehende Veränderungen der Sozialstrukturen sowie der Individualstrukturen, welche bis in die gegenwärtigen „westlichen“ Gesellschaften hineinreichen, aufzeigen. Mit der anschließenden Gegenüberstellung von Elias und Foucault wurde transparent, daß das „moderne“ Individuum in einen ideologischen Kontext, nämlich jenen der Transformation von Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Sinne der Formierung der „Disziplinargesellschaft“, eingebettet ist. In einem weiteren Analyseschritt wurde – aus feministischer Perspektive – der Konstituierung des Individuums eine neue Form patriarchaler Herrschaft zugrundegelegt, als damit die Dichotomisierung des privaten und öffentlichen Raumes, welche die geschlechtliche Aufgabenteilung bis heute kennzeichnet, begründet wurde.

Mit diesen Erkenntnissen warfen wir schließlich wieder einen Blick in die Psychologie und mußten wiederum feststellen, daß ihre (ideologischen) Grundkonzepte mit unserem Forschungsverständnis nicht vereinbar sind, als sie ihren Erkenntnisgegenstand, das „Individuum“, losgelöst von der Gesellschaft erforscht und damit Macht- und Herrschaftsverhältnisse negiert sowie legitimiert.

Vor diesem Hintergrund verabschiedeten wir uns endgültig von der etablierten Psychologie und bewegten uns im nächsten Schwerpunkt, mit der Einführung des Begriffs der „Individualisierung“ nach Beck, weiterhin auf soziologischem Terrain. Die Einführung und Verwendung des Individualisierungsbegriffes erschien für unsere Forschungsinteressen insoweit brauchbar, als damit ein Modus der Vergesellschaftung beschreibbar ist, anhand dessen ein Bild der gegenwärtigen Gesellschaft entworfen werden kann. Daß Individualisierung, verstanden als Freisetzung und Herauslösung aus traditionellen Milieus und Bindungen, kein „neues“ Phänomen, sondern ein kontinuierlicher Prozeß und in den Ursprüngen moderner Ordnungsbildung zu verorten ist, wurde mit einem erneuten Blick auf Elias und Foucault expliziert. Unsere Aufmerksamkeit genau darauf gerichtet, sollte in der Analyse gezeigt werden, wie durch den Vergesellschaftungsmodus der Individualisierung Beständigkeit und Kontinuität der bestehenden sozialen Ordnung im Sinne von Herrschaftsverhältnissen konstituiert und gleichzeitig verschleiert wird. Im Hinblick auf die voranschreitende Herauslösung aus traditionellen sozialen Strukturen und gleichzeitiger Kontinuität der sozialen Ordnung wurde dem Individualisierungsprozeß schließlich eine Widersprüchlichkeit zugrundegelegt, die uns noch weiter beschäftigen sollte. Daran anknüpfend interessierte uns vor allem der Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Kontrolle.

So schuf nach Beck die Bildung des Sozial- und Wohlfahrtsstaates einerseits die Voraussetzung für den „sekundären“ Individualisierungsschub, bildete aber gleichzeitig die Grundlage neuer Formen sozialer Kontrolle durch die damit einhergehende Institutionalisierung und Standardisierung von Individuallagen. Hier konnten wir wiederum, mit einem Blick auf Foucault, eine Verbindungslinie zur Disziplinargesellschaft herstellen und schließlich die gegenwärtige Gesellschaft in wesentlichen Grundzügen als eine „Kontrollgesellschaft“ charakterisieren.

Daß auch die – durch den Individualisierungsprozeß ermöglichte – „Pluralisierung der Lebensstile“ einer strukturellen Kontrollogik folgt, indem nur ein begrenztes Maß an Handlungsautonomie zugelassen und sie damit an einen fremdbestimmten Kontext gebunden ist, wurde ebenfalls diskutiert. Hier konnten wir auch die Verbindung bzw. Wechselwirkung der „äußeren“ und „inneren“ Kontrollstruktur verorten und an den Eliasschen Begriff der „Selbstzwang-Apparatur“ anknüpfen. Des weiteren untersuchten wir in diesem Zusammenhang das mit der „Pluralisierung der Lebensstile“ einhergehende Bedürfnis nach Individualität, das, wie wir feststellten, Konkurrenzverhältnisse impliziert, womit eine weitere Kontrollstruktur (re)produziert wird.

Schließlich legten wir unseren Fokus noch auf eine andere Form sozialer Kontrolle: den Zusammenhang von Individualisierung und sozialer Ungleichheit. Hier interessierte uns, wie durch Individualisierungsprozesse die Klassen- und Geschlechterverhältnisse konstituiert und (re)produziert werden und sich zunehmend verschärfen.

Den Ausgangspunkt des nächsten Schwerpunktes bildete die bisher unzureichende Bestimmung des Moderne-Begriffes. Erst mit dessen Erläuterung konnten wir mit einer genaueren Analyse des Individualisierungsprozesses im Hinblick auf die kapitalistische Ökonomie beginnen. Hier sollte einerseits veranschaulicht werden, welch zentrale Funktion diesem für das Bestehen der kapitalistischen Produktionsweise – und im besonderen ihrer aktuellen Ausformung, der neoliberalen Globalisierung – zukommt und andererseits, wie sie ganz konkret von individualisierten Subjekten „profitiert“. Das Bestehen dieses Systems, in dem allen formell die gleichen Chancen und Möglichkeiten zugestanden werden, beruht auf dem Prinzip der „freiwilligen“ Unterwerfungs- im Sinne der Leistungs-, und Ausbeutungsbereitschaft der einzelnen Individuen. Ja gerade in derart demokratisierten und anonymisierten Herrschaftsstrukturen stehen sich die herausgelösten Individuen als vereinzelte KonkurrentInnen gegenüber. Das durch die Konkurrenzverhältnisse vorangetriebene individuelle Streben nach Leistung und materiellem Erfolg konstituiert das Fortbestehen bzw. die (Re)Produktion der kapitalistischen Märkte – im besonderen des Arbeits- und Konsummarktes – und steht damit in direktem Interesse der kapitalistischen Verwertungslogik.

Des weiteren analysierten wir auch in diesem Zuammenhang die Individualisierung sozialer Ungleichheit, die sich gerade in Zeiten neoliberaler Wirtschaftsprogramme, in denen Sozialabbau, Massenarbeitslosigkeit, voranschreitende gesellschaftliche Spaltungsprozesse usw. auf der Tagesordnung stehen, als wichtiger Stabilitätsfaktor für diese aktuellen Entwicklungen erweisen sollte. Schließlich explizierten wir die Rolle der Individualisierung noch auf den gegenwärtigen Arbeits- und Konsummärkten.

Den letzten Fokus der theoretischen Überlegungen bildete eine Analyse der gegenwärtigen Lebenssituation Jugendlicher vor dem Hintergrund der sich immer ausdifferenzierenderen Anforderungen jugendlicher Lebenswelten: in Schule, Ausbildung und Beruf bzw. auf den Konsummärkten. Mit der konkreten Bezugnahme auf gegenwärtige Strömungen und Trends sollte gezeigt werden, daß die Jugendphase in Zeiten von steigendem Leistungs- und Konkurrenzdruck, geringeren „Erfolgsaussichten“, unsicheren sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen, steigenden Ansprüchen nach Individualität und Selbstdarstellung, im Kampf um soziale Anerkennung, nicht als „Schonzeit“, sondern vielmehr als Leistung schlechthin bezeichnet werden sollte. Auch andere Bezeichnungen, die von Seiten sozialwissenschaftlicher ExpertInnen zur Typisierung ganzer Jugendgenerationen verwendet werden, werden der Situation von Jugendlichen keinesfalls gerecht und verfolgen oftmals das Ziel, Jugendliche als egoistische, wilde, unbezähmbare, konsumistische, hedonistische usw. „Meute“ hinzustellen. Daß diese „Meute“ beispielsweise in direktem Interesse der profitorientierten Konsum- und Kulturindustrie steht, wie es hier dargestellt wurde und mit ihr ein außerordentlich lukratives Geschäft gemacht wird, scheint im öffentlichen Diskurs allerdings keinen Anstoß zu finden.

Die hinter uns liegende theoretische Analyse folgt nicht dem traditionell psychologischen Forschungsverständnis, wie es von der etablierten akademischen Psychologie gelehrt und nahegelegt wird. Wie bereits angedeutet eignet sich diese Wissenschaftsdisziplin, die das „Individuum“ losgelöst von gesellschaftlichen Bedingtheiten und Strukturen betrachtet und erforscht, nicht zur Erforschung subjektiver Bedingtheiten und Verhaltensweisen.

Kritische Subjektwissenschaft setzt im Gegensatz dazu eine Analyse des gesellschaftlichen Status quo, der gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihren Praxen und Tätigkeitsfeldern voraus, da diese die Grundlage subjektiver Praxen und Tätigkeitsfelder bilden. Vor diesem Hintergrund wurden hier die beiden Ebenen – die gesellschaftliche und die subjektive – ganz gezielt analytisch getrennt, wobei sich die Analyse bisher hauptsächlich auf die gesellschaftliche Ebene beschränkte.

Anhand der Darstellung der gegenwärtigen Vergesellschaftungsbedingungen wissen wir nun, mit welchen strukturellen Anforderungen, Normen und Zwängen die Subjekte konfrontiert werden, womit sozusagen die Basis für die anschließende empirische Erhebung, d.h. die Erforschung der subjektiven Ebene, der subjektiven Handlungsmöglichkeiten und Orientierungen geschaffen wurde. Gleichzeitig muß aber darauf hingewiesen werden, daß diese Bedingungen und die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse das Resultat jeweils subjektiver Praxen bilden und deshalb fortbestehen, weil die Subjekte genau diese Verhältnisse ständig neu (re)produzieren und sich mit ihnen arrangieren. „[…], so war es eben das persönliche, individuelle Verhalten der Individuen, ihr Verhalten als Individuen zueinander, das die bestehenden Verhältnisse schuf und täglich neu schafft.“ (Marx 1969, S. 423 [zit.n. Schmieder 2000, S. 114]) Das Subjekt ist damit produktiv tätig, indem es die gesellschaftliche Wirklichkeit aktiv (re)produziert. Daraus folgt, daß „wir“ als Subjekte einerseits objektiv durch die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt und andererseits in der Lage sind, diese Verhältnisse auch aktiv zu verändern (vgl. Weber 2000, S. 154). Vor diesem Hintergrund stellt Weiss (1975) jedoch die Frage: „Wie aber soll die Befreiung von uns ausgehen, wie sollen die Umwälzungen vollzogen werden, wenn wir immer nur gelernt haben, uns zu fügen, uns unterzuordnen und auf Anweisungen zu warten.“ (ebd., S. 226, zit.n. Weber 2000, S. 141)

Inwieweit die uns interessierenden Forschungssubjekte, die Jugendlichen, die sozialen Strukturen und Anforderungen reproduzieren bzw. sich arrangieren oder versuchen, sich davon zu emanzipieren, bildet demnach auch einen Schwerpunkt in der folgenden empirischen Untersuchung.

weiter zu kapitel 6


Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 6 | Kapitel 7 | Kapitel 8 | Kapitel 9 | Resumé | Ausblick | Literatur